OGH 3Ob37/16m

OGH3Ob37/16m27.4.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hoch als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin Dr. Lovrek, die Hofräte Dr. Jensik und Dr. Roch und die Hofrätin Dr. Kodek als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen P*****, geboren am ***** 2003, *****, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter H*****, vertreten durch vana‑kowarzik & schmotzer, Rechtsanwältinnen in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 11. August 2015, GZ 48 R 201/15m‑71, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 21. Mai 2015, GZ 2 Ps 3/15p‑60, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0030OB00037.16M.0427.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen, die im Umfang der Entscheidung über das Kontaktrecht als unbekämpft unberührt bleiben, werden im Umfang der Obsorgeentscheidung aufgehoben.

Dem Erstgericht wird in diesem Umfang die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

 

Begründung:

Der mittlerweile 12‑jährige außerehelich geborene Sohn von H***** und G***** lebt im Haushalt der allein obsorgeberechtigten Mutter.

Das Erstgericht fasste ‑ über Antrag des Vaters ‑ den Beschluss, dass die Obsorge für den Minderjährigen beiden Eltern ‑ mit Hauptaufenthalt bei der Mutter ‑ zukommt. Die gleichzeitig beschlossene Kontaktregelung ist nicht Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens.

Es wurden folgende Feststellungen getroffen:

Die Eltern leben seit zumindest zwei Jahren getrennt. Der Minderjährige wohnt im Haushalt der Mutter. Es finden regelmäßig über weite Strecken auch konfliktfreie Kontakte zum Vater statt.

Der Minderjährige fühlt sich beim Vater wohl und verbringt gern Zeit mit ihm. Er erledigt mit ihm gemeinsam Hausarbeiten, lernt auch für die Schule, insbesondere Mathematik. Wenn er Probleme hat, wendet er sich auch an den Vater. Der Vater wohnt in einer 50 m² Wohnung mit Terrasse. Derzeit schläft er mit seinem Sohn bei den Kontakten gemeinsam in einem Ehebett. Für den Minderjährigen ist das so in Ordnung. Sobald er 12 Jahre ist, möchte der Vater, dass sein Sohn in einem eigenen Bett schläft.

Der Vater hat kein Alkoholproblem.

Treffen die Eltern aufeinander, so bedeutet das für den Minderjährigen großen Stress. Er hat Angst, dass es zu Streit kommt, in der Öffentlichkeit ist es ihm peinlich. Er möchte, dass die Eltern die Kontakte vereinbaren, möchte aber nicht mit hineingezogen werden.

Gespräche zwischen den Eltern eskalieren schnell, sobald über irgendetwas Uneinigkeit besteht. So kam es im Rahmen des Unterhaltsverfahrens zu Beleidigungen und Beschimpfungen des Vaters gegenüber der Mutter. Auf Empfehlung ihrer Rechtsvertretung hat die Mutter Kontakte deshalb ausgesetzt. Trotzdem ist der Vater in der Schule erschienen, um den Minderjährigen abzuholen, was zu einer Eskalation am Schulhof führte. Persönliche Gespräche eskalieren immer. Die Mutter kommuniziert daher nur noch per SMS mit dem Vater. Wenn der Vater meint, die Mutter würde ihm seinen Sohn vorenthalten, beschimpft und beleidigt er sie mit Worten wie zB „Du bist kein Mensch“, „Swingerhure“, „Du Dreckshure“, „Du Lügnerin“.

 

Das Erstgericht vertrat die Auffassung, dass zwar die Kommunikation der Eltern verbesserungswürdig sei, dass aber die Herabwürdigungen und Beschimpfungen des Vaters als Ausdruck seiner Kränkung zu sehen seien, weil sein Wunsch, mit der Mutter eine feste, monogame Beziehung zu führen, nicht erfüllt worden sei. Auch wenn die Eltern immer wieder die Sinnhaftigkeit einer Mediation in Zweifel zögen, sei das Gericht doch überzeugt, dass eine solche nach rechtskräftiger Beendigung des Verfahrens sinnvoll sei.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter nur teilweise ‑ einen Punkt des nicht mehr verfahrensgegenständlichen Kontaktrechts betreffend ‑ Folge und bestätigte im Übrigen den erstgerichtlichen Beschluss. Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.

Zusammengefasst ging das Rekursgericht davon aus, dass im Gegensatz zur Rechtslage vor dem KindNamRÄG 2013 die Obsorge beider Elternteile eher die Regel sein solle. Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge durch beide Elternteile setze ein gewisses Mindestmaß an Kooperations‑ und Kommunikationsfähigkeit der Eltern voraus. Hier habe der Vater die Mutter zwar wiederholt beschimpft; dennoch sei ein gewisses Maß an Kooperations- und auch Kommunikationsfähigkeit des Vaters gegeben. Beiden Eltern müsse bewusst sein, dass eine Mediation eine Hilfestellung zur Konfliktbewältigung bieten solle. Es sei daher nicht verständlich, dass sich beide Elternteile gegen eine Mediation aussprächen. Die Mutter könne nicht aufzeigen, weshalb die Aufrechterhaltung der Alleinobsorge dem Kindeswohl besser entspreche.

Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist zulässig, weil die Beschlüsse der Vorinstanzen an wesentlichen Feststellungsmängeln leiden.

Der Vater beteiligte sich am Revisionsrekursverfahren nicht.

Der Revisionsrekurs ist im Sinn des Eventualantrags auf Aufhebung berechtigt.

Als erhebliche Rechtsfrage macht die Mutter geltend, es entspreche bei der hier fehlenden bzw nicht wertschätzenden Kommunikationsbasis der Eltern nicht dem Wohl des Kindes, dass die Obsorge beiden Kindeseltern zukomme.

Rechtliche Beurteilung

Dazu wurde erwogen:

1. Zu dem im Revisionsrekurs thematisierten Ausspruch des Erstgerichts, den Eltern sei nach Rechtskraft des Verfahrens ein Erstgespräch einer Mediation aufzutragen, ist festzuhalten, dass zwar das Erstgericht tatsächlich in seiner Beschlussausfertigung (S 5) „den Eltern ein Erstgespräch einer Mediation nach Rechtskraft des Verfahrens aufträgt“, dass aber ‑ wie die Mutter in ihrem Rekurs gegen die erstinstanzliche Entscheidung an sich zutreffend bemerkte ‑, ein solcher Auftrag nicht in den Spruch aufgenommen wurde und daher trotz der missverständlichen Formulierung nicht als anfechtbarer Beschluss zu werten ist.

2. Die durch das KindNamRÄG 2013 (BGBl I 2013/15) herbeigeführten Änderungen im Recht der Obsorge (insbesondere über die Anordnung der Obsorge beider Eltern gegen den Willen eines Elternteils oder den Antrag auf Übertragung der Alleinobsorge ohne Kindeswohlgefährdung) werden als maßgebliche Umstandsänderung für eine Neuregelung angesehen (RIS‑Justiz RS0128809; zuletzt 1 Ob 46/15v).

3. Im Gegensatz zur Rechtslage vor dem KindNamRÄG 2013 soll zwar nunmehr die Obsorge beider Elternteile (eher) die Regel sein (RIS‑Justiz RS0128811). Die beiderseitige Obsorge setzt allerdings auch eine Beteiligung beider Eltern an der Betreuung des Kindes voraus. Es ist daher entscheidend, ob beide Elternteile bereit und in der Lage sind, an der Erfüllung der mit der Obsorge verbundenen Aufgaben mitzuwirken (8 Ob 40/15p = RIS‑Justiz RS0130248).

Erziehungs‑ und Betreuungsmaßnahmen müssen somit gemeinsam besprochen werden, wobei die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes möglichst übereinstimmend zu beurteilen sind; die darauf beziehenden Entscheidungen der Elternteile dürfen sich also nicht regelmäßig widersprechen. Eine Kommunikation der Eltern per SMS und E‑Mail genügt dafür nicht (2 Ob 240/14d =

RIS‑Justiz RS0128812 [T7]; vgl auch 8 Ob 40/15p).

Aus diesen Gründen ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Eltern ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit sowie eine entsprechende Bereitschaft beider Elternteile voraussetzt. Um Entscheidungen möglichst übereinstimmend im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und Entschlüsse zu fassen (RIS‑Justiz RS0128812).

4. Für die nach diesen Grundsätzen vorzunehmende Beurteilung, ob bereits derzeit eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist, oder ob in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet oder eine solche hergestellt werden kann (RIS‑Justiz RS0128812 [T2]; 8 Ob 40/15p mwN), fehlt es an einer ausreichenden Tatsachengrundlage.

Die bisher getroffenen Feststellungen des Erstgerichts legen, worauf die Mutter in ihrem Revisionsrekurs zutreffend verweist, eher das Gegenteil nahe: Die Eltern haben danach keine Kommunikationsbasis. Sie verkehren nur per SMS, bei persönlichen Begegnungen kommt es zu Eskalationen, der Vater beleidigt die Mutter verbal. Weder die erstgerichtliche Annahme, dass die Beschimpfungen Ausdruck einer Kränkung des Vaters seien, noch die Beurteilung des Rekursgerichts, „ein gewisses Maß an Kooperations‑ und Kommunikationsfähigkeit“ des Vaters sei vorhanden, ist aus den äußerst knappen Feststellungen des Erstgerichts abzuleiten. Das Erstgericht verließ sich vielmehr erkennbar ausschließlich auf die (die Obsorge beider Elternteile vorsichtig befürwortende) Stellungnahme der Familiengerichtshilfe, unterließ es aber, nach Durchführung eines eigenständigen Beweisverfahrens einschließlich einer persönlichen Anhörung des 12‑jährigen Minderjährigen (§ 105 Abs 1 AußStrG) selbst konkrete Feststellungen über die Ursache der „Eskalationen“ zu treffen. Insbesondere bedarf es der Feststellung, ob die Eltern in Fragen der Erziehung und Betreuung grundsätzlich in der Lage sind, gemeinsam Entscheidungen zu treffen oder ob wesentliche Auffassungsunterschiede bestehen. Erforderlich sind ferner ‑ falls derzeit eine ausreichende Gesprächsbasis nicht feststellbar ist ‑ Feststellungen, die beurteilen lassen, ob zumindest in absehbarer Zukunft die Herstellung einer entsprechenden Gesprächsbasis zwischen den Eltern zu erwarten ist.

5. Eine Aufhebung der Beschlüsse der Vorinstanzen im angefochtenen Umfang ist daher unumgänglich. Ob vor der endgültigen Obsorgeentscheidung auf das nunmehr vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellte Mittel des § 107 Abs 3 Z 2 AußStrG zurückzugreifen ist, um die erforderliche Gesprächsbasis herzustellen, bzw ob es dem Wohl des Minderjährigen entspricht, von Amts wegen (6 Ob 41/13t mwN) eine vorläufige Regelung iSd § 180 Abs 1 Z 1 ABGB zu beschließen, bleibt der nach Verfahrensergänzung zu treffenden Entscheidung des Erstgerichts vorbehalten.

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