OGH 9ObA19/13d

OGH9ObA19/13d29.5.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Dehn sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Engelmann und Peter Schönhofer als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei 1. A*****versicherungsanstalt *****, 2. P*****versicherungsanstalt, *****, beide vertreten durch Dr. Peter Schaden, Mag. Werner Thurner, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagten Parteien 1. W***** W*****, 2. Ing. B***** R*****, beide vertreten durch Dr. Peter Schmautzer und Mag. Stefan Lichtenegger, Rechtsanwälte in Wien, wegen 25.282,25 EUR sA (erstklagende Partei), 16.647,22 EUR sA (zweitklagende Partei) sowie Feststellung (10.000 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 14. Dezember 2012, GZ 9 Ra 75/12h‑51, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

I. Die außerordentliche Revision der klagenden Parteien wird mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

II. Der Antrag auf Zuspruch der Kosten der Revisionsbeanwortung wird gemäß § 508a Abs 2 Satz 2 ZPO abgewiesen.

Begründung

Rechtliche Beurteilung

1. Die Beurteilung des Grades der Fahrlässigkeit stellt eine Frage des Einzelfalls dar, die nur im Falle grober Fehlbeurteilung durch die Vorinstanzen im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO an den Obersten Gerichtshof herangetragen werden kann (RIS‑Justiz RS0026555 [T5], RS0030644 [T47] ua). Eine solche Fehlbeurteilung zeigt die Revision der Klägerinnen, die bei den Beklagten gemäß § 334 Abs 1 ASVG Regress suchen, nicht auf.

2. Wie bereits vom Berufungsgericht zutreffend dargelegt, ist der Unterschied zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit rein maßlich und nur aus den Umständen des Einzelfalls ableitbar. Nicht jede Übertretung einer Unfallverhütungsvorschrift bedeutet grobe Fahrlässigkeit (RIS‑Justiz RS0026555 [T1]). Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich voraussehbar ist. Sie erfordert, dass ein objektiv besonders schwerer Sorgfaltsverstoß auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen ist (RIS‑Justiz RS0030644; RS0030272; s auch RS0085332).

3. Im vorliegenden Fall war der Zweitbeklagte als Bauleiter für die Vorbereitung und Durchführung eines Gebäudeabbruchs in personeller und technischer Hinsicht verantwortlich. Er erteilte an Hand einer Checkliste eine mündliche Baustellenunterweisung, wobei er die Arbeiter darauf hinwies, dass sie beim Abriss das Gebäude nicht betreten und sich nicht im Schwenkbereich des Baggers aufhalten durften. Am Abbruchtag sollte der Erstbeklagte, der seit Jahren beim selben Unternehmen als Baggerfahrer beschäftigt war und mit dem Zweitbeklagten bei Abbrucharbeiten zusammenarbeitete, den Zweitbeklagten in dessen Abwesenheit vertreten, den Arbeitern entsprechende Anweisungen erteilen und für deren Sicherheit, etwa durch Einhalten des Sicherheitsabstands sorgen.

Im Zuge der eigentlichen Abbrucharbeiten kamen vier Betondeckenplatten (à 3,4 x 4,9 m) schräg an der Hauswand zu liegen. In etwa zehn Metern Entfernung zur ursprünglichen Vordachkante des Abbruchobjekts befand sich ein Container, hinter dem sich die Arbeiter während des unmittelbaren Abbruchs befanden. Der Erstbeklagte wies sie sodann an, Puritplatten, die sich beim Abbruch gelöst hatten, aufzusammeln und in den Container zu werfen, sich dabei aber nicht in den Gefahrenbereich zu begeben. Zu einem Zeitpunkt, als sich der Erstbeklagte mit seinem Arbeitsgerät von den Arbeitern abwandte, kam einer von ihnen dennoch in den unmittelbaren Gefahrenbereich und wurde von einer umstürzenden Betondeckenplatte erdrückt. Wie bei früheren gleichartigen Abbrüchen hatte weder der Erst‑ noch der Zweitbeklagte eine Absperrung um das Abbruchgelände errichtet oder Warnposten aufgestellt, weil sie davon ausgingen, dass Warnposten nicht nötig waren und Absperrungen im Abbruchbereich die Arbeit des Baggers behindert hätten.

4. Das Berufungsgericht verkannte die Säumnisse des Zweitbeklagten nicht. Es berücksichtigte aber seine jahrelange problemlose und verlässliche Zusammenarbeit mit dem Erstbeklagten, die dem Erstbeklagten mündlich erteilte Unterweisung des Zweitbeklagten, für die Einhaltung des Sicherheitsabstands zu sorgen und die Tatsache, dass der Verunfallte nicht völlig unerfahren war und dennoch in den unmittelbaren Gefahrenbereich eingedrungen war. Wenn es deshalb zum Ergebnis kam, dass dem Zweitbeklagten der Eintritt des Unfalls zwar als möglich, nicht aber als wahrscheinlich erscheinen musste und sein Verschulden deshalb gerade noch nicht als grobe Fahrlässigkeit zu beurteilen sei, so ist dies nach den Umständen des Falls keine solche krasse Fehlbeurteilung, die der höchstgerichtlichen Korrektur bedürfte.

5. Das Vorbringen der Klägerinnen, der Erstbeklagte habe gewusst, dass sich der verunfallte Arbeiter im Gefahrenbereich aufgehalten hatte, weshalb er ihn belehren hätte müssen, findet keine Deckung im festgestellten Sachverhalt. Eine eigenständige Vorkehrung von Sicherungsmaßnahmen zählte nicht zu den ihm übertragenen Aufgaben. Auch zum von den Vorinstanzen angenommenen Verschuldensgrad des Erstbeklagten besteht somit kein Abänderungsbedarf.

Mangels einer erheblichen Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die Revision der Klägerinnen zurückzuweisen.

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