OGH 7Ob124/15h

OGH7Ob124/15h16.12.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofräte Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und Dr. Singer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. C***** P*****, vertreten durch Mag. Christian Fuchs, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei U***** AG, *****, vertreten durch Dr. Martin Wuelz, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 20.247,30 EUR und Feststellung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 21. Mai 2015, GZ 6 R 29/15z-15, mit dem das Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 29. Dezember 2014, GZ 5 Cg 18/14i-11, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0070OB00124.15H.1216.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Begründung

Der Kläger wurde im Jahre 2011 bei einem Unfall als Radfahrer von einem Auto angefahren und dabei verletzt.

Der Kläger ist bei der Beklagten unfallversichert. Die Versicherungssumme für dauernde Invalidität beträgt 224.970 EUR. Die zugrunde liegenden K***** Bedingungen ***** für die Unfallversicherung Fassung 12/2007 lauten auszugsweise:

In welchen Fällen und nach welchen Regeln entscheidet die Ärztekommission? - Artikel 18

1. Im Falle von Meinungsverschiedenheiten über Art und Umfang der Unfallfolgen oder darüber, in welchem Umfang die eingetretene Beeinträchtigung auf den Versicherungsfall zurückzuführen ist, entscheidet die Ärztekommission. Auch über die Beeinflussung der Unfallfolgen durch Krankheit oder Gebrechen sowie im Falle des unter „Dauernde Invalidität" angeführten Art 7. 8 entscheidet die Ärztekommission.

2. In den nach Punkt 1. der Ärztekommission zur Entscheidung vorbehaltenen Meinungsverschiedenheiten kann der Anspruchsberechtigte innerhalb von sechs Monaten nach Zugang unserer Erklärung Widerspruch erheben und mit Vorlage eines medizinischen Gutachtens unter Bekanntgabe seiner Forderung (gemäß Art 17. 1 ‑ Fälligkeit unserer Leistungen) die Entscheidung der Ärztekommission beantragen.

3. Das Recht, die Entscheidung der Ärztekommission zu beantragen, steht auch uns zu.

(...)

8. Die Kosten der Ärztekommission werden von ihr festgesetzt und sind im Verhältnis des Obsiegens der beiden Parteien zu tragen. Im Fall des Art 7 beschriebenen Punkt 8., trägt derjenige die Kosten, der die Neufeststellung verlangt hat. Der Anteil der Kosten, den der Anspruchsberechtigte zu tragen hat, ist mit 5 % der für Tod und Invalidität zusammen versicherten Summe, höchstens jedoch mit 50 % des strittigen Betrages, begrenzt.

Der Kläger begehrte unter Hinweis auf Art und Schwere seiner näher beschriebenen Unfallverletzungen von der Beklagten die Zahlung von 20.247,30 EUR sA, das ist die Differenz zwischen den von der Beklagen anerkannten 6 % und den begehrten 15 %, demnach 9 % der vereinbarten Versicherungssumme. In eventu begehrte der Kläger die Feststellung, dass die in Artikel 18.8. der Versicherungsbedingungen enthaltene Regelung betreffend die Tragung der Kosten der Ärztekommission rechtsunwirksam sei. Schließlich begehrte der Kläger wegen bestimmter, noch nicht absehbarer Unfallfolgen die Feststellung, dass die Beklagte für den Schadenfall Deckungsschutz zu gewähren habe. Er brachte vor, welche Unfallfolgen er erlitten habe und dass die Kostentragungsklausel als gröblich benachteiligend unwirksam sei. Die Beklagte habe auf die Anrufung der Ärztekommission verzichtet und trotz Mitteilung einer beim Kläger unfallbedingt vorgelegenen Verletzung der Halsschlagader jede Mitwirkung an der Ursachenerforschung unterlassen.

Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klagebegehren und wandte mangelnde Fälligkeit ein, weil sie rechtzeitig und ausdrücklich die Einberufung der Ärztekommission verlangt habe. Zu der vom Kläger zuletzt noch behaupteten unfallbedingten Verletzung seines „Gleichgewichtssystems“ wandte die Beklagte in der mündlichen Streitverhandlung (ua) ein, dass der Kläger diese Unfallfolge erstmals Jahre nach dem Unfall, somit verspätet behauptet und deshalb eine Obliegenheitsverletzung zu vertreten habe.

Das Erstgericht wies das Zahlungsbegehren sowie das Begehren auf Feststellung der Deckungspflicht ab und stellte die Rechtsunwirksamkeit der Regelung über die Tragung der Kosten der Ärztekommission fest. Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, dass Art 18. der Versicherungsbedingungen eine wirksame Schieds‑ vereinbarung beinhalte und die Beklagte die Einberufung der Ärztekommission auch verlangt habe, weshalb das Zahlungsbegehren des Klägers nicht fällig sei. Für das Begehren des Klägers auf Feststellung der Deckungspflicht fehle das Feststellungsinteresse, weil die Beklagte ihre Haftung nicht grundsätzlich bestritten habe. Die Regelung über die Tragung der Kosten der Ärztekommission sei im Hinblick auf die dem Versicherungsnehmer daraus drohende Kostenbelastung als gröblich benachteiligend iSd § 879 Abs 3 ABGB anzusehen.

Das Berufungsgericht gab der vom Kläger erhobenen Berufung nicht Folge. Es war ebenfalls der Rechtsansicht, dass die Schiedsvereinbarung mit Ausnahme der in Art 18.8. der Versicherungsbedingungen vorgesehenen Kostentragungsklausel gültig sei. Der Einwand des Klägers, dass die von der Beklagten behauptete Obliegenheitsverletzung infolge der vermeintlich verspätet geltend gemachten Beeinträchtigung seiner Geh- und Standsicherheit die Entscheidung der Ärztekommission ausschließe, sei ebenfalls unberechtigt. Sollte tatsächlich eine Obliegenheitsverletzung des Klägers vorliegen, so wäre sein Anspruch ohnehin inhaltlich abzuweisen. Liege dem Kläger dagegen keine Obliegenheitsverletzung zur Last, so bleibe es bei der Zuständigkeit der Ärztekommission.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands insgesamt 30.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Stattgebung des Klagebegehrens. Hilfsweise stellt der Kläger auch einen Aufhebungsantrag.

Die Beklagte erstattete eine ihr freigestellte Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, die außerordentliche Revision als unzulässig zurückzuweisen, in eventu dieser keine Folge zu geben und das Berufungsurteil vollinhaltlich zu bestätigen.

Die Revision ist zulässig und in ihrem Aufhebungsantrag auch berechtigt, weil die Vorinstanzen ‑ wie in der Revision geltend gemacht ‑ die Frage der Fälligkeit des Leistungsanspruchs unrichtig beurteilt haben.

1. Den Vorinstanzen ist zunächst im Grunde dahin beizupflichten, dass der Anspruch des Versicherungsnehmers materiell‑rechtlich nicht fällig ist, solange ein wirksam vereinbartes Schiedsgutachterverfahren nicht eingeleitet und (wenn auch erfolglos) durchgeführt wurde (RIS-Justiz RS0081371 [T2]). Vor dem Abschluss oder dem endgültigen Scheitern dieses Verfahrens tritt also keine Fälligkeit des Leistungsanspruchs ein (RIS-Justiz RS0082250).

2. Der Versicherer kann allerdings auf die Einberufung der Ärztekommission ausdrücklich, aber auch schlüssig dadurch verzichten, dass er die Versicherungsleistung endgültig ablehnt. In diesem Fall wird der Entschädigungsanspruch sofort fällig (7 Ob 126/08t; 7 Ob 120/10p; vgl auch RIS-Justiz RS0080481, RS0081393). Soweit nämlich ein Versicherungsfall, etwa wegen Verletzung einer Obliegenheit, keine Leistungspflicht des Versicherers auslöst, bleibt kein Raum mehr für die Durchführung des Schiedsverfahrens (7 Ob 2/94 mwN; RIS-Justiz RS0080449).

3. Die Beklagte hat nun in der letzten Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung ‑ ausdrücklich ‑ eine Obliegenheitsverletzung des Klägers infolge verspäteter Mitteilung der Stand- und Gangunsicherheit geltend gemacht und dieses Vorbringen auch nicht etwa nur hilfsweise für den Fall der Annahme der Fälligkeit durch das Erstgericht erstattet. Die Beklagte hat damit ihre Leistungspflicht dem Grunde nach abgelehnt, womit die Fälligkeit eines bestehenden Leistungsanspruchs eingetreten ist.

4. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass im Fall gegebener Fälligkeit das Leistungsbegehren infolge der von der Beklagten geltend gemachten Obliegenheitsverletzung des Klägers unberechtigt sei, was gleichfalls zur Abweisung des Leistungsbegehrens führe, ist nicht zutreffend. Der Kläger hat nämlich zu der von der Beklagten behaupteten Obliegenheitsverletzung ein ‑ ungeprüft gebliebenes ‑ Vorbringen dahin erstattet, dass er aufgrund von ärztlichen Hinweisen seine Gleichgewichtsstörungen für eine übliche und vorübergehende Begleiterscheinung der Halswirbelfrakturen gehalten und daher keinen Anlass zu früherer Geltendmachung gehabt habe. Dieses Vorbringen ist in Richtung eines fehlenden (groben) Verschuldens des Klägers an einer gegebenenfalls anzunehmenden Obliegenheitsverletzung (§ 6 Abs 3 VersVG) zu verstehen und der Kläger ist darauf auch in seiner Berufung sowie in seiner Revision ‑ erschließbar ‑ zurückgekommen.

5. Zusammengefasst folgt:

5.1. Durch den Einwand einer Obliegenheitsverletzung seitens der Beklagten ist die Fälligkeit eines gegebenenfalls bestehenden Leistungsanspruchs des Klägers eingetreten. Gegen die von der Beklagten behauptete Obliegenheitsverletzung hat der Kläger sein fehlendes (grobes) Verschulden eingewandt. In diesem Sinn sind daher im fortgesetzten Verfahren die tatsächlichen Grundlagen für die materielle Beurteilung des vom Kläger (primär) erhobenen Leistungs- und Feststellungsbegehrens zu klären.

5.2. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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