OGH 14Os60/15b

OGH14Os60/15b4.8.2015

Der Oberste Gerichtshof hat am 4. August 2015 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Zonsics als Schriftführer in der Auslieferungssache des Timur I*****, AZ 353 HR 244/14w (vormals AZ 313 HR 59/11s) des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 20. Jänner 2015, AZ 22 Bs 296/14m, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes sowie über den Antrag des Timur I***** auf Erneuerung des Auslieferungsverfahrens nach § 363a StPO nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Holzleithner, der betroffenen Person und ihres Verteidigers Dr. Nachtnebel zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0140OS00060.15B.0804.000

 

Spruch:

(I) In der Auslieferungssache AZ 353 HR 244/14w des Landesgerichts für Strafsachen Wien verletzt der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 20. Jänner 2015, AZ 22 Bs 296/14m, § 33 Abs 1 und Abs 3 ARHG iVm Art 3 und 6 Abs 1 MRK.

Dieser Beschluss wird aufgehoben und dem Oberlandesgericht Wien eine neue Entscheidung aufgetragen.

(II) In diesem Umfang wird Timur I***** mit seinem Antrag auf Erneuerung des Verfahrens gemäß § 363a StPO auf diese Entscheidung verwiesen.

(III) Im Übrigen wird dem Antrag nicht Folge gegeben.

Gründe:

Timur I***** (alias Timur C***** [T*****, vgl ON 27 und ON 29 im Akt AZ 353 HR 244/14w des Landesgerichts für Strafsachen Wien]) war mit Urteil des Rayonsgerichts Leningrad (St. Petersburg) der Stadt Kalininrad vom 27. Oktober 2010 wegen der am 27. November und 16. Dezember 2009 begangenen Straftaten nach Art 30 Abs 3 iVm Art 228.1 Abs 2 lit b („Versuch des ungesetzlichen In‑Verkehr‑Bringens von Betäubungsmitteln in besonders großem Ausmaß, der aus nicht von der Person abhängigen Umständen nicht zu Ende geführt wurde“) sowie Art 30 Abs 1 iVm Art 228.1 Abs 3 lit d („Vorbereitung des ungesetzlichen In-Verkehr-Bringens von Betäubungsmitteln in besonders großem Ausmaß, die aus nicht von der Person abhängigen Umständen nicht zu Ende geführt wurde“) des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation in Abwesenheit schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren „in einer Besserungskolonie mit strengem Regime“ verurteilt worden (ON 26 S 5 und 11 ff).

Mit Beschluss vom 21. Dezember 2012, GZ 313 HR 59/11s-56, erklärte der Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien die von der Russischen Föderation mit Note der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation vom 21. Juni 2012, Nr 81/3-289-11 (ON 26), begehrte Auslieferung des Timur I***** zur Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe für (nicht un-)zulässig.

Das Oberlandesgericht Wien gab der dagegen erhobenen Beschwerde der betroffenen Person mit Beschluss vom 16. April 2013, AZ 22 Bs 39/13s, nicht Folge (ON 63).

Mit Erkenntnis vom 28. Jänner 2014, AZ 14 Os 149/13p, 179/13z, 180/13x, sprach der Oberste Gerichtshof aufgrund einer ‑ aus Anlass eines Antrags der betroffenen Person auf Erneuerung des Auslieferungsverfahrens nach § 363a StPO ‑ von der Generalprokuratur dagegen erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes aus, dass die beiden vorgenannten Beschlüsse Art 3 Abs 1 des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen sowie Art 6 Abs 1 MRK verletzen, hob diese Beschlüsse auf und verwies die Sache an das Landesgericht für Strafsachen Wien, weil er die (damals) zugrunde gelegte Zusicherung der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation nicht als ausreichend im Sinn des Art 3 Abs 1 zweiter Satz des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsüberein-kommen erachtete, die Gerichte die Auslieferung jedoch alleine auf dieser Basis für (nicht un-)zulässig erklärt und deshalb die Konventionskonformität des in Russland geführten Abwesenheitsverfahrens überhaupt nicht geprüft hatten.

Die betroffene Person wurde mit ihrem Erneuerungsantrag unter einem auf diese Entscheidung verwiesen (ON 75).

Den Beschluss des Einzelrichters des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 23. April 2014, mit dem die begehrte Auslieferung des Timur I***** wieder für (nicht un-)zulässig erklärt worden war (ON 108), hob das Oberlandesgericht Wien als Beschwerdegericht in Stattgebung einer dagegen erhobenen Beschwerde der betroffenen Person (ON 110) ‑ aus formalen Gründen ‑ erneut auf und verwies die Auslieferungssache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück (ON 115).

Mit Beschluss vom 5. September 2014, GZ 353 HR 244/14w-128, erklärte der Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien die von der Russischen Föderation mit Note der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation vom 21. Juni 2012, Nr 81/3‑289‑11 (ON 26), begehrte Auslieferung des Timur I***** zur Vollstreckung der mit dem eingangs erwähnten Urteil über ihn verhängten sechsjährigen Freiheitsstrafe ‑ ein drittes Mal ‑ für (nicht un‑)zulässig. In der Begründung führte das Erstgericht aus, dass die ursprüngliche ‑ durch die Zusicherung vom 7. April 2014 (ON 102) ergänzte ‑ Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation vom 29. August 2012 (ON 50 S 7) eine ausreichende Zusicherung einer Neudurchführung des Verfahrens im Sinn des Art 3 Abs 1 zweiter Satz des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen darstelle (BS 5) und auch keine sonstigen Auslieferungshindernisse vorlägen (BS 9).

Der dagegen gerichteten Beschwerde der betroffenen Person (ON 129) gab das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 20. Jänner 2015, AZ 22 Bs 296/14m, „mit der Maßgabe nicht Folge, dass unter Bezugnahme auf die von der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation abgegebene Garantieerklärung vom 11. Dezember 2014 die Auslieferung von folgenden Bedingungen abhängig gemacht wird, nämlich dass der Betroffene

1) im ersuchenden Staat keinen Foltern, grausamen, unmenschlichen, die Menschenwürde erniedrigenden Behandlungs- und Bestrafungsmaßnahmen unterzogen wird (Art 3 MRK), sowie unter vier Augen unbewacht und ohne zeitliche Beschränkung Besuch von seinem Verteidiger empfangen kann;

2) in einer Haftanstalt angehalten wird, die den Vorschriften der Menschenrechskonvention (MRK) und den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen vom 11. Jänner 2006 gerecht wird und in der eine angemessene medizinische Versorgung sowie der Besuch von Angehörigen sichergestellt ist;

3) von Amtspersonen der Österreichischen Botschaft in der Russischen Föderation jederzeit ohne Überwachung besucht werden kann, wozu erstere über den Ort der Inhaftierung und von allfälligen Verlegungen unverzüglich zu informieren sind;

4) sich jederzeit an Mitglieder der österreichischen diplomatischen Vertretung in der Russischen Föderation wenden kann“.

Das Beschwerdegericht ging zunächst von der Konventionswidrigkeit des in Russland geführten Abwesenheitsverfahrens (Verstoß gegen Art 6 Abs 1 MRK) aus (BS 5 f), erachtete jedoch ‑ wie das Erstgericht ‑ die Zusicherung der Behörden des Zielstaats als ausreichend im Sinn des Art 3 Abs 1 zweiter Satz des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungs-übereinkommen sowie des § 19a Abs 2 ARHG (BS 5 f). Der Nachweis des Vorliegens von Auslieferungshindernissen, die sich aus Art 3 und 6 MRK ergeben könnten, wurde vom Oberlandesgericht ‑ unter Berücksichtigung einer Stellungnahme der österreichischen Botschaft in Moskau vom 17. Oktober 2014 (ON 131) ‑ verneint (BS 6 f).

Ungeachtet dieser Erwägungen sah sich das Beschwerdegericht aber auch aufgrund der bereits erwähnten Stellungnahme der österreichischen Botschaft und einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR 10. 12. 2012, 42525/07 und 60800/08, Ananyev ua/Russland), worin wiederholte Verletzungen des Art 3 MRK durch den Zielstaat im Bereich des Strafvollzugs festgestellt wurden, veranlasst, den ersuchenden Staat im Weg des Bundesministeriums für Justiz zur Einhaltung der aus dem Spruch ersichtlichen (Verfahrens-)Garantien als Bedingung für den Fall der Auslieferung zu verpflichten. Dabei fügte es hinzu, dass eine solche von der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation bereits in einem Schreiben vom 11. Dezember 2014 zugesichert worden sei, wodurch sich die Risken einer Verletzung des Art 3 MRK so weit minimieren ließen, dass sie nur noch theoretisch erschienen. In diesem Zusammenhang verwies das Rechtsmittelgericht auch auf die Möglichkeit der Kontrolle der Einhaltung der abgegebenen Garantien durch das Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres und führte aus, dass bei Nichteinhalten der Garantie auch die Wiederaufnahme des Verfahrens samt Zurückstellung des Ausgelieferten in Betracht käme. In diesem Fall wäre die Verlässlichkeit russischer Zusicherungen pro futuro derart in Frage gestellt, dass künftige Überstellungen sogar als unzulässig eingestuft werden müssten (BS 7 f).

Vom Bundesminister für Justiz wurde die Auslieferung des Timur I***** zur Strafverfolgung im Umfang dieses Beschlusses des Oberlandesgerichts Wien unter Bezugnahme auf die von der Russischen Föderation ‑ insbesonders mit Schreiben vom 11. Dezember 2014, Nr 81/3‑289‑11 (ON 133) ‑ abgegebenen Zusicherungen bewilligt.

Bereits in diesem Erlass vom 28. Jänner 2015, GZ BMJ-4046440/0002-IV 4/2015, vertrat das Bundes-ministerium für Justiz die Rechtsauffassung, dass die Auslieferung nicht unter der Maßgabe der Einhaltung von Bedingungen für zulässig erklärt werden könne (ON 139).

Ein mit Auslieferungsbrief vom 7. April 2015 auf den 17. April 2015 festgesetzter Termin zur Übergabe der betroffenen Person an die russischen Behörden (ON 159) wurde ‑ aus Anlass eines Antrags der Staatsanwaltschaft auf vorläufigen Aufschub der Durchführung der Auslieferung ‑ mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 16. April 2015 unter Bezugnahme auf die ‑ einen gleichgelagerten Sachverhalt betreffende - Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 15. April 2015, AZ 13 Os 27/15t, 30/15f) widerrufen (ON 161) und Timur I***** am 16. April 2015 aus der ‑ mit Beschluss desselben Gerichts vom 24. März 2015 (ON 152) über ihn verhängten ‑ Überstellungshaft nach § 36 Abs 1 ARHG entlassen (ON 162).

Gegen die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 5. September 2014, GZ 353 HR 244/14w-128, und des Oberlandesgerichts Wien vom 20. Jänner 2015, AZ 22 Bs 296/14m (ON 138), richtet sich der eine Verletzung von Art 3, Art 6 und „Art 8 bzw Art 9“ MRK reklamierende Antrag der betroffenen Person auf Erneuerung des Verfahrens nach § 363a StPO.

Rechtliche Beurteilung

Die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes wendet sich gegen die letztgenannte Entscheidung des Beschwerdegerichts.

Zur Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes:

Wie die Generalprokuratur zutreffend aufzeigt steht der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Gemäß § 33 Abs 3 ARHG hat das Gericht die Zulässigkeit der Auslieferung in rechtlicher Hinsicht umfassend in Bezug auf Auslieferungsvoraussetzungen und -hindernisse zu prüfen. Dabei hat es auf zwischenstaatliche Vereinbarungen ebenso Bedacht zu nehmen wie auf die der betroffenen Person nach Gesetz und Bundesverfassung zukommenden subjektiven Rechte. Auch wenn § 1 ARHG den Vorrang zwischenstaatlicher Vereinbarungen vor dem ARHG normiert, sind jedenfalls die sich aus der MRK und ihren Zusatzprotokollen ergebenden Auslieferungshindernisse zu beachten, sofern sie nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) einer Auslieferung entgegenstehen (vgl EBRV 294 BlgNR 22. GP 33; Martetschläger in WK² ARHG § 1 Rz 3; Göth-Flemmich in WK² ARHG Vor §§ 10‑25 Rz 6, § 33 Rz 8).

Der Bundesminister für Justiz kann eine Auslieferung aus politischen Erwägungen („Interessen der Republik Österreich“) oder aus völkerrechtlichen Gründen ablehnen (§ 34 Abs 1 erster und zweiter Satz ARHG, EBRV 294 BlgNR 22. GP 33), an eine die Auslieferung rechtskräftig für unzulässig erklärende Entscheidung des Gerichts ist er gebunden (§ 34 Abs 1 letzter Satz ARHG).

Eine Auslieferung kann für den Aufenthaltsstaat eine Verletzung von Art 3 MRK bedeuten, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person der tatsächlichen Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung im Empfangsstaat ausgesetzt sein könnte (vgl EGMR 7. 7. 1989, 14038/88, Soering/Vereinigtes Königreich, EuGRZ 1989, 314; RIS-Justiz RS0123229, RS0123201; Göth‑Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 7 mwN). Die bloße Möglichkeit von Übergriffen, die in jedem Rechtsstaat vorkommen können, macht die Auslieferung nicht unzulässig (RIS-Justiz RS0118200).

Die betroffene Person hat die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, ernsthaften (gewichtigen) Gefahr schlüssig nachzuweisen (RIS-Justiz RS0123229). Ein solcher Nachweis ist nur dann verzichtbar, wenn der ersuchende Staat eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen aufweist.

Haftbedingungen können eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen, auch wenn sie nicht darauf abzielen, den Gefangenen zu demütigen oder zu erniedrigen. Sie verletzen Art 3 MRK, wenn sie erhebliches psychisches oder physisches Leid verursachen, die Menschenwürde beeinträchtigen oder Gefühle von Demütigung und Erniedrigung erwecken. Zu berücksichtigen sind dabei alle Umstände, so etwa Überbelegung, mangelhafte Heizung oder Lüftung, übergroße Hitze, sanitäre Verhältnisse, Schlafmöglichkeit, Ernährung, Erholung und Außenkontakte sowie gegebenenfalls ihr kumulativer Effekt (RIS-Justiz RS0123229 [T4]; EGMR 15. 7. 2002, 47095/99, Kalashnikov/Russland; Meyer-Ladewig, EMRK³ Art 3 Rz 29).

Bei der Auslieferung in einen Konventionsstaat ist die Verantwortlichkeit des ausliefernden Staats eingeschränkt, wenn der Betroffene im Zielstaat ausreichenden und rechtzeitigen Rechtsschutz gegen Konventionsverletzungen erlangen kann (Göth-Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 10 mwN). Eine dahingehende Vermutung ist aber widerlegt (vgl § 4 Abs 3 AsylG 2005), wenn das Gegenteil vom Betroffenen (nach den zuvor genannten Kriterien) schlüssig nachgewiesen wurde oder dessen konkrete Gefährdung vom Gericht schon auf Basis objektiver Quellen wegen im Zielstaat ‑ ungeachtet dessen rechtlicher Verpflichtungen (insbesondere nach der MRK) ‑ bestehender systemischer Defizite im Grundrechtsschutz angenommen werden muss (EGMR Urteile vom 21. 1. 2011 [GK], 30696/09, M.S.S./Belgien und Griechenland [insbesondere Rz 326, 328, 330 f, 342 f, 352 ff und 362 ff] und vom 4. 1. 2014 [GK], 29217/12, Tarakhel/Schweiz [insbesondere Rz 101 ff]; Grabenwarter/Pabel, EMRK5 § 20 Rz 44).

Zwar fällt das Auslieferungsverfahren selbst nicht in den Anwendungsbereich des Art 6 MRK, doch können dessen Verfahrensgarantien für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung dann (ausnahmsweise) Relevanz erlangen, wenn die betroffene Person nachweist, dass ihr im ersuchenden Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Verfahrens („a flagrant denial of justice“) droht (vgl EGMR 7. 7. 1989, 14038/88, Soering/Vereinigtes Königreich, EuGRZ 1989, 314; RIS-Justiz RS0123200; Meyer-Ladewig, EMRK³ Art 6 Rz 167; weitere Nachweise bei Göth-Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 14).

Vor diesem Hintergrund begegnet der ursprüngliche Ansatz des Beschwerdegerichts, unter dem Aspekt der Art 3 und 6 MRK auf einen Nachweis durch die betroffene Person abzustellen, keinen Bedenken.

Geht das Gericht nach seiner Prüfung vom Vorliegen aller rechtlichen Voraussetzungen für die Auslieferung und vom Fehlen von Auslieferungshindernissen aus, hat es die Auslieferung für zulässig zu erklären. Bestehen hingegen noch Zweifel am Vorliegen eines Auslieferungshindernisses, muss das Gericht versuchen, sie vor der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen. Gelingt dies nicht, hat es die Auslieferung für unzulässig zu erklären (vgl Göth-Flemmich in WK² ARHG Vor §§ 10-25 Rz 7; Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl 189, 295 f).

Diesen Prüfkriterien entspricht der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 20. Jänner 2015, AZ 22 Bs 296/14m, nicht.

Das Beschwerdegericht hat vorliegend „die Risken einer Verletzung des Art 3 MRK“ als (nur) dadurch ausreichend herabgesetzt erachtet, dass es den ersuchenden Staat zur Einhaltung bestimmter (im Spruch ersichtlicher) Verfahrensgarantien als Bedingung „für den Fall der Auslieferung“ verpflichtete (BS 1 f und 7).

Eine Erklärung der Zulässigkeit der Auslieferung setzt aber als Ergebnis der Prüfung das Nichtvorliegen von Auslieferungshindernissen voraus. Den Ausspruch über die Zulässigkeit der Auslieferung an die Bedingung zu knüpfen, dass sich die Russische Föderation in Bezug auf die betroffene Person in Zukunft konventionskonform verhält, widerspricht § 33 Abs 1 und 3 ARHG iVm Art 3 und 6 MRK.

Auf eine diplomatische Zusicherung darf übrigens nur dann vertraut werden, wenn sie geeignet ist, die Gefahr für die betroffene Person zu beseitigen, sie muss aus Sicht des Gerichts verbindlich und verlässlich sein (vgl Göth‑Flemmich in WK² ARHG Vor §§ 10-25 Rz 7).

Wenn objektive Quellen von der Anwendung oder Tolerierung von Praktiken berichten, die den Prinzipien der Konvention entgegenstehen, sind diplomatische Zusicherungen generell nicht ausreichend, um adäquaten Schutz vor Folter oder Misshandlung der ausgelieferten Person zu gewährleisten (EGMR 20. 5. 2010, 21055/09, Khaydarov/Russland; vgl auch Göth-Flemmich in WK² ARHG Vor §§ 10-25 Rz 8). In diesen Fällen schließt es die allgemeine Menschenrechtslage im Empfangsstaat bereits von vornherein aus, irgendeine Zusicherung zu akzeptieren (vgl EGMR 17. 1. 2012, 8139/09, Othman [Abu Qatada]/Vereinigtes Königreich).

Mit der Erwägung des Oberlandesgerichts, im Fall der Nichteinhaltung der Bedingungen wäre „pro futuro jedenfalls die Verlässlichkeit russischer Zusicherungen“ in Auslieferungsverfahren derart in Frage gestellt, dass „künftige Überstellungen sogar als unzulässig eingestuft werden müssten“, wird eine Timur I***** allenfalls betreffende Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung im Empfangsstaat nicht ausgeräumt (vgl zum Ganzen AZ 13 Os 27/15t, 30/15f).

Da eine Benachteiligung der betroffenen Person durch die aufgezeigte Gesetzesverletzung nicht ausgeschlossen werden kann, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO).

Zum Erneuerungsantrag:

Für den subsidiären Rechtsbehelf eines ‑ wie hier ‑ nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrags gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 MRK sinngemäß (RIS‑Justiz RS0122737; 14 Os 103/14z; 14 Os 28/15z).

Da demnach

Erneuerungsanträge gegen Entscheidungen, die der

Erneuerungswerber mit Beschwerde anfechten kann, unzulässig sind (für viele: 13 Os 47/11b, 54/11g), war der Antrag, soweit er sich (inhaltlich) gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 5. September 2014, GZ 353 HR 244/14w‑128, richtet, schon deshalb zurückzuweisen.

Mit seinem ‑ den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien betreffenden ‑ Vorbringen zu einem Verstoß gegen Art 3 MRK kann der Erneuerungswerber mit Blick auf den Erfolg der von der Generalprokuratur erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes auf deren Erledigung verwiesen werden, weil sich die Nichtigkeitsbeschwerde in Ansehung dieser reklamierten Grundrechtsverletzung mit dem Erneuerungsantrag deckt und deren Feststellung verbunden mit der nach § 292 letzter Satz StPO verfügten konkreten Wirkung einen angemessenen Ausgleich hiefür darstellt (RIS-Justiz RS0126458).

Soweit der Antrag ‑ ebenfalls bezogen auf die Entscheidung des Beschwerdegerichts ‑ darüber hinaus eine Verletzung von Art 6 sowie „Art 8 bzw Art 9“ MRK behauptet, erweist er sich als teils als (im Sinn des Vorgesagten) unzulässig gemäß Art 35 MRK, teils als unbegründet:

Ausgehend von der Feststellung, dass das in der Russischen Föderation gegen den Betroffenen durchgeführte Abwesenheitsverfahrens nicht den Anforderungen des Art 6 MRK entsprach, hat sich das Oberlandesgericht mit der ergänzten und erweiterten Zusicherung der Behörden des Zielstaats (wonach ‑ zusammengefasst ‑ gemäß der russischen Strafprozessordnung Abwesenheitsurteile [jedenfalls] „aus prozessualen Gründen“ aufzuheben und die Verfahrensakten zur Neudurchführung des Verfahrens an das Gericht zu übermitteln sind, welches sodann eine ordentliche Gerichtsverhandlung durchzuführen hat, in der die Rechte der Verteidigung gewahrt werden, wenn die hievon betroffene Person erklärt, mit dem Urteil nicht einverstanden zu sein und anlässlich ihrer Festnahme oder ihres Erscheinens vor den Rechtsschutzorganen selbst oder durch ihren Verteidiger einen entsprechenden Antrag stellt, wobei eine solche Vorgangsweise ‑ im Fall diesbezüglicher Erklärungen und Anträge des Timur I***** ‑ auch vorliegend garantiert werde; ON 50, ON 93 und ON 101) ausführlich auseinandergesetzt und diese ‑ teilweise durch (zulässigen; vgl RIS-Justiz

RS0124017 [insbesondere T2, T3 und T4]) Verweis auf die Entscheidung des Beschwerdegerichts vom 21. Mai 2014, AZ 22 Bs 140/14w (ON 111) ‑ mit ausführlicher Begründung zutreffend als ausreichend im Sinn des Art 3 Abs 1 zweiter Satz des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen sowie des § 19a Abs 2 ARHG beurteilt (BS 5 f; vgl dazu

Murschetz , Auslieferung und Europäischer Haftbefehl, 205; vgl auch [den vorliegend allerdings nicht anwendbaren] § 11 Abs 1 Z 4 EU‑JZG sowie die in diesem Verfahren ergangene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 28. Jänner 2014, AZ 14 Os 149/13p, 179/13z, 180/13x).

Indem der Erneuerungswerber auf Basis eigener Interpretation der in Rede stehenden Erklärungen und ‑ deren Inhalt großteils ignorierender ‑ Spekulationen zu „allenfalls“ bereits abgelaufenen Fristen und zur (mangelnden) Qualität der zugesicherten Verfahrenserneuerung die gegenteilige Ansicht vertritt und daraus eine Verletzung von Art 6 MRK abzuleiten trachtet, setzt er sich nicht substantiiert mit den relevanten Erwägungen in der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung auseinander (RIS‑Justiz RS0124359) und vermag solcherart keine Fehlbeurteilung des Oberlandesgerichts darzulegen. Dass nur eine Garantieerklärung genügen würde, in der zugesichert wird, dass „das Abwesenheitsurteil … keinerlei Wirkungen entfaltet“, wird in diesem Zusammenhang ohne methodengerechte Ableitung aus dem Gesetz bloß behauptet

(RIS‑Justiz

RS0128393).

Soweit auf Basis der (unbegründeten) These, die „Privatsphäre“ und „Religionsausübung“ des Erneuerungswerbers sei aufgrund seiner „Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit (Moslem/Tadschike)“ im Falle seiner Inhaftierung „jedenfalls … in unzulässiger Weise eingeschränkt“ eine Verletzung von „Art 8 bzw Art 9“ MRK, reklamiert wird, scheitert der Antrag an der fehlenden Rechtswegausschöpfung, weil Derartiges in der Beschwerde gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 5. September 2014, GZ 353 HR 244/14w‑128, nicht geltend gemacht wurde (vgl RIS-Justiz RS0122737 [T13]).

Im Übrigen wird mit diesem Vorbringen eine ‑ bloß nominell angesprochene ‑ Grundrechtsverletzung nicht deutlich und bestimmt aufgezeigt (erneut RIS‑Justiz RS0122737 [T17], RS0128393).

Insoweit war dem Erneuerungsantrag daher gemäß § 363c Abs 2 StPO (teilweise analog; vgl dazu 17 Os 11/12i, EvBl 2013/41, 273) nicht Folge zu geben.

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