OGH 2Ob68/13h

OGH2Ob68/13h25.4.2013

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M***** W*****, vertreten durch Dr. Georg Haunschmidt, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Wiener Linien GmbH & Co KG, 1030 Wien, Erdbergstraße 202, vertreten durch Dr. Ralph Mayer, Rechtsanwalt in Wien, und die auf Seiten der beklagten Partei beigetretene Nebenintervenientin Stadt Wien, 1082 Wien, Rathaus, Stiege 4, vertreten durch die Pitzal & Partner Rechtsanwälte OG in Wien, wegen 12.750 EUR sA und Feststellung (2.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 17. Jänner 2013, GZ 11 R 4/13h‑57, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 31. Oktober 2012, GZ 55 Cg 19/10h‑48, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0020OB00068.13H.0425.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts wird so abgeändert, dass sie folgendermaßen zu lauten hat:

„1. Die Klagsforderung besteht mit 1.900 EUR zu Recht.

2. Die Gegenforderung besteht mit 495,34 EUR zu Recht.

3. Die beklagte Partei ist daher schuldig, der klagenden Partei 1.404,66 EUR samt 4 % Zinsen seit 2. 2. 2009 binnen 14 Tagen zu bezahlen.

4. Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei weitere 11.345,34 EUR samt 4 % Zinsen seit 2. 2. 2009 zu bezahlen, wird abgewiesen.

5. Das Feststellungsbegehren, die beklagte Partei hafte der klagenden Partei für sämtliche künftige, derzeit nicht bekannte Schäden aus dem Unfall vom 28. 11. 2008, wird abgewiesen.

6. Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei, die mit 7.948,22 EUR (darin 1.115,77 EUR USt und 1.253,60 EUR Barauslagen) und der Nebenintervenientin die mit 3.341,94 EUR (darin 554,79 EUR USt und 13,20 EUR Barauslagen) bestimmten Prozesskosten erster Instanz jeweils binnen 14 Tagen zu ersetzen.

7. Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.325,56 EUR (darin 177,76 EUR USt und 259 EUR Barauslagen [halbe Pauschalgebühr]) und der Nebenintervenientin die mit 1.066,56 EUR (darin 177,76 EUR USt) bestimmten Kosten des Verfahrens zweiter Instanz jeweils binnen 14 Tagen zu ersetzen.“

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei und der Nebenintervenientin die jeweils mit 908,64 EUR (darin 151,44 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 28. 11. 2008 gegen 09:10 Uhr ereignete sich in Wien Innere Stadt auf der Kreuzung der Ringstraße mit dem Schwarzenbergplatz auf Höhe des Hauses Kärntner Ring 17 ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin als Fußgängerin sowie ein von T***** R***** geführter Straßenbahnzug der Beklagten beteiligt waren.

Die Klägerin war auf dem Weg zu ihrer Arbeit und fuhr mit der Straßenbahnlinie 2 direkt zum Schwarzenbergplatz. Nachdem sie bei der Haltestelle Schwarzenbergplatz ausgestiegen war, ging sie über die Schwarzenbergstraße zum Café Schwarzenberg. Von dort aus wollte die Klägerin die Ringstraße über den Fußgängerübergang stadtauswärts überqueren. Als sie zur Fußgängerampel kam, zeigte diese für Fußgänger rot. Sowohl auf der Seite der Klägerin als auch auf der gegenüberliegenden Seite standen mehrere Personen. Die Klägerin stand in der ersten Reihe am rechten Rand des Bereichs vor dem Schutzweg, links von ihr standen noch mehrere andere wartende Personen. Sie beugte sich nicht nach vor, um eine bessere Sicht vorbei an den Leuten, die links neben ihr standen, zu erlangen. Als die Fußgängerampel auf Grün umschaltete, ging sie sofort los und machte einen Schritt nach vorn. Die anderen Passanten machten ebenfalls bei Grünwerden einen Schritt nach vorn, konnten allerdings noch rechtzeitig einen Schritt zurück machen und der herannahenden Straßenbahn ausweichen. Für die Klägerin ging sich dies nicht aus und es kam zur Kollision mit der selben Straßenbahn, aus der sie kurz zuvor ausgestiegen war.

Zwischen dem Umschalten der Fußgängerampel auf Grün und dem Zeitpunkt der Kollision vergingen ungefähr zwei Sekunden. Als sich die Klägerin entschloss hinunterzusteigen, war die Straßenbahn etwa 5,5 Meter von der Kollisionsstelle entfernt und fuhr mit einer Geschwindigkeit von rund 20 km/h. Die Betonfahrbahn war trocken und es herrschte Tageslicht. Die Straßenbahngleise befinden sich unmittelbar vor dem Fußgängerplateau, auf dem die Klägerin auf das Grünlicht der Fußgängerampel wartete. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Klägerin in dieser Situation durch etwas abgelenkt war.

Die Straßenbahnfahrerin hatte beim Losfahren ein Freigabesignal. Sie fuhr gegen Ende der Freiphase aus der Haltestelle Schwarzenbergplatz in Fahrtrichtung Ottakring in die Kreuzung ein. Sie schaute beim Wegfahren gerade nach vorne auf den Bereich, auf den sie sich zubewegte. Beim Überqueren der Kreuzung sah sie, dass ‑ von ihr aus gesehen ‑ am rechten Fahrbahnrand auf dem Gehsteig mehrere Personen standen. Auf die Fußgängerampel blickte sie nicht. Als die Klägerin den Gleistrog betrat, leitete die Straßenbahnfahrerin zwar eine Vollbremsung ein, die Kollision mit der Klägerin konnte sie jedoch nicht verhindern. Eine Reaktionsverspätung der Straßenbahnfahrerin auf das Heruntersteigen der Klägerin kann nicht festgestellt werden. Ein akustisches Warnsignal (Bimmeln) der Straßenbahn gab die Fahrerin nicht ab. Die Abgabe eines solchen akustischen Warnsignals bei Erkennung der wartenden Passanten am rechten Straßenrand als mögliche Gefahr hätte die Klägerin auf die herannahende Straßenbahn aufmerksam gemacht und so die Kollision verhindern können. Die Straßenbahn war vom Losfahren bis zur Kollision rund 14 Sekunden unterwegs. Die Höchstgeschwindigkeit der Straßenbahn bei der dortigen Überquerung einer Weiche betrug 15 km/h, bei einer Vereinigungsweiche maximal 25 km/h. Die Straßenbahnfahrerin hielt sich bei Übersetzen der Kreuzung an diese Geschwindigkeitsbeschränkungen. Die Straßenbahnfahrerin fuhr seit zwei Monaten auf dieser Fahrtroute.

Die Klägerin wurde an ihrer linken Körperseite von der rechten Bugrundung der Straßenbahn erfasst und entsprechend der Einlaufrichtung der Straßenbahn niedergeschleudert. Ihre Beine waren im Fangkorbbereich der Straßenbahn. Sie kam nach der Kollision bei Tür 1 der Straßenbahn in Höhe der Fahrerposition etwa zwei bis drei Meter von ihrem Standort entfernt zum Liegen. Die Endstellung der Straßenbahn war auf der Haustrennung zwischen den Häusern Kärntner Ring 15 und 17.

Durch den Unfall erlitt die Klägerin eine fünf cm lange Rissquetschwunde im Bereich des rechten Scheitelbeins, eine Serienrippenfraktur an der rechten Brustkorbseite (Rippen 4-8), eine Nackenzerrung, eine Prellung des rechten Ellenbogens sowie Hautabschürfungen am rechten Kleinfinger, über dem dritten rechten Mittelhand-Fingergelenk und am rechten Knie. Aufgrund der erlittenen Verletzungen befand sich die Klägerin vom 28. 11. 2008 bis 29. 12. 2008 im Krankenstand. In Summe hatte die Klägerin zwei Tage starke, sieben Tage mittlere und 16 Tage leichte Schmerzen. Die Genesung dauerte acht Wochen, wobei während der letzten beiden Wochen bis zur kompletten Genesung der Klägerin die beruflichen Belastungen, zumindest teilweise, zuzumuten waren. Die berufliche Leistungsfähigkeit der Klägerin nach dem Krankenstandsende war durch die Einnahme von Schmerzmitteln noch für einen Monat in Form einer schnelleren Ermüdung und etwas verlangsamtem Arbeitstempo herabgesetzt. Es bestand pauschal für diese vier Wochen eine fünfzehnprozentige Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit.

Die Klägerin erlitt durch den Unfall auch leichte seelische Schmerzen und psychische Beeinträchtigungen in Form einer Anpassungsstörung. Das nächsthöhere Belastungsbild einer posttraumatischen Belastungsstörung lag jedoch nicht vor. Für diese seelischen Schmerzen waren 15 Tage leichte Schmerzen „zu gewähren“. Da es sich bei der Anpassungsstörung um eine vorübergehende psychische Erkrankung handelt, die so wie bei der Klägerin nach einigen Monaten abklingt, sind zukünftige unfallkausale Gesundheitsschäden in psychiatrisch-neurologischer Sicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen.

Durch den Unfall wurden eine Jacke, eine Hose, sowie ein Paar Schuhe der Klägerin im Zeitwert von insgesamt 200 EUR unwiederbringlich beschädigt. Die Klägerin hätte als Friseurin in der umsatzstarken Adventzeit Trinkgeld verdient, das vom Erstgericht gemäß § 273 ZPO mit 350 EUR ausgemessen wurde.

Der Beklagten entstanden durch den Unfall Kosten von 743,01 EUR.

Die Klägerin begehrte die Zahlung von 12.750 EUR sA sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle zukünftigen, derzeit noch nicht bekannten Unfallfolgen. Sie brachte vor, das Alleinverschulden am Unfall treffe die Beklagte. Zum Zeitpunkt des Überquerens des Fußgängerübergangs sei die Fußgängerampel auf Grünlicht geschaltet gewesen, die Klägerin habe darauf vertraut, die Straße gefahrlos überqueren zu können. Infolge Unachtsamkeit und Nichtbeachtens der Fußgängerampel sei die Straßenbahnfahrerin aus der Haltestelle Schwarzenbergplatz ohne Abgabe eines Signaltons auf den Schutzweg zugefahren. Die Fahrerin schulde die Sorgfalt nach § 1299 ABGB. Sie hätte wissen müssen, dass es sich auf dieser Kreuzung um eine besonders gefahrengeneigte Ampelschaltung handle. Sollte die Fahrerin bei für sie geltender Grünphase in die Kreuzung eingefahren sein, hätte sie gemäß § 38 Abs 4 StVO nur dann weiterfahren dürfen, wenn es die Verkehrslage zugelassen hätte. Die Fahrerin habe auch während des Durchfahrens einer großflächigen Kreuzung die Verkehrslage zu beobachten, damit sie gegebenenfalls ab Erkennbarkeit des Fehlverhaltens eines anderen Verkehrsteilnehmers entsprechend reagieren könne. Die Beklagte hafte auch nach EKHG. Es liege für die Beklagte kein unabwendbares Ereignis iSd § 9 Abs 2 EKHG vor. Die unfallkausalen Verletzungen rechtfertigten ein Schmerzengeld von 12.000 EUR. Der Schaden an den beschädigten Kleidungsstücken betrage 200 EUR, die frustrierten Generalunkosten 50 EUR, der Entgang an Trinkgeld in der Zeit des Krankenstands der Klägerin 500 EUR. Seit dem Verkehrsunfall leide die Klägerin bei der Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr an massiven psychischen Problemen wie Schlaflosigkeit und Angstzuständen. Auch bei den Körperverletzungen seien Spätfolgen nicht mit Sicherheit auszuschließen. Dies begründe das rechtliche Interesse am Feststellungsbegehren.

Die Beklagte wendete ein, die Straßenbahnfahrerin sei bei „Frei“ zeigendem Straßenbahn- Lichtsignal aus der Haltestelle Schwarzenbergplatz zur Kreuzung Schwarzenbergstraße losgefahren. Die Klägerin hätte sich vor Betreten des Gleiskörpers vergewissern müssen, dass keine Straßenbahn herannahe, und hätte die Fahrbahn nicht überraschend unmittelbar vor dieser betreten dürfen. Die Straßenbahnfahrerin habe sofort eine Notbremsung durchgeführt. Das Alleinverschulden am Unfall treffe die Klägerin, die unter Außerachtlassung der erforderlichen Sorgfalt trotz der herannahenden Straßenbahn plötzlich den Gleisbereich betreten habe. Für die Beklagte sei der Unfall ein unabwendbares Ereignis gemäß § 9 EKHG. Auch ein akustisches Warnsignal bei Gefahrenerkennung hätte nichts am Unfallablauf geändert, da die Zeit hiefür viel zu kurz gewesen sei. Der Beklagten sei nicht bekannt, dass bei dieser Kreuzung eine besonders gefahrengeneigte Ampelschaltung vorliege. Die Straßenbahnfahrerin sei im Strafverfahren freigesprochen worden. Das begehrte Schmerzengeld sei überhöht, ein rechtliches Interesse am Feststellungsbegehren bestehe nicht. Die Beklagte wendete ihre aus den Feststellungen ersichtlichen Kosten aus dem Unfall in Höhe von 743,01 EUR als Gegenforderung ein.

Die Nebenintervenientin auf der Seite der Beklagten schloss sich deren Vorbringen an.

Das Erstgericht sprach aus, die Klagsforderung bestehe mit 3.800 EUR, die Gegenforderung mit 247,67 EUR zu Recht; es gab daher dem Klagebegehren mit 3.552,33 EUR sA statt und wies das Zahlungsmehrbegehren und das Feststellungsbegehren ab. Es traf die wiedergegebenen Feststellungen und führte rechtlich aus, die Straßenbahnfahrerin treffe kein Verschulden, weil sie prompt reagiert habe. Angesichts der Unterlassung eines akustischen Warnsignals habe sie aber nicht jede erdenkliche Sorgfalt iSd § 9 Abs 2 EKHG eingehalten. Die Klägerin treffe ein Mitverschulden, weil sie auf das Gleis gestiegen sei, ohne sich zu vergewissern, dass keine Straßenbahn nahe. Da das Fehlverhalten der Straßenbahnfahrerin schwerer wiege, sei der Schaden im Verhältnis 1 : 2 zugunsten der Klägerin zu teilen. Das Schmerzengeld sei mit 5.100 EUR auszumessen, der Schaden an den Kleidern betrage 200 EUR, die Generalunkosten 50 EUR, das entgangene Trinkgeld 350 EUR, der Gesamtschaden der Klägerin daher 5.700 EUR. Davon betrügen zwei Drittel 3.800 EUR, abzüglich eines Drittels der Gegenforderung ergebe sich der Zuspruch. Da künftige unfallkausale Schäden der Klägerin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen seien, erweise sich das Feststellungsbegehren zur Gänze als unberechtigt.

Das von beiden Parteien angerufene Berufungsgericht wies das gesamte Klagebegehren ab. Die Verpflichtung des Kraftfahrers, den bei Grünlicht einfahrenden Fahrzeugen des Querverkehrs, die auf der Kreuzung vom Phasenwechsel überrascht werden und die Kreuzung nicht mehr rechtzeitig verlassen können, die Räumung der Kreuzung zu ermöglichen, gelte sinngemäß auch für den Fußgänger. Die Klägerin habe daher ungeachtet des für sie geltenden Grünlichts (§ 38 Abs 4 und 8 StVO) damit rechnen müssen, dass sich dem Fußgängerübergang von links Kraftfahrzeuge oder Straßenbahnen nähern könnten, und hätte diesen Fahrzeugen die Überquerung der Kreuzung gestatten müssen. Sie habe daher sorglos iSd § 1295 Abs 1, § 1304 ABGB gehandelt, indem sie den Fußgängerübergang betreten habe, ohne dem Querverkehr ausreichend Beachtung zu schenken. Die Straßenbahnfahrerin sei bei Grünlicht in die Kreuzung eingefahren. Ungeachtet des Umstands, dass die Überquerung der Kreuzung 14 Sekunden in Anspruch genommen habe und eine Fußgängergruppe zunächst noch bei Rotlicht vor dem quer zum Gleiskörper verlaufenden Fußgängerübergang gestanden sei, habe die Straßenbahnfahrerin nicht damit rechnen müssen, dass die Klägerin bei Umschalten der Ampelanlage ohne Beachtung des Querverkehrs sofort losgehen würde. Die Straßenbahnfahrerin sei daher auch nicht verpflichtet gewesen, im Kreuzungsbereich prophylaktisch akustische Warnsignale abzugeben. Der Unfall, der auch durch eine sofortige Bremsung nicht abgewendet werden konnte, sei für die Beklagte ein unabwendbares Ereignis iSd § 9 Abs 2 EKHG. Das Alleinverschulden treffe daher die Klägerin.

Das Berufungsgericht ließ die Revision zu, weil keine höchstgerichtliche Judikatur zu den Sorgfaltsanforderungen existiere, die ein Straßenbahnfahrer bei der Räumung einer Kreuzung gegenüber Fußgängern zu erfüllen habe, die vor einem den Gleiskörper querenden, ampelgeregelten Fußgängerübergang stehen.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung des angefochtenen Urteils im Sinne der Klagsstattgebung; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte und die Nebenintervenientin beantragen in ihrer jeweiligen Revisionsbeantwortung, die Revision mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und teilweise berechtigt.

Der Senat hat erwogen:

1. Die behaupteten Verfahrensmängel liegen nicht vor, was keiner Begründung bedarf (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).

2. Die (sich aus der Bejahung eines unabwendbaren Ereignisses gemäß § 9 EKHG ergebende implizite, vgl RIS-Justiz RS0058425 [T4]) Beurteilung des Berufungsgerichts, die Straßenbahnfahrerin treffe kein Verschulden, wird in der Revision nicht bekämpft, sodass darauf nicht einzugehen ist (RIS-Justiz RS0043352 [T31, T34, T35]), zumal schon in der Berufung ein Verschulden der Straßenbahnfahrerin nicht (mehr) behauptet wurde (RIS-Justiz RS0043573 [T31]).

3. Zutreffend hat das Berufungsgericht ein Verschulden der Klägerin bejaht. Nach oberstgerichtlicher Rechtsprechung gilt die Verpflichtung des Kraftfahrers, den bei Grünlicht einfahrenden Fahrzeugen des Querverkehrs, die auf der Kreuzung vom Phasenwechsel überrascht werden und die Kreuzung nicht mehr rechtzeitig verlassen können, die Räumung der Kreuzung zu ermöglichen, sinngemäß auch für Fußgänger (RIS-Justiz RS0075083).

4.1. Verfehlt ist aber die berufungsgerichtliche Beurteilung, für die Beklagte liege ein unabwendbares Ereignis iSd § 9 Abs 2 EKHG vor. Als unabwendbar gilt ein Ereignis nach dieser Gesetzesbestimmung ua insbesondere dann, wenn es auf das Verhalten des Geschädigten zurückzuführen ist, sowohl der Betriebsunternehmer oder Halter als auch die mit Willen des Betriebsunternehmers oder Halters beim Betrieb tätigen Personen jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet haben und der Unfall nicht unmittelbar auf die durch das Verhalten eines nicht beim Betrieb tätigen Dritten oder eines Tieres ausgelöste außergewöhnliche Betriebsgefahr zurückzuführen ist.

4.2. Die Rechtsprechung hat dazu folgende Grundsätze aufgestellt:

4.2.1. Unter dem Begriff

„jede nach den Umständen des Falles

gebotene Sorgfalt“ ist die äußerste nach den Umständen des Falles mögliche Sorgfalt zu verstehen (RIS-Justiz RS0058326). An die nach § 9 Abs 2 EKHG

gebotene Sorgfalt sind die strengsten Anforderungen zu stellen (RIS-Justiz RS0058326 [T4]). Es muss alles vermieden werden, was zur Entstehung einer gefahrenträchtigen Situation führen könnte (RIS-Justiz RS0058326 [T6]). Die nach § 9 Abs 2 EKHG

gebotene äußerste Sorgfalt ist dann beobachtet, wenn der Fahrzeuglenker eine über die gewöhnliche Sorgfaltspflicht hinausgehende, besonders überlegene Aufmerksamkeit, Geistesgegenwart und Umsicht gezeigt hat, die zum Beispiel auch die Rücksichtnahme auf eine durch die Umstände nahegelegte Möglichkeit eines unrichtigen oder ungeschickten Verhaltens anderer gebietet (RIS-Justiz RS0058425; vgl auch RS0058206). Die erhöhte Sorgfaltspflicht, deren Beachtung den Unfall als unabwendbares Ereignis erscheinen lässt,

setzt nicht erst in der Gefahrenlage ein, sondern verlangt, dass von vornherein vermieden wird, in eine Lage zu kommen, aus der Gefahr entstehen kann (RIS-Justiz RS0058411; RS0058278).

4.2.2. Ein Fahrzeuglenker, der bei Grünlicht in die Kreuzung einfuhr, in ihr aber aufgehalten wurde, darf zwar selbst dann, wenn für ihn bereits Rotlicht gilt, weiterfahren, muss aber besonders vorsichtig fahren und auf den möglichen einsetzenden Querverkehr achten. Diese Verhaltensregel ist auch für einen Straßenbahnfahrer maßgeblich (RIS-Justiz RS0075300 [T2]).

4.2.3. Ein verkehrswidriges Verhalten von Fußgängern stellt für den Lenker eines Kraftfahrzeugs dann ein unabwendbares Ereignis dar, wenn er nach den konkreten Umständen damit nicht zu rechnen brauchte und er den Unfall auch bei Anwendung der Vorsicht und Aufmerksamkeit eines besonders umsichtigen und sachkundigen Kraftfahrers nicht verhindern konnte (RIS-Justiz RS0058217). Deuten aber Anzeichen darauf hin, dass der Fußgänger die Fahrbahn überqueren könnte, so muss der Kraftfahrer darauf durch Herabsetzung der Geschwindigkeit oder Abgabe eines Warnsignals reagieren, um dem Sorgfaltsmaßstab des § 9 EKHG zu entsprechen (RIS-Justiz RS0058217 [T1]). Auch diese Verhaltensregeln gelten auch für Straßenbahnfahrer.

4.3. Wendet man diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall an, kann keine Rede davon sein, die Straßenbahnfahrerin habe dem Sorgfaltsmaßstab des § 9 Abs 2 EKHG entsprochen: Insbesondere da sie schon zwei Monate diese Strecke fuhr, mussten ihr die Gefahren der weiträumigen Kreuzung bekannt sein. Daher musste sie auch wissen, dass bei Einfahrt in die Kreuzung gegen Ende der Grünphase für die Straßenbahn angesichts des ‑ sehr lang dauernden ‑ Überquerens der Kreuzung der Querverkehr (der Fußgänger) noch vor dem Räumen der Kreuzung durch die Straßenbahn grün bekommen konnte und daher mit der Gefahr querender Fußgänger zu rechnen war. Wie groß diese Gefahr war, zeigt auch der Umstand, dass neben der Klägerin auch andere Fußgänger im Begriff waren loszugehen und nur durch einen Schritt zurück der Straßenbahn ausweichen konnten. Als geeignete und hier nach den Feststellungen auch unfallvermeidende Gegenmaßnahme hätte sie bei äußerster Sorgfalt „bimmeln“ können und müssen, und zwar nicht (wie die Beklagte offenbar meint) erst bei Ansicht der losgehenden Klägerin, sondern in Annäherung an den Schutzweg früh genug, um die dort stehenden Fußgänger rechtzeitig zu warnen.

5. Verschulden des einen Unfallbeteiligten und (bloß) gewöhnliche Betriebsgefahr des anderen Unfallbeteiligten sind gemäß § 7 EKHG gegeneinander abzuwägen. Im Allgemeinen wird in solchen Fällen eine Schadensteilung von 1 : 3 oder 1 : 2 zulasten desjenigen, den ein Verschulden trifft, vorgenommen (RIS-Justiz RS0027289; RS0027275; RS0058167).

Im vorliegenden Fall ist das Verschulden der Klägerin nur als gering einzustufen, weil die für sie geltende Fußgängerampel bereits grün zeigte und sie daher ‑ abgesehen von die Kreuzung räumenden Fahrzeugen und abgesehen von Einsatzfahrzeugen ‑ grundsätzlich berechtigt war, die Fahrbahn zu überqueren. Andererseits ist die von der Straßenbahn in einem solchen Fall des späten Räumens ausgehende Betriebsgefahr auch angesichts der großen Masse der Straßenbahn und deren Unmöglichkeit auszuweichen nicht zu unterschätzen.

Der Senat hält daher hier eine Schadensteilung von 2 : 1 zulasten der Klägerin für angemessen.

6. Zur Höhe des angemessenen Schmerzengelds finden sich auf Basis der getroffenen Feststellungen keinerlei Ausführungen in der Revision, sodass darauf nicht einzugehen ist.

7. Die von der Revisionswerberin als zu gering erachtete Bemessung des entgangenen Trinkgelds in Höhe von 350 EUR durch das Erstgericht ist zwar revisibel (RIS-Justiz RS0040341), aber nicht zu beanstanden.

8.1.1. Die Kostenentscheidung gründet für das erstinstanzliche Verfahren auf § 43 Abs 2 ZPO. Die Beklagte und die Nebenintervenientin auf ihrer Seite waren nur mit 9,5 %, somit geringfügig bei der Abwehr der Klagsansprüche, unterlegen (RIS-Justiz RS0124795). Dabei war als Bemessungsgrundlage der abgewehrte Betrag zugrundezulegen (RIS-Justiz RS0116722; Obermaier, Kostenhandbuch2 Rz 142).

8.1.2. Entgegen den Einwendungen der Klägerin gegen die Kostennote der Beklagten war der Fristerstreckungsantrag vom 15. 10. 2010 zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendig; er wurde vom Erstgericht bewilligt. Auch der Beweisantrag vom 21. 12. 2011 war zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendig, weil er vor der letzten Verhandlung gestellt wurde und so geeignet war, eine weitere Erstreckung der Verhandlung zu vermeiden.

8.2. Die Kostenentscheidung für das Verfahren zweiter Instanz gründet sich hinsichtlich der Berufung der Beklagten auf § 43 Abs 1 iVm § 50 ZPO. Die Beklagte war mit der Hälfte ihrer Berufung erfolgreich, weshalb mit Kostenaufhebung vorzugehen war. Die Klägerin war mit ihrer Berufung gänzlich erfolglos, hier gründet sich Kostenentscheidung auf §§ 41, 50 ZPO.

8.3. Die Kostenentscheidung für das Revisionsverfahren gründet sich auf § 43 Abs 2, § 50 ZPO. Im Übrigen wird auf die Begründung für das erstinstanzliche Verfahren unter 8.1.1. verwiesen.

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