OGH 14Os145/13z

OGH14Os145/13z5.11.2013

Der Oberste Gerichtshof hat am 5. November 2013 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Marek, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Fürnkranz in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Buchner als Schriftführerin in der Auslieferungssache des Alexandr G*****, AZ 311 HR 84/11b des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag der betroffenen Person auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

In Stattgebung des Antrags auf Erneuerung des Strafverfahrens werden der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 10. September 2013, AZ 22 Bs 265/13a, soweit damit der Beschwerde der betroffenen Person gegen Punkt 1/a des Beschlusses des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 10. Juli 2013, GZ 311 HR 84/11b‑72, nicht Folge gegeben wurde, und der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 10. Juli 2013, GZ 311 HR 84/11b‑72, in seinem Punkt 1/a aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung an das Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.

Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Alexandr G***** war mit Urteil des Mezhanski Bezirksgerichts der Stadt Moskau vom 4. April 2011, Fall Nr 1‑26/2011, wegen der am 20. und 21. Oktober 2008 begangenen Straftat des Betrugs nach Art 159 Z 4 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation in Abwesenheit schuldig erkannt und bei einem bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe reichenden Strafrahmen zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und zu einer Geldstrafe verurteilt worden (ON 66 S 57 ff). Diese Entscheidung erwuchs am 15. Juni 2011 zufolge des Berufungsbeschlusses des Stadtgerichts Moskau (Verfahren 22‑0849/11) in Rechtskraft (ON 66 S 151 ff). Alexandr G***** befand sich zu diesem Verfahren vom 25. März 2009 bis 13. April 2010 in Untersuchungshaft (ON 66 S 103).

Mit Beschluss vom 10. Juli 2013, GZ 311 Hr 84/11b‑72, erklärte der Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien die von der Russischen Föderation mit Note der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation vom 6. Mai 2013, Nr 81/3‑238‑11 (ON 62), begehrte Auslieferung des Alexandr G***** zur Vollstreckung des Strafrests von 3 Jahren 11 Monaten und 11 Tagen (ON 66 S 103), der über ihn mit dem zuvor genannten Urteil verhängten fünfjährigen Freiheitsstrafe ( Punkt 1/a ) und zur Strafverfolgung wegen der in der Anklage der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation der Stadt St. Petersburg vom 23. August 2010 (ON 66 S 173 ff) und „im Untersuchungshaftbefehl vom 6. Dezember 2010 zu Fall Nr 3/1‑219/10 des Gerichts vom Bezirk Wassileostrowskij der Stadt St. Petersburg“ (Übersetzung ON 66 S 197 ff) beschriebenen Straftaten ( Punkt 1/b ) jeweils für (nicht un‑)zulässig und setzte die Auslieferungshaft aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß §§ 173 Abs 1 und 2 Z 1 StPO iVm § 29 ARHG fort ( Punkt 2 ).

Mit Beschluss vom 10. September 2013, AZ 22 Bs 265/13a, gab das Oberlandesgericht Wien der gegen die Auslieferung ergriffenen Beschwerde des Alexandr G***** nicht Folge.

Im Zusammenhang mit der Auslieferung zur Strafverfolgung ging das Beschwerdegericht davon aus, dass diese deshalb begehrt wird, weil

„I.) G***** in der Zeit vom 1. Jänner 2007 bis 1. April 2007 Antonowa G.A. unter Ausnutzung seiner Funktion als Defakto‑Vorsitzender der Bankengruppe, über die Echtheit von Swift‑Mitteilungen getäuscht habe, aus welchen hervorgegangen sei, dass auf seinen persönlichen Konten, welche er bei der O***** gehabt habe, Geldmittel von der ausländischen Bank 'B*****' (Republik Serbien) in Höhe von 5.000.000.000 Rubel eingegangen seien, und sie angewiesen, sie solle die Verbuchung der genannten Geldmittel auf seinem Bankkonto bei der O***** vornehmen, was diese daraufhin getan habe.

II.) G***** mit dem Ziel, Geldmittel in besonders großem Umfang zu entwenden, unter Ausnutzung seiner Position als Defakto‑Vorsitzender der Bankengruppe, Antonowa G.A., die Hauptbuchhalterin der OA***** und Gawriloaw A.M., den Leiter der Kassenabteilung der O*****, getäuscht habe, indem er ihnen mitgeteilt habe, dass es notwendig sei, ihm persönlich Geldmittel aus dem Kassensafe der O***** vorübergehend auszuhändigen, um das Geld in weiterer Folge aus privaten Mitteln, die auf der Grundlage von gefälschten Dokumenten auf seinem Konto bei der O***** gutgeschrieben worden seien, zurück zu überweisen. Von Mai 2007 bis Oktober 2008 seien ihm sohin 2,5 Milliarden Rubel übergeben worden.

III.) G***** Lebedewa T.W., der Vorstandsvorsitzenden der OA*****, jedenfalls vor dem 23. Juli 2008 in St. Petersburg angeboten habe, Überweisungen zu tätigen, bei welchem die vom Komitee für Finanzen des Leningrader Gebiets bei der OA***** platzierten Geldmittel im Rahmen eines Bank-an-Bankkredits an die O***** zu überweisen seien, mit dem Ziel der Entwendung derselben durch ihn, gegen eine finanzielle Vergütung und die Garantie, ihre Funktion als Vorstandsvorsitzende der OA***** behalten zu können. In weiterer Folge habe Lebedewa T.W. von 23. Juli 2008 bis 3. September 2008 insgesamt einen Betrag von 1.880.000.000 Rubel in Form eines Bankkredits an die O***** überwiesen, wissend, dass die Geldmittel von G***** entwendet würden, und seien die genannten Gelder von G***** entwendet worden.“

Dieses Verhalten sei als Straftat des Betrugs nach Art 159 Z 4 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation und nach österreichischem Recht als Verbrechen des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 erster Fall und Abs 3 StGB sowie der Untreue nach §§ 12 zweiter Fall, 153 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall StGB (BS 7) zu qualifizieren.

Hinsichtlich des Abwesenheitsurteils ging das Beschwerdegericht davon aus, dass Alexandr G***** zufolge der Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation (Übersetzung ON 66 S 9), sie hafte dafür, dass gemäß Art 3 des zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 17. März 1978 dem Betroffenen das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren gewährleistet werde, in dem die Verteidigungsrechte gewahrt würden, keine ausreichend konkrete Befürchtung vorliege, Genanntem werde in seinem Heimatland ein Art 6 MRK widersprechendes Verfahren bevorstehen (BS 7 f iVm 2).

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich der Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens (§ 363a Abs 1 StPO) des Alexandr G*****, der eine Verletzung von Art 2, 3, 6 und 8 MRK behauptet.

Zum berechtigten Teil des Erneuerungsantrags:

Rechtsgrundlagen für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Auslieferung zur Vollstreckung einer in einem Abwesenheitsurteil verhängten Strafe nach Russland sind die Bestimmungen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens ergänzt durch Art 3 Abs 1 des Zweiten Zusatzprotokolls (BGBl Nr 297/1983). Letztere Bestimmung sieht einen Hinderungsgrund für die Auslieferung zur Vollstreckung einer in einem Abwesenheitsurteil verhängten Strafe vor, wenn „in dem diesem Urteil vorangegangenen Verfahren nicht die Mindestrechte der Verteidigung gewahrt worden sind, die anerkanntermaßen jedem einer strafbaren Handlung Beschuldigten zustehen“, und verweist damit auf den die Einhaltung der Mindestverteidigungsrechte gewährleistenden Schutzbereich des Art 6 Abs 1 MRK (vgl 15 Os 117/07f = EvBl 2008/73, 371 = SSt 2008/3). Wurde der ‑ durch Art 6 Abs 1 MRK grundrechtlich gewährleistete ‑ Mindeststandard der Verteidigung in dem in Abwesenheit des Verurteilten durchgeführten Strafverfahren nicht eingehalten, so ist die Auslieferung nach Art 3 Abs 1 zweiter Satz des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungs-übereinkommen nur dann zulässig, wenn „die ersuchende Vertragspartei eine als ausreichend erachtete Zusicherung gibt, der Person, um deren Auslieferung ersucht wird, das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren zu gewährleisten, in dem die Rechte der Verteidigung gewahrt werden“.

Die der Zulässigerklärung der Auslieferung zugrunde gelegte Zusicherung der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation ist keine als ausreichend zu erachtende im Sinn des Art 3 Abs 1 zweiter Satz des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungs-übereinkommen. Ihr ist zwar eine allgemeine Absichtserklärung menschenrechtskonformen Vorgehens zu entnehmen, nicht aber, ob im ersuchenden Staat eine effektive Möglichkeit der Verfahrenswiederholung auf Basis geltender Gesetze für den Betroffenen tatsächlich besteht. Dies wäre dann der Fall, wenn eine Rechtsmittelbelehrung ergeht und dem Betroffenen ein einfacher Rechtsbehelf zur Verfügung steht, der keine besondere Darlegungs‑ bzw Beweislast verlangt und zur Verfahrenswiederholung führt ( Murschetz , Auslieferung und Europäischer Haftbefehl, 205; vgl auch § 11 Abs 1 Z 4 EU‑JZG, der für den Bereich der Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht bloß eine abstrakte Zusicherung des Rechts auf Verfahrenserneuerung, sondern eine ‑ im Einklang mit den Verfahrensvorschriften des ersuchenden Staats stehende ‑ Bescheinigung verlangt, die sowohl die Möglichkeit der Neudurchführung der Verhandlung als auch eine Rechtsmittelbelehrung und die Garantie umfasst, dass für den Betroffenen eine neuerliche Prüfung des Sachverhalts, auch unter Berücksichtigung neuer Beweise, in seiner Anwesenheit und eine Aufhebung der Entscheidung zu erreichen ist, und dass er von den dafür bestehenden Fristen in Kenntnis gesetzt werden wird).

Demzufolge beinhaltet die gegenständliche Erklärung keine die effektive Gewährleistung eines entsprechenden Verfahrenserneuerungsrechts beinhaltende Zusicherung (vgl 15 Os 117/07f = EvBl 2008/73, 371 = SSt 2008/3; vgl auch Murschetz , Aktuelles zur Auslieferung nach einem Abwesenheitsurteil, JBl 2009, 29; Lagodny in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 § 73 IRG Rz 70 ff), womit die Gerichte diese Erklärung zu Unrecht als ausreichend im Sinn des Art 3 Abs 1 zweiter Satz des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen angesehen haben (wobei sich im Übrigen der zweite Senat des deutschen Bundesverfassungsgerichts in der vom Oberlandesgericht [BS 8] ins Treffen geführten Entscheidung vom 22. Oktober 2008, 2 BvR 2028/08, mit der hier gegenständlichen Problematik gar nicht auseinander zu setzen hatte).

Angesichts dessen hätte aber die Erklärung der (nicht Un‑)Zulässigkeit der Auslieferung einer Überprüfung bedurft, ob entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers dessen Verurteilung in Abwesenheit im Rahmen eines fairen Verfahrens erfolgt ist.

Denn nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist die ‑ nicht schon als solche konventionswidrige ‑ Durchführung eines Strafverfahrens in Abwesenheit des Beschuldigten ‑ sofern diesem nicht mit hinreichender Sicherheit die Möglichkeit rechtlich gewährleistet ist, eine neuerliche Verhandlung in seiner Anwesenheit zu erreichen ‑ mit dem durch Art 6 (Abs 1) MRK garantierten Recht auf ein faires Verfahren nur vereinbar, wenn der Beschuldigte in unmissverständlicher Weise auf sein Recht auf Teilnahme an der Hauptverhandlung verzichtet hat oder ‑ eindeutige ‑ konkrete Anhaltspunkte für die Absicht des Beschuldigten, sich dem Strafverfahren überhaupt durch Flucht zu entziehen, vorliegen, wobei ein wirksamer Verzicht auf das Anwesenheitsrecht die gerichtliche Verständigung des Beschuldigten von dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren ‑ sowie, soweit möglich, auch vom Termin der Hauptverhandlung ‑ voraussetzt (vgl 15 Os 117/07f = EvBl 2008/73, 371 = SSt 2008/3; Göth‑Flemmich in WK 2 ARHG § 19 Rz 16; Murschetz , Aktuelles zur Auslieferung nach einem Abwesenheitsurteil JBl 2009, 29).

Die Zulässigerklärung einer Auslieferung mit Beziehung auf ein im ersuchenden Staat durchgeführtes Strafverfahren, das den von Art 6 Abs 1 MRK geforderten Verfahrensgarantien nicht entsprochen hat („flagrant denial of justice“), verstößt (ihrerseits) gegen Art 6 Abs 1 MRK (erneut 15 Os 117/07f = EvBl 2008/73, 371 = SSt 2008/3).

Da die Gerichte die Auslieferung auf Basis der unzureichenden Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation für (nicht un‑)zulässig erklärt haben und deshalb die Konventionskonformität des in Russland geführten Abwesenheitsverfahrens überhaupt nicht geprüft haben, wurde der Betroffene in seinem Grundrecht auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 MRK verletzt.

In Stattgebung des Antrags waren somit gemäß § 363b Abs 3 StPO in nichtöffentlicher Beratung diese Beschlüsse in dem im Spruch ersichtlichen Umfang aufzuheben und die Auslieferungssache insoweit an das Landesgericht für Strafsachen Wien zu neuer Entscheidung zu verweisen.

Zum unberechtigten Teil des Erneuerungsantrags:

Für einen ‑ nicht auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützten -Erneuerungsantrag, bei dem es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt, gelten alle gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK sinngemäß (RIS‑Justiz RS0122737). Demnach hat ‑ weil die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur dann anzuwenden ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein ( Grabenwarter/Pabel EMRK 5 § 13 Rz 16) ‑ auch ein Erneuerungsantrag gemäß § 363a StPO deutlich und bestimmt darzulegen, worin eine (vom angerufenen Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende) Grundrechtsverletzung im Sinn des § 363a Abs 1 StPO zu erblicken sei (RIS‑Justiz RS0122737 [T17]) und sich mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung in allen relevanten Punkten auseinanderzusetzen (RIS‑Justiz RS0124359). Diesen Anforderungen wird der Erneuerungsantrag, soweit er sich gegen die Auslieferung zur Strafverfolgung wendet, nicht gerecht.

Zum behaupteten Verstoß gegen Art 2 und 3 MRK ist anzumerken, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in jenen Fällen, in denen ein Beschwerdeführer hinsichtlich einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme sowohl eine Verletzung des Art 3 MRK als auch eine solche nach Art 2 MRK rügt, regelmäßig nur Art 3 MRK prüft, weil sich der jeweilige Lebenssachverhalt und die zugrunde liegenden Gefährdungen nicht voneinander trennen lassen (vgl 13 Os 150/07v).

Eine Auslieferung kann für den Aufenthaltsstaat eine Konventionsverletzung bedeuten, wenn die betroffene Person im Zielstaat einer Strafe oder Behandlung ausgesetzt wird, welche die Schwelle zur unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung erreicht und daher mit Art 3 MRK unvereinbar ist (vgl insbesondere die Leitentscheidung des EGMR 7. Juli 1989, Nr 14038/88, Soering gegen Vereinigtes Königreich, EuGRZ 1989, 314; weitere Nachweise bei Göth‑Flemmich in WK2 ARHG § 19 Rz 7).

Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat der Beschwerdeführer die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, ernsthaften (gewichtigen) Gefahr schlüssig nachzuweisen, wobei der Nachweis hinreichend konkret sein muss. Die bloße Möglichkeit drohender Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung reicht nicht aus. Vielmehr muss unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ein reales, an Hand stichhaltiger Gründe belegbares Risiko bestehen, die betroffene Person würde im Empfängerstaat der tatsächlichen Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein (Göth‑Flemmich in WK2 ARHG § 19 Rz 8 ff mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EGMR; Zimmermann in Grote/Marauhn, EMRK/GG Kap 27 Rz 53; 11 Os 46/08m).

Grundsätzlich ergibt sich kein Hinderungsgrund für die Auslieferung, wenn den Betroffenen im Verfolgerstaat ein Strafverfahren mit Untersuchungshaft erwartet oder wenn er wegen einer strafrechtlichen Verurteilung in Haft genommen werden soll, solange die Umstände der Haft selbst nicht gegen Art 3 MRK verstoßen (Villiger, EMRK² Art 3 Rz 301).

Bei Abschiebung in einen Staat, der Vertragspartei der MRK ist, ist die Verantwortlichkeit des ausliefernden Staats eingeschränkt, wenn der Betroffene im Zielland rechtzeitig Rechtsschutz erlangen kann (vgl Göth‑Flemmich in WK2 ARHG § 19 Rz 10; zum Ganzen 14 Os 128/12y).

Vorliegend haben die Gerichte die konkrete Alexandr G***** treffende Gefahr einer gegen Art 3 MRK verstoßenden Behandlung im Zielstaat unter Berücksichtigung seiner Angaben verneint.

Indem Alexandr G***** die Behauptung einer ihn im Besonderen treffenden Gefahr bloß aufrecht hält und erneut einwendet, es wäre auf bestehende Erkrankungen während seiner Haft in Russland keine ausreichende Rücksicht genommen worden, es sei keine ausreichende medizinische Versorgung gewährleistet und ihm drohe in Russland ein Art 6 MRK widersprechendes Verfahren, zeigt er nach Maßgabe der zuvor dargestellten Kriterien keine Fehlbeurteilung in den bekämpften Beschlüssen auf. Dies gelingt ihm auch nicht mit dem Hinweis auf Medienberichte, wonach ein russischer Anwalt während der Untersuchungshaft verstorben sei. Denn der Nachweis konkreter Anhaltspunkte und stichhaltiger Gründe für die Annahme einer individuellen Gefahr für den Betroffenen selbst ist nur verzichtbar, wenn der ersuchende Staat eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen aufweist (vgl Murschetz , Auslieferung und Europäischer Haftbefehl S 190); die bloße Möglichkeit von Übergriffen, die in jedem Rechtsstaat vorkommen können, macht die Auslieferung hingegen nicht unzulässig (RIS‑Justiz RS0118200).

Zudem hat die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation ausdrücklich zugesichert, dass Alexandr G***** keiner Folter, grausamen unmenschlichen, die menschliche Würde erniedrigenden Behandlungs‑ oder Bestrafungsarten unterzogen wird (ON 66 S 9). Dass die Russische Föderation diese Zusage nicht einhalten wird, behauptet der Antragsteller im Übrigen nicht.

Auch soweit der Erneuerungswerber die Erwägungen des Beschwerdegerichts zur Erwartung eines fairen Verfahrens bestreitet und unter Darstellung verfahrensfremder Sachverhalte behauptet, er könne in Russland keinesfalls einen fairen Prozess erwarten, zeigt er keine substantiierten Gründe für eine ihm drohende Verletzung der Verfahrensgarantie des Art 6 MRK auf.

Unter dem Aspekt von Art 8 MRK bringt Alexandr G***** vor, eine Rückkehr nach Russland sei nicht zumutbar, weil seine Ehefrau Österreicherin und seine Tochter in London aufhältig sei und er keine weiteren noch in Russland lebenden Angehörigen habe. Aufgrund bestehender Visa‑Beschränkungen hätten seine Familienangehörigen keine Möglichkeit, ohne weiteres nach Russland zu reisen, wo überdies auch Repressalien von dritter Seite zu befürchten seien.

Solcherart vermag er erneut keine Fehlbeurteilung durch das Oberlandesgericht darzulegen, das ‑ im Rahmen der zufolge Art 8 Abs 2 MRK vorzunehmenden Interessensabwägung ‑ einen unzulässigen Eingriff in Art 8 MRK durch die Auslieferung verneinte und zur Auffassung gelangte, dass die Interessen der strafverfolgenden Behörden überwiegen. Die Forderung, das Gericht hätte umfassende Feststellungen „zur familiären Situation“ des Antragstellers treffen müssen, lässt einen konkreten Hinweis vermissen, auf welcher Grundlage derartige Sachverhaltsannahmen zu treffen gewesen wären.

In diesem Umfang war der Erneuerungsantrag daher ‑ in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur ‑ gemäß § 363b Abs 2 Z 3 StPO bei der nichtöffentlichen Beratung zurückzuweisen.

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