OGH 15Os117/07f

OGH15Os117/07f21.1.2008

Der Oberste Gerichtshof hat am 21. Jänner 2008 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Schmucker als Vorsitzende sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Danek, Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. T. Solé und Mag. Lendl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Pulker als Schriftführerin in der Auslieferungssache gegen Marko L*****, AZ 28 Ur 129/06d des Landesgerichts Feldkirch, AZ 6 Bs 329/07v des Oberlandesgerichts Innsbruck, über die als Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO zu wertende Grundrechtsbeschwerde der betroffenen Person nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Erneuerungsantrag wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse des Landesgerichtes Feldkirch vom 10. Jänner 2007, GZ 28 Ur 129/06d-28, und des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Beschwerdegericht vom 22. August 2007, AZ 6 Bs 329/07v, werden aufgehoben und die Sache wird an das Landesgericht Feldkirch verwiesen.

Text

Gründe:

Marko L***** war mit Urteil Nr 12.807/01 des Ordentlichen Gerichtes in Mailand vom 15. Dezember 2001 wegen Beteiligung an der Weitergabe von 1,1 kg eines Kokainpräparates (Tatzeit Oktober 1998) in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt worden. Nach Aufhebung des (den Strafausspruch dieses Urteils bestätigenden) Urteils des Berufungsgerichtes Mailand vom 6. März 2003 mit Urteil des Kassationsgerichtes vom 4. Juni 2004 und Zurückverweisung der Strafsache an dieses Gericht zur neuerlichen Entscheidung wurde Marko L***** mit Urteil des Berufungsgerichtes Mailand vom 12. Jänner 2005, Nr 3683/2004 RG, wegen des erwähnten Tatvorwurfes neuerlich in Abwesenheit schuldig erkannt und wiederum zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren (samt der Sicherheitsmaßnahme der Ausweisung aus dem Staat) verurteilt. Diese Entscheidung ist am 13. März 2005 in Rechtskraft erwachsen. Marko L***** befand sich in diesem Strafverfahren in Italien vom 11. November 1998 bis 16. Mai 2000 in Untersuchungshaft.

Mit Beschluss vom 10. Jänner 2007, GZ 28 Ur 129/06d-28, erklärte der Untersuchungsrichter des Landesgerichtes Feldkirch die vom Justizministerium der Republik Italien mit Note vom 28. September 2006 begehrte Auslieferung des Marko L***** zur Vollstreckung der über ihn mit den zuvor genannten Urteilen des Ordentlichen Gerichtes Mailand vom 15. Dezember 2001 und des Berufungsgerichtes Mailand vom 12. Jänner 2005 verhängten Freiheitsstrafe von (restlichen) 7 Jahren 5 Monaten und 24 Tagen für nicht unzulässig.

Zur Begründung führte er (im hier interessierenden Zusammenhang) aus, dass - entgegen dem eine Verletzung des Grundrechtes auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 MRK reklamierenden Standpunkt des Auszuliefernden - die Verurteilung durch ein im Auslieferungsverkehr mit Italien in den konkret anzuwendenden Bestimmungen des Art I Abs 2 des Vertrages zwischen der Republik Österreich und der Italienischen Republik über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens und die Erleichterung seiner Anwendung (BGBl Nr 559/1977) und des Art 3 Abs 1 des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen (BGBl Nr 297/1983) geregeltes Abwesenheitsurteil die Auslieferung nicht hindere. Setze ein konventionskonformes „fair trial" voraus, dass der Beschuldigte von der Einleitung des Strafverfahrens Kenntnis und dadurch überhaupt die Möglichkeit der Teilnahme hat, so verletze ein Abwesenheitsurteil im Fall einer Flucht des Beschuldigten Art 6 Abs 1 MRK nicht, weil er sich diesfalls freiwillig seiner Rechte begebe.

Dies treffe vorliegend zu. Der Auszuliefernde habe sich in dem in Italien geführten Strafverfahren, durchgehend durch einen Wahlverteidiger vertreten, in Untersuchungshaft befunden und sei zu den Tatvorwürfen vom Untersuchungsrichter einvernommen worden. Sowohl bei der erstinstanzlichen Hauptverhandlung am 15. Dezember 2001 als auch in der Berufungsverhandlung am 12. Jänner 2005 sei er von den italienischen Gerichten als „flüchtig" bezeichnet worden. Auch habe er nach seiner Enthaftung im Mai 2000 nach der Rückkehr zu seiner Familie nach Vorarlberg eine Mitteilung an das italienische Gericht über die im März 2001 erfolgte Änderung seiner Wohnadresse (Übersiedelung von Hard nach Lustenau) unterlassen und dadurch die Möglichkeit einer Ladung zu den Gerichtsverhandlungen vereitelt. Habe sich Marko L***** zwar nach seiner Auslieferung von Österreich in die Schweiz dort vom 8. November 2001 bis Februar 2003 durchgehend - somit auch zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung am 15. Dezember 2001 - in Haft befunden, so sei eine Mitteilung seinerseits an das italienische Gericht über seinen aktuellen Aufenthaltsort gleichfalls unterblieben. Durch die Verurteilung in Abwesenheit seien dem Auszuliefernden daher insgesamt keine prozessualen Mindestrechte vorenthalten worden.

Der gegen diesen Beschluss erhobenen Beschwerde des Auszuliefernden gab das Oberlandesgericht Innsbruck mit Beschluss vom 22. August 2007, AZ 6 Bs 329/07v (ON 35 des Ur-Aktes), keine Folge, wobei es, gestützt auf die vorerwähnte Tatsachengrundlage, dem Rechtsstandpunkt des Erstgerichtes mit dem Bemerken beipflichtete, dass Gründe für eine Hinderung des Auszuliefernden an der Mitteilung seiner neuen Wohnadresse und seiner Auslandshaft, an einer Erkundigung über den Verfahrensstand bei seinem Wahlverteidiger und an seiner Teilnahme an der Gerichtsverhandlung vom 12. Jänner 2005 nicht ersichtlich seien.

Rechtliche Beurteilung

Gegen diesen Beschluss des Oberlandesgerichtes Innsbruck richtet sich die trotz der gesetzlichen Neuregelung des Auslieferungsverfahrens durch BGBl I 2004/15 die Anwendbarkeit des Grundrechtsbeschwerdegesetzes behauptende (vgl jedoch 13 Os 142/06s, 11 Os 42/07x), als Grundrechtsbeschwerde bezeichnete, am 10. September 2007 zur Post gegebenen Eingabe des durch seinen Verteidiger vertretenen Marko L*****, die sich jedoch angesichts der Behauptung einer Verletzung (ua) im Grundrecht auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 MRK der Sache nach als Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a Abs 1 StPO darstellt (vgl Ratz, WK-StPO § 285d Rz 9, § 467 Rz 2).

Da die Feststellung einer Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch den EGMR nicht bloß als notwendige, sondern auch als hinreichende Bedingung für die Erneuerung des Strafverfahrens verstanden werden kann und sich seit Einführung der §§ 363a bis 363c StPO durch das StRÄG 1996 die Rechtsprechung des EGMR zu den das gerichtliche Verfahren betreffenden Garantien signifikant verändert hat, ist nämlich (jedenfalls nachträglich entstandene) Planwidrigkeit des § 363a Abs 1 StPO nicht von der Hand zu weisen und Lückenschließung dahin gerechtfertigt, dass es eines Erkenntnisses des EGMR als Voraussetzung für eine Erneuerung des Strafverfahrens nicht zwingend bedarf. Vielmehr kann auch eine vom Obersten Gerichtshof selbst - aufgrund eines Antrags auf Erneuerung des Strafverfahrens - festgestellte Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines untergeordneten Strafgerichtes dazu führen (grundlegend 13 Os 135/06m).

Dem Antrag kommt - in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur - Berechtigung zu:

Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist die - nicht schon als solche konventionswidrige - Durchführung eines Strafverfahrens in Abwesenheit des Beschuldigten - sofern diesem nicht mit hinreichender Sicherheit die Möglichkeit rechtlich gewährleistet ist, eine neuerliche Verhandlung in seiner Anwesenheit zu erreichen - mit dem durch Art 6 (Abs 1) MRK garantierten Recht auf ein faires Verfahren nur vereinbar, wenn der Beschuldigte in unmissverständlicher Weise auf sein Recht auf Teilnahme an der Hauptverhandlung verzichtet hat oder - eindeutige - konkrete Anhaltspunkte für die Absicht des Beschuldigten, sich dem Strafverfahren überhaupt durch Flucht zu entziehen, vorliegen, wobei ein wirksamer Verzicht auf das Anwesenheitsrecht die gerichtliche Verständigung des Beschuldigten von dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren - sowie, soweit möglich, auch vom Termin der Hauptverhandlung - voraussetzt (EGMR, F.C.B. gegen Italien, ÖJZ 1992/2 [MRK], EuGRZ 1992, 539 f; T gegen Italien, ÖJZ 1993/13 [MRK], EuGRZ 1992, 541 f; Sejdovic gegen Italien, Newsletter Menschenrechte 2006/2, 69 ff, 2004/6, 280 ff; EuGRZ 2004, 779 ff; Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl [2007], 203, 205; Gaede, Fairness als Teilhabe - Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art 6 MRK [2007], 294 ff, 743).

Rechtsgrundlagen für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Auslieferung zur Vollstreckung einer in einem Abwesenheitsurteil verhängten Strafe nach Italien sind im Hinblick auf den vorliegend vor dem 7. August 2002 gelegenen Tatzeitpunkt (§ 77 Abs 4 EU-JZG) die Bestimmungen des Art I Abs 2 des Vertrages zwischen der Republik Österreich und der Italienischen Republik über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens und die Erleichterung seiner Anwendung (BGBl Nr 559/1977) und des (in Kapitel III enthaltenen) Art 3 Abs 1 des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen (BGBl Nr 297/1983). Die zuletzt genannte spätere, den durch die erstbezeichnete Bestimmung eingeräumten Rechtsschutz erweiternde Regelung sieht einen Hinderungsgrund für die Auslieferung zur Vollstreckung einer in einem Abwesenheitsurteil verhängten Strafe vor, wenn „in dem diesem Urteil vorangegangenen Verfahren nicht die Mindestrechte der Verteidigung gewahrt worden sind, die anerkanntermaßen jedem einer strafbaren Handlung Beschuldigten zustehen", und verweist damit auf den die Einhaltung der Mindestverteidigungsrechte gewährleistenden Schutzbereich des Art 6 Abs 1 MRK (EBRV 1233 BlgNR 15. GP , 9, 11; JAB 1427 BlgNR 15. GP ; Schomburg in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen4, Art 1 Europäisches Auslieferungsübereinkommen Rz 6a; Vogel JZ 2002, 467; vgl auch Rohlff, Der Europäische Haftbefehl, 107). Wurde jener - durch Art 6 Abs 1 MRK grundrechtlich gewährleistete - Mindeststandard der Verteidigung in dem in Abwesenheit des Verurteilten durchgeführten Strafverfahren nicht eingehalten, so ist die Auslieferung nach Art 3 Abs 1 (zweiter Satz) des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen nur dann zulässig, wenn „die ersuchende Vertragspartei eine als ausreichend erachtete Zusicherung gibt, der Person, um deren Auslieferung ersucht wird, das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren zu gewährleisten, in dem die Rechte der Verteidigung gewahrt werden".

Die den eingangs genannten Beschlüssen des Landesgerichtes Feldkirch und des Oberlandesgerichtes Innsbruck zu Grunde gelegten, vorerwähnten Tatsachenannahmen lassen die Beurteilung einer den dargestellten Kriterien der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entsprechenden, den Anforderungen des Art 6 MRK konformen Durchführung des ausländischen Abwesenheitsverfahrens nicht zu. Denn konkrete Anhaltspunkte für eine einen Verzicht auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung implizierende - zudem eine gerichtliche Verständigung vom Verhandlungstermin vereitelnde - Flucht des nach den Beschlusskonstatierungen in den Verhandlungsprotokollen des italienischen Strafverfahrens nur unsubstantiiert ohne Nennung näherer Umstände als „flüchtig" bezeichneten, dennoch aber „nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft" in dem in Italien gegen ihn geführten Strafverfahren - unbehelligt - „zu seiner Familie nach Vorarlberg zurückgekehrten" Beschuldigten sind ihnen nicht entnehmen. Entgegen der vom Landesgericht Feldkirch und vom Oberlandesgericht Innsbruck vertretenen Rechtsansicht kann aus einer Unterlassung der Verständigung des italienischen Gerichtes von einer Wohnsitzänderung des Beschuldigten in Österreich und von dessen Anhaltung in Haft in der Schweiz eine Verwirkung des Rechtes auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung nicht abgeleitet werden (EGMR, F.C.B. gegen Italien, ÖJZ 1992/2 [MRK], EuGRZ 1992, 540), weil vielmehr umgekehrt das italienische Gericht zur effektiven Wahrung der von Art 6 Abs 1 MRK gewährleisteten Verfahrensgarantien vor Einleitung eines Abwesenheitsverfahrens zu Nachforschungen über einen - wenn nicht ohnehin bekannten - ausländischen Aufenthaltsort des Beschuldigten verhalten gewesen wäre (EGMR, T gegen Italien, EuGRZ 1992, 541; ÖJZ 1993/13 [MRK], 213 f; Gaede aaO 295).

Eine die somit gegenwärtig nicht beurteilbare Grundrechtskonformität des Abwesenheitverfahrens jedenfalls herstellende, nach dem zuvor angeführten Beurteilungsmaßstab des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hinreichend effektive Gewährleistung einer Verfahrenserneuerung nach dem (auch aktuellen) italienischen Strafprozessrecht (vgl dazu EGMR, Sejdovic gegen Italien, Newsletter Menschenrechte 2006/2, 71; Schomburg/Hackner, aaO, § 15 IRG Rz 33e) bedürfte einer die Zulässigerklärung der Auslieferung bedingenden, die effektive Gewährleistung eines entsprechenden Verfahrenserneuerungsrechtes beinhaltenden Zusicherung des ersuchenden Staates (Art 3 Abs 1 zweiter Satz des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen; vgl BGH 16. Oktober 2001, NJW 2002, 228 f); eine solche wurde aber den Beschlüssen des Landesgerichtes Feldkirch und des Oberlandesgerichtes Innsbruck nicht als Bedingung der Zulässigerklärung der Auslieferung zu Grunde gelegt.

Die Zulässigerklärung einer Auslieferung mit Beziehung auf ein im ersuchenden Staat durchgeführtes Strafverfahren, das den von Art 6 Abs 1 MRK geforderten Verfahrensgarantien offenkundig nicht entsprochen hat („flagrant denial of justice"), verstößt (ihrerseits) gegen Art 6 Abs 1 MRK (EGMR, Einhorn gegen Frankreich, ÖJZ-MRK 2003/1; vgl dazu VfGH 12. Dezember 2002, G 151, 152/02 = JBl 2003, 437 [443]; Meyer-Ladewig, EMRK2, Art 6 Rz 60b). Die auf eine die Bejahung einer Konventionskonformität des in Italien gegen Marko L***** geführten Abwesenheitsverfahrens nicht zulassende Tatsachengrundlage gestützte Zulässigerklärung der Auslieferung durch die Beschlüsse des Landesgerichtes Feldkirch und des Oberlandesgerichtes Innsbruck verletzt daher (zum Nachteil des Auszuliefernden) das Grundrecht auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 MRK.

In Stattgebung des Antrages des Marko L***** waren somit gemäß § 363b Abs 3 StPO (per analogiam) in nichtöffentlicher Beratung die Beschlüsse des Landesgerichtes Feldkirch vom 10. Jänner 2007, GZ 28 Ur 129/06d-28, und des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Beschwerdegericht vom 22. August 2007, AZ 6 Bs 329/07v, aufzuheben und die Auslieferungssache an das Landesgericht Feldkirch zu neuer Entscheidung - mit Blick auf eine im aufgezeigten Sinn zu verbreiternde Tatsachengrundlage - zu verweisen.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte