European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0150OS00038.15Z.0429.000
Spruch:
In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird der Wahrspruch der Geschworenen, der im Übrigen unberührt bleibt, zu den Zusatzfragen Zahlen 2 und 3, demzufolge das auf dem Wahrspruch beruhende angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Wiener Neustadt als Geschworenengericht mit dem Auftrag verwiesen, seiner Entscheidung den unberührt gebliebenen Wahrspruch zur Hauptfrage mit zugrunde zu legen.
Mit ihren Berufungen werden der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf die kassatorische Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen, auf dem Wahrspruch der Geschworenen beruhenden Urteil wurde Benjamin H***** des Verbrechens des Mordes nach §§ 15, 75 StGB schuldig erkannt.
Danach hat er am 24. Juli 2014 in Wr. Neustadt Jürgen W***** vorsätzlich zu töten versucht, indem er ihm ein Klappmesser mit einer Klingenlänge von neun Zentimetern gezielt in den Hals rammte, sodass dieser eine - im Urteil näher beschriebene ‑ schwere Verletzung erlitt, wobei der Stich die Halsschlagader nur knapp verfehlte.
Die Geschworenen hatten die anklagekonform an sie gestellte Hauptfrage nach dem Verbrechen des Mordes nach §§ 15, 75 StGB bejaht und die (irrig getrennt gestellten) Zusatzfragen in Richtung Notwehr (Zahl 2) und Notwehrüberschreitung (Zahl 3) verneint.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen den Schuldspruch erhobene, auf § 345 Abs 1 Z 6 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten ist berechtigt.
Zutreffend moniert die Fragenrüge (Z 6) das Unterbleiben der Stellung einer Zusatzfrage (auch) nach Putativnotwehr (§ 8 iVm § 3 Abs 1 StGB) und Putativnotwehrüberschreitung aus asthenischem Affekt (§ 8 iVm § 3 Abs 2 StGB) unter Hinweis einerseits auf die Verantwortung des Angeklagten, der (wiederholt) behauptete, Jürgen W***** habe ihn beschimpft und bedroht, sei immer näher auf ihn zugegangen, habe angekündigt, ihm das Genick zu brechen, habe beide Hände gehoben und die Faust geballt, weshalb er „sicher glaube“, dass das Opfer „wahrscheinlich hinhauen“ habe wollen, und sich bedroht gefühlt habe (ON 38a S 21 f und 23 f; [richtig:] ON 5 S 5 iVm ON 38a S 24), und andererseits auf die Aussage des psychiatrischen Sachverständigen Univ.‑Doz. Dr. Karl D*****, wonach der Beschwerdeführer eine durch „erhöhte Vorsicht und Ängstlichkeit im Bezug auf seine Umgebung“ gekennzeichnete Persönlichkeitsstruktur aufweise und aus diesem Grund eine „erhöhte Möglichkeit in Richtung einer wahnhaften Teilinterpretation der Welt“ und eine „erhöhte Abwehrbereitschaft“ bei von ihm als solche empfundenen Angriffen bestehe (ON 43 S 7 bis 9). Denn unter dem (auch) in § 313 StPO verwendeten Begriff des „Vorbringens von Tatsachen“ ist das Vorkommen einer erheblichen Tatsache ‑ somit einer solchen, die im schöffengerichtlichen Verfahren bei sonstiger Nichtigkeit aus § 281 Abs 1 Z 5 zweiter Fall StPO erörterungsbedürftig gewesen wäre ‑ (in der Hauptverhandlung) zu verstehen, wobei es genügt, wenn die Aussage des Angeklagten oder sonstige Beweisergebnisse auf einen solchen Tatumstand (bloß) hinweisen, also der Klärung bedürftige Indizien enthalten (RIS‑Justiz RS0100396 [T1, T2 und T3], RS0100871; Ratz, WK‑StPO § 345 Rz 42).
Da der Schwurgerichtshof eine Prüfung der Glaubwürdigkeit des Vorbringens nicht vorzunehmen hat, sondern die Würdigung der für die Entscheidung der Schuldfrage zu berücksichtigenden Verfahrensergebnisse allein den Geschworenen zukommt (RIS‑Justiz RS0100477), hätte diesen die Möglichkeit zur Beurteilung (auch) eines Geschehensablaufs im Sinn dieser Verfahrensergebnisse durch entsprechende Fragestellung gegeben werden müssen. Dass die Formverletzung auf die Entscheidung keinen dem Angeklagten nachteiligen Einfluss üben konnte, ist nicht unzweifelhaft erkennbar (§ 345 Abs 3 StPO).
Die in der Unterlassung der Fragestellung gelegene Nichtigkeit (Z 6) erfordert die Kassation des Wahrspruchs der Geschworenen zu den Zusatzfragen Zahlen 2 und 3, denn ob im Zeitpunkt der inkriminierten Handlung (hier: des Messerstichs) ein gegenwärtiger oder unmittelbar drohender rechtswidriger Angriff auf das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Beschwerdeführers vorlag oder von diesem irrtümlich angenommen wurde, und ob er (bloß) notwendige und nicht offensichtlich unangemessene Verteidigungshandlungen setzte oder aus einem in § 3 Abs 2 StGB genannten Grund die zulässige Abwehr überschritt, ist in Form einer alternativ gefassten Zusatzfrage nach Notwehr, Notwehrüberschreitung (aus asthenischem Affekt), Putativnotwehr und Putativnotwehrüberschreitung (aus asthenischem Affekt) zu klären (RIS‑Justiz RS0102740; Schindler, WK‑StPO § 313 Rz 32 und § 317 Rz 19 f), die mit einer Eventualfrage nach fahrlässiger Körperverletzung (hier richtig: unter besonders gefährlichen Verhältnissen; § 88 Abs 1 und 4 zweiter Fall [§ 81 Abs 1 Z 1] StGB) zu verbinden ist.
Da sich die Nichtigkeit nicht auf die Beantwortung der Hauptfrage erstreckt, hat das Geschworenengericht seiner Entscheidung diesen unberührt gebliebenen Teil des Wahrspruchs (Bejahung der Hauptfrage) mit zugrunde zu legen (§ 349 Abs 2 StPO; RIS‑Justiz RS0101078).
Mit der teilweisen Aufhebung des Wahrspruchs ist die Kassation des Schuld- und Strafausspruchs sowie des Adhäsionserkenntnisses verbunden (§ 349 Abs 1 StPO).
Das weitere, den Wahrspruch zur Hauptfrage unberührt lassende Vorbringen der Nichtigkeitsbeschwerde bedarf damit keiner Erörterung.
Mit ihren Berufungen waren der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf die kassatorische Entscheidung zu verweisen.
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