OGH 2Ob61/14f

OGH2Ob61/14f23.10.2014

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Hofrat Dr. Veith als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher, Dr. Nowotny und Dr. Rassi als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R***** W*****, vertreten durch Dr. Josef Dengg und andere Rechtsanwälte in St. Johann im Pongau, gegen die beklagte Partei Marktgemeinde E*****, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Manfred Buchmüller GmbH in Altenmarkt im Pongau, wegen 7.711,40 EUR und Feststellung (Streitinteresse 2.000 EUR), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom 16. Jänner 2014, GZ 53 R 288/13d‑26, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts St. Johann im Pongau vom 26. August 2013, GZ 6 C 63/11x‑22, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0020OB00061.14F.1023.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 3.191,52 EUR (darin enthalten 304,92 EUR USt und 1.362 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Entscheidungsgründe:

Die damals 68‑jährige Klägerin kam am 6. 12. 2010 gegen 21:00 Uhr auf dem Gehweg neben der Volksschule von E***** zu Sturz und verletzte sich. Vor dem Unfall besuchte die Klägerin eine Turnveranstaltung der Volkshochschule Salzburg, die im Turnsaal der Volksschule stattfand.

Die beklagte Gemeinde überließ der Volkshochschule den Turnsaal gegen ein jährliches Benützungsentgelt von 210 EUR, das die Kosten der Gemeinde nicht deckt. Nach § 20 Salzburger Schulorganisations-Ausführungsgesetz 1995 darf der gesetzliche Schulerhalter Liegenschaften und Räume, die Zwecken einer Schule gewidmet sind, einer, wenn auch nur vorübergehenden, Mitverwendung für andere Zwecke nur zuführen, wenn dadurch die Verwendung für Schulzwecke nicht beeinträchtigt wird.

Die Klägerin war nicht bei der Volkshochschule eingeschrieben, sondern nahm an der Veranstaltung als Begleiterin ihrer Tochter teil, die die Kursleiterin war. Sie zahlte keine Kursgebühr. Die Verantwortlichen der Volkshochschule wussten von der Teilnahme der Klägerin.

Die Räum- und Streupflicht auf dem Gehweg trifft die beklagte Partei als Wegehalterin. Die Gemeinde hat ca 2.260 Einwohner und ein Gemeindegebiet von 3.591 ha. Das gesamte Wegenetz umfasst 41,16 Kilometer. Die Mitarbeiter der beklagten Partei betreuen dabei selbst 11,73 Kilometer (Räumung) beziehungsweise 33,62 Kilometer (Streuung); auch der Winterdienst für die Unfallsstelle wird von den Mitarbeitern selbst verrichtet. Der Rest des Wegenetzes wird durch Dritte betreut und von diesen geräumt und gestreut.

Drei dazu geschulte Gemeindebedienstete besorgen den Winterdienst der beklagten Partei. Für die Räumung und Streuung stehen diesen Mitarbeitern Splitt und Salz zur Verfügung. Der verwendete Streusplitt ist dabei auch mit Salz versetzt. Die Streu- und Räumtätigkeiten der Gemeindebediensteten werden in entsprechenden Formularen aufgezeichnet.

M***** Q***** ist ein langjähriger und erfahrener Mitarbeiter der beklagten Partei und für die Räumung und Streuung der Unfallstelle zuständig. Er überprüft täglich, ob eine Schneeräumung und/oder Salz- oder Splittstreuung notwendig ist und geht dabei immer die selben Plätze ab. Spätestens um 7:00 Uhr kommt er bei der Volksschule und damit bei der Unfallstelle vorbei, damit die entsprechenden Wege noch rechtzeitig vor Schulbeginn schnee- und eisfrei gemacht werden können. Bei Bedarf wird geräumt, gestreut oder beides durchgeführt. Eine Räumung mit dem Traktor ist bei der Unfallstelle nicht möglich. Es handelt es sich um keine problematische Stelle, zumal sie unter einem Vordach liegt und es vorher noch keinen Vorfall gegeben hat. Sie liegt auch direkt neben dem Bauhof, weshalb die Gemeindemitarbeiter öfters am Tag vorbeikommen. Sollte sich die Notwendigkeit einer Nachräumung oder -streuung ergeben, wird diese von den Mitarbeitern der Gemeinde veranlasst.

Auch am 6. 12. 2010 überprüfte M***** Q***** morgens die Unfallstelle. Mangels Niederschlags und Straßenglätte im Stadtinneren wurde keine Notwendigkeit für einen Winterdienst auf der Unfallstelle und den angrenzenden Gehsteigen gesehen. Zum Unfallszeitpunkt war es kalt, es hat nicht geschneit oder geregnet. Die konkreten Temperaturen sind nicht feststellbar. Der Gehweg war bis auf eine nicht sichtbare Eisfläche mit einem Durchmesser von ca einem halben Meter direkt am Hauseck der Volksschule schnee- und eisfrei. Die Klägerin stürzte auf dieser (nicht gestreuten) Eisfläche, auf der noch zumindest drei weitere Kursteilnehmer ausgerutscht sind.

Die Klägerin begehrte von der beklagten Partei den Ersatz ihres mit 7.711,40 EUR bezifferten Schadens sowie die Feststellung ihrer Haftung für alle künftigen Folgen des Sturzes vom 6. 12. 2010. Die Volkshochschule Salzburg habe den Turnsaal von der beklagten Partei gemietet. Von den Schutzwirkungen dieses Vertrags sei die Klägerin als Teilnehmerin eines von der Volkshochschule organisierten Turnkurses erfasst gewesen. Darüber hinaus hafte die beklagte Partei auch deliktisch wegen der Verletzung ihrer Wegehalterverpflichtung beziehungsweise von Verkehrssicherungspflichten. Die beklagte Partei habe es grob fahrlässig unterlassen, die entsprechenden Überprüfungen des Weges auf Eisfreiheit vorzunehmen, obwohl der Weg äußerst stark frequentiert sei.

Die beklagte Partei wandte ein, dass zwischen ihr und der Volkshochschule nur eine Bittleihe und kein Vertragsverhältnis vorliege, weshalb das Klagebegehren nicht auf einen Vertrag mit Schutzwirkungen zugunsten Dritter gestützt werden könne, zumal die Klägerin auch in keinem Vertragsverhältnis zur Volkshochschule stehe. Auch eine deliktische Haftung scheitere, weil die beklagte Partei ihrer Streu- und Räumpflicht sorgfältig und ausreichend nachgekommen sei. Eine Wegehalterhaftung scheitere mangels groben Verschuldens.

Das Erstgericht wies (im zweiten Rechtsgang) das Klagebegehren ab. Es vertrat die Auffassung, dass die Volkshochschule die Turnhalle der beklagten Partei auf Grundlage des § 20 Abs 2 Salzburger Schulorganisations- und Ausführungsgesetz mit Zustimmung der beklagten Partei benütze. Wenngleich die Klägerin in keiner direkten Vertragsbeziehung zur beklagten Partei stehe, komme sie grundsätzlich in den Genuss der Schutzwirkungen des Vertrags, wobei es nicht auf dessen Entgeltlichkeit ankomme. Aufgrund der durchgeführten Kontrollen und der Tatsache, dass die Unfallsstelle ständig im Blick der Mitarbeiter der beklagten Partei liege, sei diese aber den ihr möglichen und zumutbaren Vorkehrungen nachgekommen, weshalb der beklagten Partei daher kein Verschulden vorzuwerfen sei.

Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung im Sinne der Stattgebung des Klagebegehrens ab. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Das Berufungsgericht ging davon aus, dass eine auf § 1319a ABGB gestützte deliktische Haftung der beklagten Partei an der dafür erforderlichen groben Fahrlässigkeit scheitere. Es verneinte das Vorliegen eines Bestandvertrags und eines Prekariums zwischen der beklagten Partei und der Volkshochschule und ging vielmehr von einem Leihvertrag aus. Die beklagte Partei sei aufgrund dieses Vertrags auch zur Räumung und Streuung hinsichtlich der Zugangswege zum Turnsaal verpflichtet. Von diesen vertraglichen Schutz- und Sorgfaltspflichten sei auch die Klägerin als Teilnehmerin der Turnveranstaltung umfasst, wobei es nicht darauf ankomme, ob sie an den Veranstalter ein Entgelt geleistet habe. Der beklagten Partei sei ein Organisations- und Überwachungsverschulden anzulasten, ihr sei der Entlastungsbeweis nach § 1298 ABGB nicht gelungen. Die ordentliche Revision sei zuzulassen, weil vom Höchstgericht ein vergleichbarer Fall zu den Rechtsfolgen eines zwischen einer Gemeinde und einer Volkshochschule geschlossenen Vertrags noch nicht entschieden worden sei und der Entscheidung über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme.

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Revision der beklagten Partei wegen Mangelhaftigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Abänderungsantrag, das Klagebegehren abzuweisen. Hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.

Die Klägerin strebt in ihrer Revisionsbeantwortung die Zurückweisung der Revision, in eventu die Bestätigung der Berufungsentscheidung an.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist. Das Rechtsmittel ist auch berechtigt.

I. Zur vertraglichen Haftung:

1. Es muss nicht abschließend geklärt werden, ob zwischen der beklagten Partei und der Volkshochschule ein Bestandvertrag (wie von der Klägerin behauptet) oder eine Leihe (wie vom Berufungsgericht vertreten) oder eine bloße Bittleihe (wie von der beklagten Partei vorgebracht) vorliegt, weil die Klägerin jedenfalls vom Schutzbereich allfälliger vertraglicher Schutzpflichten der beklagten Partei nicht umfasst ist.

2. Wenn einem Vertragspartner als vertragliche Nebenpflicht eine Schutzpflicht dritten Personen gegenüber, die der Vertragsleistung nahestehen, obliegt, wird dritten Personen die Geltendmachung eines eigenen Schadens aus dem fremden Vertrag zuerkannt (RIS-Justiz RS0037785). Eine Sorgfaltspflicht und Schutzpflicht zugunsten dritter am Vertrag nicht beteiligter Personen wird von Lehre und Rechtsprechung dann bejaht, wenn bei objektiver Auslegung des Vertrags anzunehmen ist, dass eine Sorgfaltspflicht auch in Bezug auf die dritte Person, wenn auch nur der vertragschließenden Partei gegenüber, übernommen wurde (RIS-Justiz RS0017195). Als derart Begünstigte kommen jene in Betracht, deren räumlicher Kontakt mit der vertraglich zu erbringenden Hauptleistung beim Vertragsabschluss voraussehbar war, die also der vertraglichen Leistung nahestehen und an denen der Vertragspartner ein sichtbares eigenes Interesse hat oder hinsichtlich welcher ihm selbst offensichtlich eine Fürsorgepflicht zukommt (vgl RIS-Justiz RS0034594). Der Oberste Gerichtshof hat stets betont, dass zur Hintanhaltung einer uferlosen Ausweitung der Vertragshaftung der Kreis der geschützten Personen eng zu halten ist (2 Ob 70/12a mwN).

Das Berufungsgericht geht davon aus, dass die Klägerin wie alle anderen Kursteilnehmer vom Schutzzweck des Vertrags der beklagten Partei mit der Volkshochschule umfasst sei. Die Klägerin hat allerdings mit Wissen der Verantwortlichen der Volkshochschule bloß als „Begleitperson“ ihrer Tochter (der Kursleiterin) an einer Turnveranstaltung am Unfallstag teilgenommen. Sie war weder angemeldet noch zahlte sie eine Kursgebühr. Im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung bedarf es aber eines besonderen Naheverhältnisses zur Vertragsleistung der beklagten Partei beziehungsweise eines erkennbaren Interesses der Volkshochschule am Schutz des geschädigten Dritten (vgl 2 Ob 50/14p). Die bloße Duldung ihrer Teilnahme durch die Volkshochschule begründete aber weder deren Fürsorgepflicht noch ein besonderes Naheverhältnis der nicht angemeldeten Klägerin zur vertraglichen Hauptleistung (Überlassung des Turnsaals zur Abhaltung eines Turnkurses). Schon aus diesem Grund ist die Klägerin von den Schutzwirkungen des Vertrags zwischen der beklagten Partei und der Volkshochschule nicht umfasst und kann eine vertragliche Haftung der beklagten Partei darauf nicht stützen (vgl 2 Ob 50/14p [„berechtigter“ Ballonfahrer]).

3. Aufgrund der aufgezeigten Umstände scheitert somit eine vertragliche Haftung der beklagten Partei. Auf die in deren Revision gerügte sekundäre Mangelhaftigkeit im Zusammenhang mit der Berechtigung der Klägerin an der Teilnahme des Kurses musste daher ebenso wenig eingegangen werden wie auf die im Zusammenhang mit der Qualifizierung des Vertragsverhältnisses der beklagten Partei zur Volkshochschule geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens.

II. Zur deliktischen Haftung:

1. Eine Haftung nach § 1319a ABGB setzt grobes Verschulden voraus. Unter grober Fahrlässigkeit im Sinne des § 1319a ABGB ist eine auffallende Sorglosigkeit zu verstehen, bei der die gebotene Sorgfalt nach den Umständen des Falles in ungewöhnlicher Weise verletzt wird und der Eintritt des Schadens nicht nur als möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich vorauszusehen ist (RIS-Justiz RS0030171). Weder der beklagten Partei noch ihren für die Organisation und Kontrolle des Winterdienstes verantwortlichen Mitarbeitern ist im Zusammenhang mit dem Unfall ein auffallend sorgloses Verhalten vorzuwerfen, das einem sorgfältigen Menschen nicht passiert. Aus den Feststellungen folgt kein grob fahrlässiges Verhalten der beklagten Partei und ihrer Leute (Mitarbeiter) im Sinne des § 1319a ABGB, sodass auch dieser Haftungsgrund nicht gegeben ist.

2. Auch der sehr allgemein gehaltene Vorwurf der Klägerin, die beklagte Partei habe die sie treffende Verkehrssicherungspflicht verletzt, kann einen Schadenersatzanspruch nicht stützen.

Im Anwendungsbereich der besonderen Verkehrssicherungspflicht des Wegehalters gemäß § 1319a ABGB ist für die Annahme allgemeiner Verkehrssicherungspflichten kein Raum (2 Ob 310/98x; 2 Ob 59/05y; 2 Ob 256/09z; RIS-Justiz RS0111360). Der Unfall der Klägerin hat sich aber auf einem Weg im Sinne dieser Gesetzesstelle ereignet, dessen Halter vom Gesetzgeber, was den Verschuldensgrad anlangt, privilegiert wurde.

3. Sonstige Aspekte deliktischer Haftung hat die Klägerin im Rechtsmittelverfahren nicht geltend gemacht.

III. Ergebnis und Kosten:

Da sich die Klägerin weder auf eine vertragliche noch auf eine deliktische Anspruchsgrundlage stützen kann, ist in Stattgebung der Revision das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO.

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