OGH 9ObA140/15a

OGH9ObA140/15a26.11.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Dehn sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Sabine Duminger und Johann Sommer in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei V***** O*****, vertreten durch Dr. Thomas Praxmarer, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Mag. Dr. H***** G*****, vertreten durch Mag. Priska Seeber, Rechtsanwältin in Innsbruck, wegen 552,18 EUR brutto sA, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil der Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 24. September 2015, GZ 15 Ra 61/15f‑18, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:009OBA00140.15A.1126.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Begründung

Der Kläger war von 12. 5. 2014 bis 19. 8. 2014 beim beklagten Arbeitskräfteüberlassungsunternehmen als angelernter Arbeitnehmer beschäftigt. Auf sein Dienstverhältnis war der Kollektivvertrag für das Gewerbe der Arbeitskräfteüberlassung (KVAÜ) anzuwenden. Während der gesamten Dauer des Dienstverhältnisses war der Kläger einem Betrieb zur Arbeitsleistung zugewiesen, dessen ‑ vergleichbare Tätigkeiten wie der Kläger ausübende - Arbeiter dem Kollektivvertrag für Arbeiter in der eisen- und metallerzeugenden und ‑verarbeitenden Industrie (KV‑Metallindustrie) unterliegen. Revisionsgegenständlich ist die Berechnung des Entgeltanspruchs des Klägers.

Der KVAÜ sieht vor:

IX. Mindestlöhne

1. Mindestlohn/Grundlohn (Mindeststunden-löhne)

Sowohl während der Dauer einer Überlassung als auch in überlassungsfreien Zeiten (Stehzeiten) darf der Stundenlohn keinesfalls geringer sein als der nach den folgenden Bestimmungen zu zahlende Mindestlohn. […]

3. Überlassungslohn

Für die Dauer der Überlassung besteht Anspruch auf den im Beschäftigerbetrieb vergleichbaren Arbeitnehmern für vergleichbare Tätigkeiten zu zahlenden kollektivvertraglichen Lohn (ggf. Satzung, Mindestlohntarif, Gesetz, Verordnung usw.), wenn dieser höher ist, als der in Pkt 1. und 2. geregelte Mindestlohn/Grundlohn. […]

Bei Überlassung in einen Betrieb, für dessen vergleichbare Arbeitnehmer ein Kollektivvertrag gilt, der von einem der in Pkt 4. genannten Verbände abgeschlossen wurde, beträgt der Überlassungslohn jedoch …

für angelernte Arbeitnehmer 110 % …

des im ersten Satz bezeichneten kollektivvertraglichen Lohnes.

4. Referenzverbände

4a. Überlassungslohn der Metall-, Elektro- und Mineralölindustrie sowie in der Elektrizitätswirtschaft:

a) Die Regelungen dieses Punktes gelten … auch für die Fachverbände der Metallindustrie …

b) Abweichend von Pkt. 3. beträgt der Überlassungslohn bei Überlassung in einen Betrieb, für dessen vergleichbare Arbeitnehmer einer der im Pkt. 4a. lit. a) angeführten Kollektivverträge gilt, …

für angelernte Arbeitnehmer 113 % …

des im ersten Satz des Pkt. 3. bezeichneten kollektivvertraglichen Lohnes. […]

Die Vorinstanzen folgten der Rechtsansicht des Klägers, dass der 13%ige Referenzzuschlag zum kollektivvertraglichen Lohn des KV‑Metallindustrie gebührt und sprachen ihm die geltend gemachte Entgeltdifferenz zu. Die Beklagte meint dagegen auch in ihrer außerordentlichen Revision, dass der Zuschlag auf den kollektivvertraglichen Lohn des KVAÜ zu beziehen sei. Damit zeigt sie keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO auf:

Rechtliche Beurteilung

1. Der Auslegung von Kollektivverträgen kommt zwar grundsätzlich eine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung zu (RIS‑Justiz RS0042819; RS0109942); dies gilt aber dann nicht, wenn die Auslegung völlig klar und eindeutig ist (RIS‑Justiz RS0109942 [T1, T6]); RS0042656 [T15]).

Die Grundsätze der Auslegung von Kollektivverträgen wurden bereits vom Berufungsgericht ausführlich dargelegt, sodass darauf verwiesen wird (§ 510 Abs 3 ZPO). Hervorzuheben ist, dass der normative Teil eines Kollektivvertrags gemäß den §§ 6 und 7 ABGB nach seinem objektiven Inhalt auszulegen ist; maßgeblich ist, welchen Willen des Normgebers der Leser dem Text entnehmen kann (RIS‑Justiz RS0010088). Am Beginn aller Interpretationsbemühungen hat daher die Wortlautauslegung zu stehen; eine darüber hinausgehende Auslegung ist (nur) dann erforderlich, wenn die Formulierung mehrdeutig, missverständlich oder unvollständig ist, wobei der äußerst mögliche Wortsinn die Grenze jeglicher Auslegung bildet (RIS‑Justiz RS0031382).

2. Der nach Abschnitt IX Punkt 4a. lit b) KVAÜ für angelernte Arbeitnehmer festgesetzte Prozentsatz bemisst sich nach dem klaren und insofern eindeutigen Verweis nach dem im ersten Satz des Punktes 3. bezeichneten „kollektivvertraglichen Lohn“. Als „kollektivvertraglicher Lohn“ wird dort nur jener Lohn bezeichnet, der im Beschäftigerbetrieb vergleichbaren Arbeitnehmern für vergleichbare Tätigkeiten zu zahlen ist, während der nach dem Überlasserbetrieb zu zahlende Lohn als „der in Pkt. 1. und 2. geregelte Mindestlohn/Grundlohn“ angesprochen wird. Hätten die Kollektivvertragsparteien nur eine Erhöhung des KVAÜ‑Mindest‑/Grundlohns angestrebt, so wäre nicht recht verständlich, warum diese Regelung unter Bezugnahme auf den im ersten Satz von Punkt 3. bezeichneten kollektivvertraglichen Lohn erfolgte und nicht lediglich in Punkt 1. ein erhöhter Mindestlohn/Grundlohn festgelegt wurde. Darauf wies bereits das Erstgericht hin.

3. Dieses Verständnis ist auch nicht unsachlich, weil die in Punkt 4a. genannten Betriebe zu den „Hochlohnbranchen“ zählen, in denen (erheblich) höhere Ist-Löhne üblich sind (s 9 ObA 111/07z; 9 ObA 33/13p unter Hinweis auf Schindler, Arbeitskräfteüberlassungs‑KV 20132 IX Erl 17, 265). Mit dem Referenzaufschlag zum kollektivvertraglichen Lohn des (hier:) KV‑Metallindustrie wird insofern nur eine pauschale Angleichung an die im Beschäftigerbetrieb tatsächlich ausbezahlten Löhne erreicht. Dementsprechend verweist auch die Literatur darauf, dass die Prozentsätze auf Grundlage des Mindestlohns des Beschäftiger‑KV zu ermitteln und niemals auf den Mindestlohn/Grundlohn nach dem KVAÜ aufzuschlagen sind (Rothe, Arbeiter‑ und Angestelltenkollektivvertrag für das Gewerbe der Arbeitskräfteüberlassung [2013] Rz 60; Schindler aaO 267; Adametz/Schindler, Gemeinsame Erläuterungen zum AÜ‑KV, Stand 12. 2. 2, Pkt. 12. d); s auch Tomandl, Arbeitskräfteüberlassung [2014] 83).

Die Befürchtung der Beklagten, dass es dadurch zu einer nicht gewünschten Überzahlung der Leiharbeitnehmer im Verhältnis zur Stammbelegschaft des Beschäftigerbetriebs kommen könnte, ist durch nichts belegt. Vielmehr wurde schon in der Entscheidung 9 ObA 130/04i eingehend dargelegt, weshalb die im KVAÜ festgelegten Erhöhungssätze in pauschalierender Form die von den Kollektivvertragsparteien ermittelten überkollektiv-vertraglichen Löhne widerspiegeln. In der Entscheidung 9 ObA 33/13p wurde überdies darauf hingewiesen, dass die Kollektivvertragsparteien nach Anhang IV des KVAÜ verpflichtet sind, die in Abschnitt IX/3 zweiter Satz genannten Prozentsätze nach oben oder unten anzupassen, wenn sich der im gewichteten Mittel der im Abschnitt IX/4 genannten Branchen festgestellte Überzahlungsprozentsatz gegenüber dem Stand vom April bzw Oktober 2001 in einem solchen Ausmaß ändert, dass die vereinbarten Prozentsätze um zumindest 0,5 % nach oben oder nach unten anzupassen wären. Eine entsprechende gemeinsame Überprüfung wurde auch schon vorgenommen (s Schindler aaO 267).

4. Die Bestimmung des § 10 Abs 1 AÜG steht dem schon deshalb nicht entgegen, weil sie die Frage der Auslegung von Normen der kollektiven Rechtsgestaltung, denen der Überlasser unterworfen ist, nicht zum Gegenstand hat. § 10 Abs 1 S 2 AÜG hält vielmehr fest, dass Normen der kollektiven Rechtsgestaltung, denen der Überlasser unterworfen ist, unberührt bleiben (Grundsatz der Tarifautonomie), womit aber nur ein Vorrang des für Arbeitskräfteüberlasser normativ anzuwendenden Kollektivvertrags festgelegt wird (9 ObA 111/07z mwN).

Richtig ist, dass eine dynamische Verweisung in Kollektivverträgen im Sinn einer Delegation der den Kollektivvertragsparteien durch das ArbVG übertragenen Rechtssetzungsbefugnis an von ihnen verschiedene Rechtssubjekte unzulässig ist (RIS‑Justiz RS0050859). Keinem Normgeber ist es aber verwehrt, an die von einer anderen Rechtssetzungsautorität geschaffene Rechtslage anzuknüpfen und sie zum Tatbestandselement einer eigenen Regelung zu machen und die fremde Rechtsvorschrift, deren Vollzug einer anderen Autorität überlassen ist, einer vorläufigen und daher der Beurteilung einer Vorfrage gleichkommenden Betrachtungsweise zu unterziehen (RIS‑Justiz RS0050859 [T4]). Auch hier wurde die Rechtssetzungsbefugnis nicht delegiert, sondern vielmehr durch die Festlegung eines an den Beschäftiger‑KV anknüpfenden Referenzzuschlags dezidiert in Anspruch genommen (ebenso Schindler aaO 265 mwN der Rsp).

5. Zusammenfassend stößt die schon dem klaren Wortlaut folgende Auslegung des KVAÜ, wonach der im Abschnitt IX in den Punkten 3. und 4a. angesprochene Referenzzuschlag auf den kollektivvertraglichen Mindestlohn des jeweiligen Beschäftiger‑Kollektivvertrags zu beziehen ist, auf keine Bedenken.

Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision der Beklagten daher zurückzuweisen.

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