OGH 3Ob140/14f

OGH3Ob140/14f18.9.2014

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Prückner als Vorsitzenden sowie den Hofrat Univ.‑Prof. Dr. Neumayr, die Hofrätin Dr. Lovrek und die Hofräte Dr. Jensik und Dr. Roch als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M***** H*****, vertreten durch Kueß & Beetz Rechtsanwältepartnerschaft in Wien, gegen die beklagte Partei Dr. H***** P*****, vertreten durch Mag. Markus Lechner, Rechtsanwalt in Lochau, wegen 386.480 EUR sA und Feststellung (Streitwert 10.000 EUR), über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Zwischenurteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 12. Juni 2014, GZ 12 R 175/13p‑18, womit das Urteil des Landesgerichts Korneuburg vom 30. Juli 2013, GZ 5 Cg 18/13i‑14, über die Berufung der klagenden Partei abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0030OB00140.14F.0918.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung

Am 19. 3. 2003 suchte die damals 13‑jährige Klägerin die Ordination des Beklagten auf. Dieser überwies sie mit der Diagnose „Anorexie“ und dem Vermerk „Begutachtung und Therapieempfehlung erbeten“ an die psychiatrische Ambulanz des Krankenhauses Hollabrunn.

Dorthin begab sich die Klägerin in Begleitung ihrer Mutter am Folgetag. Es wurde eine Blutzuckerbestimmung vorgenommen, die einen stark überhöhten Wert ergab. Die Klägerin erhielt Infusionen und wurde in Begleitung eines Notarztes an die Kinder‑ und Jugendabteilung des Krankenhauses Tulln transferiert. Während ihrer dortigen Weiterbehandlung fiel sie in ein diabetisches Koma. Daraufhin wurde sie in die Kinderintensivstation des AKH Wien gebracht. Der Komazustand dauerte etwa drei Wochen lang.

Es bildete sich ein Hirnödem, welches einen Infarkt einer bestimmten Arterie bewirkte, wodurch das Sehzentrum irreversibel zerstört wurde. Die Klägerin ist seither auf beiden Augen blind.

Ärzte des AKH Wien sagten den Eltern der Klägerin, Auslöser für die Erblindung der Klägerin wäre der Diabetes gewesen. Sie äußerten schon im Jahr 2003 mehrmals, „wenn der Beklagte gleich Zucker gemessen hätte, hätte man vielleicht noch etwas machen können“. Nicht festgestellt werden kann, dass die Eltern der Klägerin bei den Ärzten diesbezüglich nachfragten und unmittelbar danach Erkundigungen einholten. Auch die Klägerin erhielt gleichartige Auskünfte, auch sie fragte nicht nach. Zunächst war sie dazu zu schüchtern, auch später holte sie bei den Ärzten keine weiteren Erkundigungen ein.

Nachdem die Klägerin aus dem Krankenhaus entlassen worden war, besprach der Beklagte mit der Klägerin und ihrer Mutter ausführlich die Entlassungsunterlagen des Krankenhauses, erklärte die Grundzüge der medizinischen Zusammenhänge, insbesondere, dass die Ursache der Erblindung der Diabetes sei und es durch den Zucker zu einer Stoffwechselerkrankung gekommen wäre, die das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen habe. Die Klägerin und ihre Mutter verstanden das auch. Nicht thematisiert wurde, dass der Beklagte allenfalls am 19. 3. 2003 eine Blutzuckerbestimmung hätte machen sollen.

Die Klägerin wurde wegen Diabetes sowohl im Krankenhaus Hollabrunn als auch mehrfach im Krankenhaus Tulln behandelt, ebenso auch noch im AKH Wien.

Im Jahr 2006 führte der Vater der Klägerin mit dem Beklagten ein Gespräch über die Ursache ihrer Erblindung. Der Beklagte sagte dem Vater, die Erblindung sei schicksalhaft gewesen, das hätte man nicht verhindern können. Über eine allfällig versäumte Blutzuckerbestimmung am 19. 3. 2003 wurde nicht gesprochen. Der Vater holte auch keine weiteren Erkundigungen ein.

Bis April 2010 war die Klägerin in hausärztlicher Betreuung beim Beklagten. Dann wechselte sie zu einem anderen Hausarzt, der Grund hiefür kann nicht festgestellt werden.

Der Bruder der Klägerin, der bereits 2000 ein allgemeines Krankenpflegerdiplom abgelegt und als Sanitäter beim Bundesheer tätig war, absolvierte 2010 bis 2011 eine Sonderausbildung zum diplomierten psychiatrischen Krankenpfleger. Nach dem Tod des Vaters 2011 befasste er sich ab Oktober 2011 intensiv mit der medizinischen Problematik des Zusammenhangs zwischen Diabetes und Erblindung. Er sprach mit seiner Mutter und seiner Schwester darüber, dass er der Ansicht sei, dass die Erblindung der Klägerin vielleicht doch nicht schicksalhaft gewesen sei. Er konfrontierte auch den Beklagten mit seinem Verdacht und befasste unter anderem die Ärztekammer und die Patientenanwaltschaft. Die Klägerin war und ist in der Lage, den Zusammenhang zwischen dem Diabetes, einer allfälligen Zeitverzögerung bei der Behandlung des Diabetes durch die unterlassene Blutzuckerbestimmung durch den Beklagten und ihrer Erblindung sowie ihre rechtlichen Ansprüche zu verstehen.

Die Klägerin begehrte mit ihrer am 5. 2. 2013 eingebrachten Klage Schadenersatz sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für künftige, aus dem diesem am 19. 3. 2003 unterlaufenen Diagnose‑ und Behandlungsfehler resultierende Schäden. Der Beklagte habe ohne ordentliche Anamnese und ohne auch nur grobe klinische Untersuchung sofort die (falsche) Diagnose Anorexie gestellt und die Klägerin an die Ambulanz des Krankenhauses Hollabrunn überwiesen, ohne auch nur eine Diabeteserkrankung zu vermuten und sofort eine Blutzuckermessung durchzuführen. Der Diagnosefehler des Beklagten sei für die Erblindung der Klägerin kausal. Hätte der Beklagte die Blutzuckermessung vorgenommen, wäre der Diabetes rechtzeitig erkannt worden und eine Behandlung möglich gewesen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit jene Folgeerkrankungen verhindert hätte, die zur Erblindung der Klägerin geführt haben.

Der Beklagte bestritt einen Diagnose‑ oder Behandlungsfehler und wendete ein, selbst eine am 19. 3. 2003 vorgenommene Blutzuckerbestimmung hätte an dem als schicksalhaft zu bewerteten Verlauf nichts geändert. Überdies seien die Ansprüche verjährt.

Das Erstgericht schränkte die Verhandlung auf die Frage der Verjährung ein und wies die Klage ab. Sowohl den Eltern als auch der Klägerin selbst sei schon 2003 der Schaden, der Schädiger und auch die Schadensursache bekannt gewesen. Ihre vorhandenen Kenntnisse hätten ausgereicht, um nähere Erkundigungen einzuholen und auch Klage zu erheben. Die Verjährung für die Schadenersatzklage habe daher bereits 2003 zu laufen begonnen.

Das Berufungsgericht sprach über Berufung der Klägerin mit Zwischenurteil aus, dass die erhobenen Schadenersatzansprüche sowie das Feststellungsbegehren für künftige Schäden nicht verjährt seien. Die ordentliche Revision sei nicht zulässig weil das Berufungsgericht den Grundsätzen höchstgerichtlicher Rechtsprechung gefolgt sei. Der Kenntnisstand der Klägerin und ihrer Eltern darüber, dass das Nichterkennen ihrer Diabeteserkrankung durch den Beklagten am 19. 3. 2003 kausal für ihre Erblindung sein könnte, sei nie über bloße Mutmaßungen hinausgegangen. Ein hinreichend gesicherter Befund, dass das Augenlicht der Klägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit gerettet werden hätte können, wenn der Beklagte eine durch die Angaben der Klägerin oder ihrer Mutter indizierte Blutzuckermessung vorgenommen und dadurch die Diabeteserkrankung einen Tag früher erkannt worden wäre, lasse sich den festgestellten Aussagen der Ärzte des AKH Wien im Jahr 2003 nicht entnehmen. Konkrete Vorwürfe gegen den Beklagten seien erst im November 2011 erhoben worden, als der Bruder der Klägerin sich mit der Sache befasst habe. Ab diesem Zeitpunkt habe erst die Verjährung begonnen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Beklagten, mit der er die Wiederherstellung des klageabweisenden Ersturteils anstrebt, ist mangels erheblicher Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

Die dreijährige Verjährungsfrist nach § 1489 ABGB beginnt mit dem Zeitpunkt zu laufen, in dem der Ersatzberechtigte sowohl den Schaden als auch den Ersatzpflichtigen soweit kennt, dass eine Klage mit Aussicht auf Erfolg erhoben werden kann (RIS‑Justiz RS0034524; vgl auch RS0034374). Die Kenntnis muss dabei den ganzen anspruchsbegründenden Sachverhalt umfassen, insbesondere auch die Kenntnis des Ursachenzusammenhangs zwischen dem Schaden und einem bestimmten, dem Schädiger anzulastenden Verhalten, in Fällen der Verschuldenshaftung daher auch jene Umstände, aus denen sich das Verschulden des Schädigers ergibt (RIS‑Justiz RS0034951 [T1, T2, T4 bis T7]). Der anspruchsbegründende Sachverhalt muss dem Geschädigten zwar nicht in allen Einzelheiten, aber doch soweit bekannt sein, dass er in der Lage ist, das zur Begründung seines Anspruchs erforderliche Sachvorbringen konkret zu erstatten (RIS‑Justiz RS0034366, RS0034524). Bloße Mutmaßungen über die angeführten Umstände genügen hingegen nicht (4 Ob 144/11x mwN; RIS‑Justiz RS0034524 [T6, T18]). Hat der Geschädigte als Laie keinen Einblick in die für das Verschulden maßgeblichen Umstände, so beginnt die Verjährung nicht zu laufen. Die bloße Möglichkeit der Ermittlung einschlägiger Tatsachen vermag ihr Bekanntsein nicht zu ersetzen (RIS‑Justiz RS0034603).

Der Geschädigte darf sich allerdings nicht einfach passiv verhalten und es darauf ankommen lassen, dass er von der Person des Ersatzpflichtigen eines Tages zufällig Kenntnis erhält. Wenn er die für die erfolgversprechende Anspruchsverfolgung notwendigen Voraussetzungen ohne nennenswerte Mühe in Erfahrung bringen kann, gilt die Kenntnisnahme schon als in dem Zeitpunkt erlangt, in welchem sie ihm bei angemessener Erkundigung zuteil geworden wäre (RIS‑Justiz RS0034327; vgl auch RS0034335). Dabei ist auf die Umstände des konkreten Falls abzustellen (RIS‑Justiz RS0113916). Die Erkundigungspflicht des Geschädigten, die sich auf die Voraussetzungen einer erfolgversprechenden Anspruchsverfolgung schlechthin und nicht nur auf die Person des Schädigers erstreckt, darf dabei nicht überspannt werden (RIS‑Justiz RS0034327). Eine bloße Mutmaßung kann nicht mit der tatsächlichen Kenntnis der relevanten Umstände gleichgesetzt werden. Die subjektive „Überzeugung“ vom Vorliegen eines Sorgfaltsverstoßes setzt die Verjährungsfrist für sich allein noch nicht in Gang. Denn die bloße „Überzeugung“ vom Vorliegen einer bestimmten Schadensursache ermöglicht dem Kläger noch nicht, unter Bedachtnahme auf seine Wahrheits‑ und Vollständigkeitspflicht (§ 178 Abs 1 ZPO) ein konkretes Tatsachenvorbringen zu den relevanten Umständen zu erstatten (4 Ob 144/11x mwN).

Die auf diesen Grundsätzen der Rechtsprechung basierende Beurteilung des Berufungsgerichts wäre vom Obersten Gerichtshof im Hinblick auf ihre Einzelfallbezogenheit nur dann überprüfbar, wenn man in der rechtlichen Beurteilung des Berufungsgerichts eine aus Gründen der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung sehen muss (RIS‑Justiz RS0044088).

Eine derartige vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung liegt entgegen der vom Revisonswerber vorgetragenen Argumentation nicht vor. Mögen auch die vom Erstgericht festgestellten Äußerungen der behandelten Ärzte gegenüber der Klägerin und ihren Eltern den Ursachenzusammenhang zwischen der unterlassenen Blutuntersuchung am 19. 3. 2003 und dem späteren Hirnödem mit nachfolgender Zerstörung des Sehzentrums nahelegen, ist daraus jedoch ‑ zumindest für einen medizinischen Laien ‑ nicht erkennbar, dass dem Beklagten ein ärztliches Fehlverhalten im Sinne einer Fehldiagnose oder pflichtwidrig unterlassenen Untersuchung anzulasten wäre. Anhaltspunkte für ein derartiges medizinisches Fehlverhalten wurden nicht festgestellt. Die Ansicht des Berufungsgerichts, dass die Klägerin (ihre Eltern) daher keine Erkundigungspflicht traf und die Voraussetzungen für eine zumutbare Klageführung und damit der Beginn der Verjährungsfrist für die nunmehr erhobene Schadenersatzklage nicht gegeben waren, ist daher durchaus vertretbar. Bloße Mutmaßungen sind der tatsächlichen Kenntnis der relevanten Umstände nicht gleichzusetzen, weshalb auch der allfälligen subjektiven „Überzeugung“ des verstorbenen Vaters im Sinn der referierten Rechtsprechung keine Bedeutung zukommt.

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