OGH 2Ob47/16z

OGH2Ob47/16z25.5.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé und den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei B***** M*****, vertreten durch Achammer & Mennel Rechtsanwälte OG in Feldkirch, gegen die beklagten Parteien 1. C***** W*****, 2. W***** W*****, 3. G***** A*****, alle vertreten durch Dr. Rolf Philipp und Dr. Frank Philipp, Rechtsanwälte in Feldkirch, wegen (ausgedehnt) 92.096,79 EUR sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse 90.420,10 EUR), gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 3. Dezember 2015, GZ 1 R 126/15m‑33, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 9. Juni 2015, GZ 56 Cg 92/14f‑28, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0020OB00047.16Z.0525.000

 

Spruch:

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben, und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung der beklagten Parteien an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

 

Begründung:

Die Beklagten sind die Kinder der am 19. September 2012 gestorbenen E***** M***** (idF: Erblasserin). Die Verlassenschaft wurde ihnen aufgrund eines Testaments zu je einem Drittel eingeantwortet. E***** M***** war im Zeitpunkt ihres Todes mit A***** M***** verheiratet. Dieser ist am 23. Juni 2013 ebenfalls gestorben. Die Verlassenschaft wurde der Klägerin eingeantwortet. Sie ist die Tochter von A***** M***** und die Stieftochter von E***** M*****.

Die Klägerin begehrt von den Beklagten 92.096,79 EUR sA. Dabei handle es sich um den im Erbweg auf sie übergegangenen Pflichtteilsanspruch ihres Vaters gegen die Erben von E***** M*****. Die Höhe ergebe sich aus dem Wert des Nachlasses und aus Schenkungen der Erblasserin.

Die Beklagten wenden ein, dass die Klägerin und ihr Vater widerrechtliche Behebungen von Sparguthaben der Erblasserin vorgenommen hätten. Insbesondere hätten sie in der Schweiz insgesamt 50.000 CHF ohne Zustimmung und Wissen der Erblasserin behoben und ihr nicht ausgefolgt. Dadurch würden sowohl bei A***** M***** als auch bei der Klägerin Erbunwürdigkeitsgründe vorliegen. Gegenforderun-gen aufgrund widerrechtlicher Abhebungen würden auch aufrechnungsweise eingewendet.

Die Klägerin replizierte, dass alle Behebungen im Einverständnis mit der Erblasserin vorgenommen worden seien; die von den Beklagten genannten 50.000 CHF habe ihr Vater der Erblasserin ausgefolgt.

Das Erstgericht sprach aus, dass die Klageforderung mit 90.420,10 EUR zu Recht und die Gegenforderung nicht zu Recht bestehe, und gab dem Zahlungsbegehren daher mit 90.420,10 EUR sA statt. Eine spruchmäßige Abweisung des Mehrbegehrens unterblieb. Es stellte, soweit für das Revisionsverfahren relevant, fest, dass A***** M***** aufgrund einer Kontovollmacht von einem allein auf die Erblasserin lautenden Konto gemeinsam mit der Klägerin zwischen dem 4. und 7. September 2012 insgesamt 50.000 CHF abgehoben habe. Am 14. September 2012 sei ein weiterer Behebungsversuch gescheitert, weil die Erblasserin ihm die Kontovollmacht entzogen habe. Die 50.000 CHF habe A***** M***** am 15. September 2012 der Erblasserin übergeben. Auch sonst habe er ihr keine Vermögenswerte entzogen; zwei Sparbücher habe sie ihm geschenkt. Auf dieser Grundlage liege die von den Beklagten eingewendete Erbunwürdigkeit nicht vor. A***** M***** habe daher einen Pflichtteilsanspruch gehabt, den die Klägerin als seine Erbin geltend machen könne. Die Höhe ergebe sich aus dem Nachlasswert und der Hinzurechnung verschiedener Schenkungen.

Gegen diese Entscheidung richtete sich eine Berufung der Beklagten, in der sie unter anderem mehrere Feststellungen des Erstgerichts bekämpften.

Das Berufungsgericht teilte den Parteien mit, dass es Bedenken gegen die Feststellungen habe, dass (a) A***** M***** den von ihm gemeinsam mit der Klägerin vom Konto der Erblasserin behobenen Betrag von insgesamt 50.000 CHF an die Erblasserin übergeben habe und (b) die Erblasserin A***** M***** zwei Sparbücher geschenkt habe. Daher sei insofern eine Beweiswiederholung beabsichtigt. Eingangs der Berufungsverhandlung fasste das Berufungsgericht einen entsprechenden Beschluss, vernahm die Parteien und verlas mit deren Einverständnis die Aussagen der Zeugen. Danach verkündete die Vorsitzende „nach Umfrage“ den Beschluss „auf Beweisergänzung zur Frage, ob die Behebungen von CHF 50.000,-- durch A***** M***** […] mit Wissen und Willen der E***** M***** erfolgten, durch Parteienvernehmung“. Unmittelbar darauf ‑ also ohne (weitere) Einvernahme der Parteien ‑ zog sich der Senat zur Beratung zurück, und die Vorsitzende verkündete danach den Beschluss, dass im Berufungsverfahren keine weiteren Beweise aufgenommen würden.

Mit dem nun angefochtenen Urteil wies das Berufungsgericht das Klagebegehren ab und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Aufgrund der „durchgeführten Beweiswiederholung und Beweisergänzung“ stellte es, teilweise abweichend und teilweise ergänzend zum Ersturteil, fest, dass A***** M***** von einem Konto der Erblasserin aufgrund einer Kontovollmacht, aber ohne deren Wissen und Willen 50.000 CHF abgehoben und ihr nicht ausgefolgt habe, wobei er gewusst habe, dass

- er Behebungen nur im Auftrag der Erblasserin durchführen durfte,

- er seine Vollmacht missbrauchte, weil kein solcher Auftrag vorlag, und

- er der Erblasserin dadurch einen Vermögensnachteil von 50.000 CHF zufügte. Dies habe er billigend in Kauf genommen.

In der Beweiswürdigung führte das Berufungsgericht ua aus, dass die Klägerin zunächst am 20. Oktober 2014 vor dem Erstgericht ausgesagt habe, sie wisse nicht, was ihr Vater mit den behobenen 30.000 EUR gemacht habe. Erst in der weiteren Tagsatzung vom 2. Dezember 2014 habe sie ihre Version geändert und die Übergabe des Bargelds geschildert. „Allein dies“ lasse Zweifel an der Richtigkeit dieser Schilderung aufkommen. Rechtlich folgerte das Berufungsgericht, dass auf Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen der Tatbestand der Untreue nach § 153 StGB erfüllt gewesen sei, wobei die Strafdrohung bei einem 3.000 EUR übersteigenden Schaden im Tatzeitpunkt drei Jahre betragen habe. Damit sei Erbunwürdigkeit nach § 540 ABGB eingetreten, die auch dem Pflichtteilsanspruch entgegenstehe. Auf Verzeihung habe sich die Klägerin nicht berufen, sie sei auch nicht hervorgekommen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin. Sie beantragt die Wiederherstellung des stattgebenden Ersturteils, hilfsweise stellt sie Anträge auf Aufhebung in die erste oder zweite Instanz.

Im Unterbleiben der (beschlossenen) Beweisergänzung liege ein Mangel des Berufungsverfahrens. Bei Erörterung des Umstands, dass das Berufungsgericht Erbunwürdigkeit annehmen könnte, hätte die Klägerin ein Vorbringen zur Verzeihung erstattet. Sie habe schon in der Tagsatzung vom 20. Oktober 2014 ausgesagt, ihr Vater habe den behobenen Betrag der Erblasserin übergeben; die gegenteiligen Ausführungen in der Beweiswürdigung seien aktenwidrig. § 541 ABGB müsse dahin ausgelegt werden, dass der erbunwürdige Vater durch seine Tochter auch dann repräsentiert werde, wenn sie selbst ‑ wie hier ‑ nicht gesetzliche Erbin der Erblasserin (ihrer Stiefmutter) sei. Eine mögliche Erbunwürdigkeit schlage daher nicht auf die Klägerin durch. Es fehlten Feststellungen zu einer allfälligen Verzeihung.

Die Beklagten beantragen in der ihnen freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben. Die behaupteten Verfahrensmängel und die Aktenwidrigkeit lägen nicht vor. § 541 ABGB erfasse nur jene Nachkommen des erbunwürdigen Erben, die selbst gesetzliche Erben des Erblassers hätten werden können, was bei der Klägerin als Stieftochter der Erblasserin nicht zutreffe. Ein Vorbringen zur Verzeihung habe die Klägerin nie erstattet, sodass insofern keine Feststellungsmängel vorliegen könnten.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig, weil ein Mangel des Berufungsverfahrens vorliegt und das angefochtene Urteil zudem an einer Aktenwidrigkeit leidet. Sie ist aus diesen Gründen im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.

1. Das Berufungsgericht darf ergänzende Feststellungen nur nach Beweiswiederholung oder Beweisergänzung treffen (RIS-Justiz RS0043026). Im vorliegenden Fall nahm das Berufungsgericht eine Beweiswiederholung zu zwei bekämpften Feststellungen vor. Danach beschloss es eine Beweisergänzung zu weiteren Fragen. Dem Protokoll der Berufungsverhandlung ist nicht zu entnehmen, dass das Berufungsgericht diese Beweisergänzung durchgeführt hätte; dennoch traf es insofern ergänzende Feststellungen. Damit leidet das Berufungsverfahren unter einem Mangel iSv § 503 Z 2 ZPO. Dieser Mangel war wegen der fehlenden unmittelbaren Beweisaufnahme und der dadurch beschränkten Fragemöglichkeit der Parteien ‑ offenkundig (5 Ob 106/09p; 9 Ob 6/02a) ‑ abstrakt geeignet, eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Streitsache zu hindern (RIS-Justiz RS0043049).

2. Auch die gerügte Aktenwidrigkeit (§ 503 Z 3 ZPO) liegt vor.

2.1. Aktenwidrigkeit ist gegeben, wenn Feststellungen auf aktenwidriger Grundlage getroffen werden, wenn also der Inhalt einer Urkunde, eines Protokolls oder eines sonstigen Aktenstückes unrichtig wiedergegeben und infolgedessen ein fehlerhaftes Sachverhaltsbild der rechtlichen Beurteilung unterzogen wurde (RIS-Justiz RS0043347). Auch eine Beweiswürdigung auf der Grundlage aktenwidriger Tatsachenannahmen verwirklicht eine Aktenwidrigkeit (3 Ob 241/05w).

2.2. Letzteres trifft hier zu: Das Berufungsgericht nahm in der Beweiswürdigung an, dass die Klägerin in der Verhandlung vom 20. Dezember 2014 (nur) angegeben habe, nicht zu wissen, was ihr Vater mit dem behobenen Bargeld gemacht habe; erst in der nächsten Verhandlung vom 2. Dezember 2014 habe sie ihre Version geändert und eine Übergabe an die Erblasserin behauptet. Demgegenüber ergibt sich aus dem Protokoll der Verhandlung vom 20. Oktober 2014, dass die Klägerin schon dort die Übergabe des Bargelds geschildert hat (AS 47). In der fortgesetzten Verhandlung hat sie zwar den Widerspruch zwischen ihren Angaben aufgeklärt, nicht aber, wie vom Berufungsgericht angenommen, erstmals eine Übergabe des Geldes behauptet (AS 60 f). Damit beruht die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts in einem nicht von vornherein unerheblichen Punkt auf einer aktenwidrigen Wiedergabe von Aussagen.

3. Sowohl der Verfahrensmangel als auch die Aktenwidrigkeit betreffen Feststellungen, die für die Entscheidung wesentlich sind: Die Klägerin macht einen auf sie übergegangenen Anspruch ihres Vaters geltend, der im Fall seiner Erbunwürdigkeit nicht bestünde. Auf ein davon unabhängiges eigenes Recht kann sie sich nicht stützen, weil § 541 ABGB kein Eintrittsrecht von Personen begründet, die ‑ wie die Klägerin als Stieftochter der Erblasserin ‑ nicht selbst als gesetzliche Erben in Betracht gekommen wären (RIS‑Justiz RS0012269, Welser in Rummel 4 § 541 Rz 2; Apathy in KBB 4 § 541 Rz 1). Gründe für ein Abgehen von dieser Rechtsprechung zeigt die Revision nicht auf.

4. Der Verfahrensmangel und die Aktenwidrigkeit führen zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.

Im fortgesetzten Verfahren wird das Berufungsgericht zunächst zu prüfen haben, ob auch ohne die aktenwidrige Annahme zum Aussageverhalten der Klägerin als erwiesen anzunehmen ist, dass der Vater der Klägerin den behobenen Geldbetrag nicht der Erblasserin übergeben habe. Bleibt es bei dieser Feststellung, wird die beschlossene Beweisergänzung zu den weiteren, vom Berufungsgericht zutreffend als erheblich angesehenen Fragen durchzuführen sein. Dabei können die Parteien zwar zum Gegenstand der Verfahrensergänzung neue Behauptungen und Beweismittel vorbringen (RIS‑Justiz RS0042354), sie können aber keine neuen Ansprüche oder Einreden erheben (8 Ob 578/93; 9 ObA 111/97g). Der Klägerin wäre es daher verwehrt, im fortgesetzten Berufungsverfahren den in erster Instanz unterbliebenen Gegeneinwand der Verzeihung zu erheben. Übernimmt das Berufungsgericht hingegen die Feststellung des Erstgerichts, dass der Vater der Klägerin den behobenen Betrag der Erblasserin übergeben habe, wird es sich mit den weiteren Punkten der Berufung zu befassen haben.

5. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 Satz 2 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte