OGH 8Ob40/15p

OGH8Ob40/15p27.5.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr.

 Spenling als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Tarmann‑Prentner, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Brenn und die Hofrätin Dr. Weixelbraun‑Mohr als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj S***** Z*****, geboren am *****, und der mj A***** Z*****, geboren am *****, wohnhaft bei ihrer Mutter H***** S*****, vertreten durch Mag. Martin Wakolbinger, Rechtsanwalt in Enns, über den Revisionsrekurs der Mutter gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 11. Februar 2015, GZ 23 R 33/15y‑107, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Amstetten, Nebenstelle Haag, vom 12. Dezember 2014, GZ 507 Ps 39/14d‑103, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0080OB00040.15P.0527.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs der Mutter wird Folge gegeben.

Hinsichtlich des Kindes S***** Z*****, geboren am *****, wird die Entscheidung des Rekursgerichts dahin abgeändert, dass sie lautet:

„Mit der Obsorge für den mj S***** Z*****, geboren am *****, wird die Mutter H***** S***** allein betraut.“

Hinsichtlich des Kindes A***** Z*****, geboren am *****, werden die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben; insoweit wird die Pflegschaftssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

Der mj S***** und die mj A***** sind die ehelichen Kinder der H***** S***** und des J***** Z*****. Mit Urteil des Bezirksgerichts Haag vom 9. 3. 2012, 1 C 5/12b, wurde die Ehe der Eltern rechtskräftig geschieden. In der Folge beantragten beide Eltern, ihnen jeweils die alleinige Obsorge für beide Kinder zu übertragen. Im Laufe des Verfahrens trafen die Eltern eine Kontaktrechtsregelung zugunsten des Vaters. Zur Frage der Obsorge wurde keine Einigung erzielt. Der Vater erklärte sich zuletzt mit einem Verbleib der Kinder bei der Mutter einverstanden, begehrte aber, an der Obsorge weiterhin beteiligt sein zu wollen. Die Mutter hielt an ihrem Antrag auf Übertragung der alleinigen Obsorge fest. Mit Beschluss vom 14. 2. 2013 wurde Mag. L***** W***** zur Kinderbeiständin für beide Kinder bestellt.

Ab Juni 2014 kam es zu wöchentlichen Besuchen von A***** beim Vater in Anwesenheit der väterlichen Großmutter. Zwischen S***** und seinem Vater finden seit Mitte des Jahres 2012 hingegen keine Besuchskontakte statt. Seit Anfang März 2014 ist im vorher konfliktgeladenen Verhältnis zwischen den Eltern eine gewisse Beruhigung eingetreten.

Das Erstgericht sprach aus, dass die Obsorge für beide Kinder weiterhin beiden Elternteilen gemeinsam zukomme und die Kinder hauptsächlich im Haushalt der Mutter betreut werden. Nach der Zielsetzung des KindNamRÄG 2013 solle die Obsorge beider Elternteile nunmehr die Regel sein. Die Entscheidung sei daher danach zu treffen, ob Ausschlussgründe im Hinblick auf die Obsorge beider Eltern bestünden. Dazu gehörten die fehlende Erziehungsfähigkeit eines Elternteils, eine Kindeswohlgefährdung durch Misshandlung, weiters Missbrauch oder Vernachlässigung oder das Vorliegen hoch konflikthafter Beziehungsmuster der Eltern. Im Anlassfall liege kein zwingender Grund vor, vom Regelfall der gemeinsamen Obsorge abzugehen. Durch die Beteiligung des Vaters an der Obsorge könne auch vermieden werden, dass sich dieser von S***** völlig zurückziehe.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. In Studien werde darauf verwiesen, dass die Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge tendenziell konfliktmindernde Wirkung habe. Selbst bei Familien mit dem höchsten Konfliktniveau zeige sich, dass die gemeinsame Obsorge weder besser noch schlechter geeignet sei, die elterlichen Konflikte zu entschärfen. Da es im Verhältnis zwischen den Eltern des Anlassfalls in letzter Zeit zu einer Entspannung und Beruhigung gekommen sei, bestehe ein mittleres bis hohes, nicht aber das höchste Konfliktpotential. Gerade für diese Gruppe gelte nach den erwähnten Studien, dass der gemeinsamen Obsorge die bessere Prognose für eine Reduzierung des Konfliktniveaus zukomme. Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil die Entscheidung des Rekursgerichts von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abweiche. Das Rekursgericht gehe aber davon aus, dass das Höchstgericht bereit sei, vom Postulat des Bestehens einer Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit zwischen den Eltern abzugehen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter, der darauf abzielt, die Obsorge für beide Kinder ihr allein zu übertragen.

Der Vater hat keine Revisionsrekursbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht von den in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs entwickelten Grundsätzen abgewichen ist. Der Revisionsrekurs der Mutter ist dementsprechend auch berechtigt.

1.  Nach Ansicht des Erstgerichts kommt es nicht auf die Kommunikationsbasis zwischen den Eltern, sondern auf Ausschlussgründe für die Obsorge beider Eltern an. Das Rekursgericht teilt diesen Ansatz und meint, dass die Eltern nach dem Konfliktniveau in Kategorien einzuteilen seien und sich danach die Beurteilung der beiderseitigen Obsorge richte. Dabei geht es davon aus, dass selbst im hohen Konfliktbereich der Obsorge beider Eltern der Vorzug zu geben sei.

Der Ansatz der Vorinstanzen hätte zur Folge, dass die Alleinobsorge nur mehr angeordnet werden könnte, wenn die Obsorge beider Eltern zu einer Gefährdung des Kindeswohls führen würde. Dies entspricht aber gerade nicht dem gesetzlichen Konzept nach dem KindNamRÄG 2013. Vielmehr kommt es darauf an, welche Form der Obsorge dem Kindeswohl besser entspricht.

Bei den vom Rekursgericht angestellten Überlegungen zu Studien, die Eltern nach dem Konfliktniveau in Kategorien einteilen, handelt es sich um erziehungswissenschaftliche Schlussfolgerungen, die versuchen, aus Durchschnittsbetrachtungen generell abstrakte Aussagen und Erklärungen zum Elternverhalten zu treffen. Solche Schlussfolgerungen können die Basis für grundlegende Wertungen des Gesetzgebers und allenfalls auch Empfehlungen für die Vorgangsweise in einem „Regelfall“ darstellen. Sie machen die Einzelfallbeurteilung zum jeweils konkreten Anlassfall allerdings nicht entbehrlich.

Bei der beiderseitigen Obsorge handelt es sich nicht nur um ein rechtstheoretisches Modell. Vielmehr muss die Obsorge beider Eltern aktiv gelebt werden. Die Eltern müssen daher ausgehend von den konkreten Gegebenheiten in der Lage sein, den Anforderungen an die beiderseitige Obsorge gerecht zu werden. Nur wenn dies der Fall ist, kann die Obsorge beider Eltern nicht nur zu einer Senkung des Konfliktniveaus zwischen den Eltern führen, sondern auch dem Kindeswohl entsprechen.

2.  Der Oberste Gerichtshof hat sich mit dem neuen Obsorgemodell nach dem KindNamRÄG 2013 und den Voraussetzungen für eine beiderseitige Obsorge bereits eingehend befasst. Die von den Vorinstanzen angestellten Überlegungen sind nicht geeignet, ein Abgehen von den vom Obersten Gerichtshof entwickelten Grundsätzen zu bewirken.

3.1  Gemäß § 179 Abs 1 ABGB bleibt bei Auflösung der häuslichen Gemeinschaft der Eltern eines minderjährigen Kindes (nunmehr) die Obsorge beider Eltern aufrecht. Die Eltern haben aber nach § 179 Abs 2 ABGB vor Gericht eine Vereinbarung darüber zu schließen, in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut wird. Kommt es binnen angemessener Frist zu keiner derartigen Vereinbarung, so hat das Gericht nach § 180 Abs 1 Satz 1 Z 1 ABGB von Amts wegen und auch ohne Kindeswohlgefährdung über eine allfällige Änderung der Obsorge zu entscheiden oder bei aufrecht bleibender Betrauung beider Elternteile mit der Obsorge jenen Elternteil zu bestimmen, in dessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut werden soll. Dies gilt im Hinblick auf § 180 Abs 1 Satz 1 Z 2 ABGB auch für jene Fälle, in denen ein Elternteil gegen den Willen des anderen die Betrauung mit der Alleinobsorge anstrebt oder beide Elternteile jeweils allein obsorgeberechtigt sein wollen (6 Ob 41/13t; 3 Ob 103/13p).

Nach der neuen Rechtslage ist für die Obsorgeregelung ausschließlich das Kindeswohl maßgeblich. Das Kindesinteresse ist dem Willen der Eltern übergeordnet. Für die Anordnung der beiderseitigen Obsorge ist daher die Beurteilung maßgebend, ob die Interessen des Kindes auf diese Weise am besten gewahrt werden können (8 Ob 7/15x). Es ist daher die Frage zu stellen, ob es dem Wohl des Kindes besser entspricht, die Obsorge beiden Elternteilen zu belassen und lediglich jenen Elternteil zu bestimmen, in dessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut werden soll, oder aber nur einen Elternteil mit der alleinigen Obsorge zu betrauen. Zudem kommt es darauf an, welche Anliegen und Vorstellungen ein urteilsfähiges Kind selbst dazu äußert. Auch nach der neuen Rechtslage stellt der Wille des Kindes ein in dieser Hinsicht relevantes Kriterium dar (8 Ob 7/15k).

3.2  Nach der neuen Rechtslage soll die Obsorge beider Elternteile eher der Regelfall sein (3 Ob 103/13p; 8 Ob 7/15k). Besteht also eine „normale“ familiäre Situation zwischen den Eltern und auch zwischen den Eltern und dem Kind, so gelangt dieser Grundsatz zur Anwendung (vgl 6 Ob 41/13t).

4.1  Die beiderseitige Obsorge setzt auch eine Beteiligung beider Eltern an der Betreuung des Kindes voraus. Es ist daher entscheidend, ob beide Elternteile bereit und in der Lage sind, an der Erfüllung der mit der Obsorge verbundenen Aufgaben mitzuwirken (1 Ob 156/14v). Es ist notwendig, dass Erziehungs- und Betreuungsmaßnahmen gemeinsam besprochen werden, die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes möglichst übereinstimmend beurteilt werden und sich die darauf beziehenden Entscheidungen der Elternteile nicht regelmäßig widersprechen.

Die Beteiligung eines Elternteils an der Betreuung des Kindes über Skype‑Telefonie oder per SMS und E‑Mail genügt dafür nicht (6 Ob 155/13g; 2 Ob 240/14d). Demnach setzt die Teilnahme an den Betreuungsaufgaben auch Mindestkontakte des jeweiligen Elternteils zum Kind voraus.

4.2  Aus den genannten Gründen ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Eltern ein gewisses Mindestmaß an Kooperations‑ und Kommunikationsfähigkeit sowie an der entsprechenden Bereitschaft beider Elternteile voraussetzt. Um Entscheidungen möglichst übereinstimmend im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und Entschlüsse zu fassen.

Nach diesen Grundsätzen ist eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob bereits derzeit eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist, oder ob in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet oder eine solche hergestellt werden kann (RIS‑Justiz RS0128812; 3 Ob 103/13p; 8 Ob 7/15k). Zur Herstellung der erforderlichen Gesprächsbasis ist bei begründender Aussicht auf Erfolg auch auf die nunmehr vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellten Mittel des § 107 Abs 3 AußStrG zurückzugreifen (vgl 6 Ob 41/13t; 8 Ob 7/15k). Zudem ist zu beachten, dass vor allem ein die Alleinobsorge anstrebender Elternteil die Kooperation und Kommunikation nicht schuldhaft verweigern oder erschweren darf, weil er es ansonsten in der Hand hätte, die Belassung bzw Anordnung der beiderseitigen Obsorge einseitig zu verhindern (vgl 6 Ob 41/13t; 8 Ob 7/15k).

5.  Nach den Feststellungen kommt es zwischen S***** und dem Vater seit Mitte 2012 zu keinen Besuchskontakten mehr. S***** lehnt persönliche Kontakte zum Vater ab, wobei diese Ablehnung in erster Linie durch Beiträge des Vaters selbst bedingt ist. Eine Anbahnung persönlicher Kontakte zum Vater gegen den Willen von S***** entspricht nicht dem Kindeswohl. In Betracht kommt allenfalls die Anbahnung eines Briefverkehrs oder von Telefongesprächen.

Nach dieser ‑ für die Entscheidung ausreichenden ‑ Sachverhaltsgrundlage fehlt es im Hinblick auf das Kind S***** an dem für eine Beteiligung des Vaters an der Obsorge notwendigen Mindestkontakt. Die Obsorge für S***** ist daher auf die Mutter allein zu übertragen. Das Kontaktrecht des Vaters zu S***** bleibt davon unberührt.

6.1  Im Verhältnis zu A***** finden seit Juni 2014 regelmäßige Besuchskontakte des Vaters, wenn auch in Anwesenheit der väterlichen Großmutter, statt. Die Mutter zeigt sich in letzter Zeit bereit, die Kontakte der Kinder zum Vater zu fördern. Seit Anfang März 2014 ist im konfliktgeladenen, von schweren gegenseitigen Vorwürfen und Auseinandersetzungen geprägten Verhältnis zwischen den Eltern eine gewisse Beruhigung eingetreten, die auch zu einer Beruhigung bei den Kindern geführt hat. Nach weiteren (dislozierten) Feststellungen des Erstgerichts sind gröbere Auseinandersetzungen zwischen den Eltern in letzter Zeit unterblieben. Von einer Gesprächsbasis zwischen den Eltern kann derzeit allerdings nicht ausgegangen werden.

6.2  Ausgehend von diesen Feststellungen lässt sich eine gesicherte Beurteilung zu der am besten geeigneten Obsorge für A***** nicht treffen. Das Rekursgericht erkennt selbst, dass Feststellungen insbesondere zu den Fragen fehlen, ob und gegebenenfalls in welcher Form zwischen den Eltern eine Kommunikation zu Erziehungs- und Betreuungsfragen betreffend A***** stattfindet, ob die Bereitschaft zu solchen Gesprächen besteht und ob eine ausreichende Kooperations‑ und Kommunikationsbasis unter Heranziehung der Mittel des § 107 Abs 3 AußStrG hergestellt werden kann.

Aufgrund relevanter sekundärer Feststellungsmängel müssen die Entscheidungen der Vorinstanzen in Bezug auf A***** aufgehoben werden. Im fortgesetzten Verfahren werden vor allem die Möglichkeiten zur Herstellung der für eine beiderseitige Obsorge erforderlichen Gesprächsbasis zu prüfen sein. Weiters wird zu klären sein, ob Aufträge an die Elternteile nach § 107 Abs 3 AußStrG zweckmäßig sind oder eine Phase der vorläufigen elterlichen Verantwortung nach § 180 Abs 1 ABGB anzuordnen ist.

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