OGH 13Os23/14b

OGH13Os23/14b5.6.2014

Der Oberste Gerichtshof hat am 5. Juni 2014 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Kotanko als Schriftführerin in der Strafsache gegen Rene H***** und eine Angeklagte wegen des Verbrechens der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1, 3 Z 1 und Abs 4 erster Fall StGB sowie weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Angeklagten Melissa U***** sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Eisenstadt als Schöffengericht vom 23. August 2013, GZ 8 Hv 59/13w‑135, und die Beschwerden der Angeklagten Melissa U***** gegen den zugleich ergangenen Beschluss auf Widerruf bedingter Strafnachsichten sowie den Beschluss des Landesgerichts Eisenstadt vom 16. Jänner 2014, GZ 8 Hv 59/13w‑156, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufungen und die Beschwerde gegen den Beschluss auf Widerruf bedingter Strafnachsichten werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

Der Angeklagten Melissa U***** fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Melissa U***** der Verbrechen der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1, 3 Z 1 und Abs 4 erster Fall StGB (A) sowie des schweren gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2, 148 erster Fall StGB (B) schuldig erkannt.

Danach hat sie in L***** und an anderen Orten

(A) vom 6. August 2012 bis zum 15. September 2012 gegen ihre am 21. Juli 2012 geborene, sohin unmündige, Tochter Marilyn U***** längere Zeit hindurch fortgesetzt Gewalt ausgeübt, indem sie ihr in zahlreichen Angriffen vorsätzlich, teils absichtlich, mittels stumpfer Gewalteinwirkung (US 16 bis 19) schwere Körperverletzungen, nämlich Brüche mehrerer Rippen, des rechten Schulterblattes, des Schlüsselbeins, beider Unterarme und Unterschenkel sowie des linken Oberschenkels, einen Y‑förmigen Schädelbruch im Bereich des linken Scheitelbeins mit Weichteilschwellung über dem Bruchspalt, eine mit Asymmetrie des Schädels und des Gehirns verbundene linksseitige Abplattung des Schädels, eine Einblutung in den Scheitelhirnlappen, mit Kompression abführender Blutgefäße verbundene Einblutungen in beide Stirnlappen und eine ausgedehnte Blutunterlaufung an der Rückseite der rechten Ohrmuschel, zufügte, wobei sie die Tat auf qualvolle Weise beging, weiters

(B) gewerbsmäßig mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz in mehreren Angriffen andere durch Täuschung über Tatsachen zur Leistung von Zahlungen aus dem Titel der staatlichen Mindestsicherung verleitet, welche die Länder Steiermark und Burgenland mit einem insgesamt 3.000 Euro übersteigenden Betrag am Vermögen schädigten, nämlich

1) vom April 2011 bis zum 31. August 2012 eine Sachbearbeiterin der Bezirkshauptmannschaft F***** durch die wahrheitswidrige Behauptung, nicht mit einem Lebensgefährten oder einer anderen erwachsenen Person im gemeinsamen Haushalt zu leben, und das Unterlassen der Anzeige eines Wohnsitzwechsels zur Auszahlung von zumindest rund 7.200 Euro und

2) am 15. Mai 2012 und am 27. Mai 2012 einen Sachbearbeiter der Bezirkshauptmannschaft G***** durch die wahrheitswidrige Behauptung, nicht mit einem Lebensgefährten oder einer anderen erwachsenen Person im gemeinsamen Haushalt zu leben, sowie das Unterlassen der Anzeige des Bezugs von Wochengeld und von Zahlungen aus der staatlichen Mindestsicherung durch die Bezirkshauptmannschaft F***** zur Auszahlung von mindestens 39 Euro.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen aus Z 3, 4, „9“ und 10 des § 281 Abs 1 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten Melissa U***** geht fehl.

Die Verfahrensrüge (Z 3) behauptet die Verletzung oder Missachtung einer Bestimmung, deren Einhaltung das Gesetz bei sonstiger Nichtigkeit anordnet, nicht und orientiert sich solcherart nicht an den Kriterien des herangezogenen Nichtigkeitsgrundes.

Zum Einwand, bestimmte Urkunden, auf die sich das Erstgericht im Rahmen der Beweiswürdigung stützt, seien in der Hauptverhandlung nicht vorgekommen (der Sache nach Z 5 vierter Fall), genügt der Hinweis auf das Protokoll über die Hauptverhandlung (ON 134), wonach der Akteninhalt (mit Ausnahme ausdrücklich genannter Aktenteile) mit Zustimmung der Beteiligten des Verfahrens vorgetragen (§ 252 Abs 2a StPO) worden ist (ON 134 S 23 f).

Der Antrag, das Protokoll über die Hauptverhandlung dahin zu berichtigen, dass der Akteninhalt als vorgetragen „gilt“, kann auf sich beruhen, weil bei ‑ hier nicht bestrittener ‑ Zustimmung der Beschwerdeführerin zu einem zusammenfassenden Vortrag des Akteninhalts durch die Vorsitzende die Art, wie ein aktenkundiges Beweismittel in der Hauptverhandlung vorgekommen ist (§ 258 Abs 1 erster Satz StPO), einer nachträglichen Kritik aus § 281 Abs 1 Z 5 StPO entzogen ist (RIS‑Justiz RS0111533 [insbesondere T 11]).

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Landesgerichts Eisenstadt vom 16. Jänner 2014, mit dem der Berichtigungsantrag abgewiesen wurde (ON 156), ist somit durch die Entscheidung über die Nichtigkeitsbeschwerde miterledigt (14 Os 10/10t, SSt 2010/24; RIS‑Justiz RS0126057).

Ergänzt sei, dass die dem (abweisenden) Beschluss vom 16. Jänner 2014 zu Grunde liegende Erhebung, nämlich der Vergleich des schriftlichen Protokolls über die Hauptverhandlung (ON 134) mit der diesbezüglichen Tonaufnahme (ON 156 S 2), jedenfalls eine hinreichende Entscheidungsbasis darstellt ( Danek , WK‑StPO § 271 Rz 50; vgl auch 14 Os 159/08a, 160/08y, EvBl 2009/57, 376).

Entgegen der weiteren Verfahrensrüge (Z 4) wies das Erstgericht den Antrag auf Vernehmung des Gert B***** zum Beweis dafür, dass „der Erstangeklagte von Herrn B***** einerseits Drogen erhalten hat, andererseits Gert B***** dem Erstangeklagten Massagetechniken gezeigt hat, wie man ein Kind beruhigen kann“ (ON 134 S 22), zu Recht ab (ON 134 S 23), weil der Beweisantrag keinen Konnex zu schuld‑ oder subsumtionsrelevanten Umständen erkennen ließ (RIS‑Justiz RS0118444, siehe auch § 55 Abs 2 Z 1 und 2 StPO).

Das den Antrag ergänzende Beschwerdevorbringen hat mit Blick auf das aus dem Wesen des herangezogenen Nichtigkeitsgrundes resultierende Neuerungsverbot auf sich zu beruhen.

Indem die Subsumtionsrüge (Z 10) die Rechtsbehauptung, das Tatbestandselement der „längeren Zeit“ (§ 107b Abs 1 StGB) sei erst ab einem Zeitraum von mehreren Monaten erfüllt, nicht methodisch vertretbar aus dem Gesetz ableitet, verfehlt sie die prozessordnungskonforme Darstellung des herangezogenen Nichtigkeitsgrundes (RIS‑Justiz RS0116569).

Unter dem Aspekt des § 290 Abs 1 zweiter Satz StPO sei hinzugefügt, dass die Frage nach der Verwirklichung des angesprochenen Tatbestandselements nicht abstrakt zu beantworten, sondern bei der Beurteilung der Tatbestandsmäßigkeit nach § 107b StGB insgesamt stets eine einzelfallbezogene Gesamtbetrachtung der Faktoren Dauer, Dichte und Intensität der Gewaltausübung vorzunehmen ist, womit eine besonders starke Ausprägung eines dieser Faktoren aus dem Blickwinkel der Subsumtion eine Reduktion des Gewichts der beiden übrigen Faktoren zulässt (13 Os 143/11w, SSt 2011/69; RIS‑Justiz RS0127377).

Ausgehend von diesen Prüfungskriterien steht bei hier festgestellter Dauer der Gewaltausübung von rund sechs Wochen, einer Dichte von zumindest zwei Angriffen pro Woche und einer Gewaltintensität, die zu Knochenbrüchen am gesamten Körper (einschließlich des Schädels) führte (US 16 bis 18), die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der „längeren Zeit“ außer Frage (vgl Schwaighofer in WK² StGB § 107b Rz 26, Winkler SbgK § 107b Rz 104).

Die Behauptung, das Erstgericht stelle die Dauer der Gewaltausübung nicht fest, entfernt sich von den Urteilskonstatierungen (US 16) und verfehlt solcherart den Bezugspunkt materieller Nichtigkeit (RIS‑Justiz RS0099810).

Auch der Einwand fehlender Feststellungen zum auf fortgesetzte Gewaltausübung gerichteten Vorsatz wird nicht auf der Basis des Urteilssachverhalts entwickelt (siehe US 22 f).

Mit dem Vorbringen der Rechtsrüge (Z 9 [gemeint] lit a), der Schuldspruch B/1 sei zu Unrecht erfolgt, weil § 42 des steiermärkischen Sozialhilfegesetzes (der eine Verwaltungsstrafbestimmung enthält) § 146 StGB aus dem Grund der Spezialität verdränge, unterlässt die Beschwerde einmal mehr die unter dem Aspekt des herangezogenen Nichtigkeitsgrundes gebotene methodisch vertretbare Argumentation aus dem Gesetz.

Im Hinblick auf ein allfälliges amtswegiges Vorgehen (§ 290 Abs 1 zweiter Satz StPO) sei festgehalten, dass eine Verwaltungsstrafbestimmung, die in einem Anwendungsbereich mit Betrug konkurriert, nach verfassungsrechtlichen Grundsätzen (näher Hartig , Strafbarkeit des Gebrauchs verfälschter Anwohnerparkkarten als Betrug? JBl 1997, 23 mwN) nur dann den Betrugstatbestand verdrängen kann, wenn sie (wie Betrug) dem Bundesrecht angehört und ein Fall der (hier in verschiedenen Formen möglichen) Scheinkonkurrenz vorliegt oder wenn sie zwar aus einem Landesgesetz stammt, aber ‑ was selten vorkommt ‑ nach Bundesrecht, das hiefür allein maßgeblich ist, Subsidiarität des Betrugs anzunehmen ist. In anderen Fällen wird Betrug durch landesgesetzliche Bestimmungen nicht zurückgedrängt (vgl auch SSt 58/39). Die Maßgeblichkeit der Herkunft konkurrierender Normen von unterschiedlichen Gesetzgebern (Bund/Land) blieb in der insoweit vereinzelten Entscheidung 14 Os 116, 117/95, EvBl 1995/177, wonach das Tiroler KurzparkzonenabgabeG iVm der Innsbrucker KurzparkzonenabgabeV als speziellere Norm dem Betrugstatbestand vorgehen soll, unbeachtet (zum Ganzen eingehend Kirchbacher in WK² StGB § 146 Rz 191).

Hinzu kommt, dass das Scheinkonkurrenzverhältnis der Spezialität nur dann vorliegt, wenn zwei Deliktstypen zueinander in der Relation von Gattung und Art stehen, wenn also ein Deliktstypus sämtliche Merkmale des anderen, darüber hinaus aber noch zusätzliche Merkmale enthält (11 Os 46/86, SSt 57/31; 13 Os 134/10w, SSt 2011/27; RIS‑Justiz RS0091146), was im Verhältnis der hier in Rede stehenden Tatbestände zueinander gerade nicht der Fall ist.

Mit dem Hinweis, dass § 42 des steiermärkischen Sozialhilfegesetzes keine Subsidiaritätsklausel in Bezug auf gerichtlich strafbare Tatbestände enthält, wird die Rüge ‑ entgegen § 282 StPO ‑ nicht zu Gunsten der Beschwerdeführerin ausgeführt.

Der vom Wegfall des Schuldspruchs B/1 ausgehende Einwand fehlender Gewerbsmäßigkeit (der Sache nach Z 10) hat mangels Zutreffens seiner Prämisse auf sich zu beruhen.

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher gemäß § 285d Abs 1 StPO schon bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Berufungen und die Beschwerde gegen den Widerruf bedingter Strafnachsichten kommt demnach dem Oberlandesgericht zu (§§ 285i, 498 Abs 3 letzter Satz StPO).

Der Kostenausspruch beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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