Spruch:
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Text
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft Graz legt Renata P***** mit Anklageschrift vom 20. April 2011 (rechtswirksam seit 9. Februar 2012) als Verbrechen der Untreue nach § 153 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall StGB qualifiziertes Verhalten zur Last.
Mit Schriftsatz vom 22. August 2012 beantragte die Angeklagte, ihr bis spätestens 14 Tage vor Beginn der Hauptverhandlung eine schriftliche Übersetzung sämtlicher Gutachten des Sachverständigen Dr. K***** in ihre Muttersprache Kroatisch zu übermitteln.
Diesen Antrag wies die Vorsitzende des Schöffengerichts mit Beschluss vom (richtig:) 10. September 2012 ab. Der dagegen erhobenen Beschwerde der Angeklagten gab das Oberlandesgericht Graz mit Beschluss vom 4. Oktober 2012, AZ 10 Bs 375/12s, nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Gegen diesen Beschluss richtet sich der ‑ nicht auf ein Erkenntnis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützte und eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art 6 MRK reklamierende ‑ Antrag nach § 363a StPO, welcher sich als unzulässig erweist.
Für einen ‑ wie hier vorliegenden ‑ nicht auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützten Erneuerungsantrag, bei dem es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt, gelten alle gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und Abs 2 MRK sinngemäß (RIS‑Justiz RS0122737). So kann der Oberste Gerichtshof unter anderem erst nach Rechtswegausschöpfung angerufen werden. Dem Erfordernis der Ausschöpfung des Rechtswegs wird entsprochen, wenn von allen effektiven Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht wurde (vertikale Erschöpfung) und die geltend gemachte Konventionsverletzung zumindest der Sache nach in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug vorgebracht wurde (horizontale Erschöpfung; vgl Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention5 § 13 Rz 26 ff, 34 ff).
Der Oberste Gerichtshof hat bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Möglichkeit der Erneuerung eines Strafverfahrens nach § 363a StPO aufgrund eines darauf gerichteten, nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Antrags nicht auf in rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren ergangene (End‑)Entscheidungen beschränkt ist. Subsidiarität in einem solchen Erneuerungsverfahren bedeutet demnach (bloß) Erschöpfung des Instanzenzugs in Ansehung der nach grundrechtlichen Maßstäben zu prüfenden (Einzel‑)Entscheidung. Solcherart können Fehlentwicklungen im noch anhängigen Strafverfahren aufgezeigt und die Grundrechtskonformität einzelner gerichtlicher Entscheidungen im Interesse einer einheitlichen, menschenrechtlichen Standards entsprechenden Rechtsanwendung klargestellt werden (RIS‑Justiz RS0124739).
Kann aber ‑ wie hier, weil die Gutachtenserstattung in der Hauptverhandlung erfolgt, ‑ der unter dem Gesichtspunkt des Art 6 MRK behauptete Verfahrensmangel im Hauptverfahren im Sinn des Art 13 MRK wirksam ausgeglichen werden (RIS‑Justiz RS0126370, RS0122737), ist der Antrag unzulässig, zumal es sich bei einem Erneuerungsantrag um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt (§ 363b Abs 2 Z 2 StPO).
Hier kann der im Hauptverfahren (vor Beginn der Hauptverhandlung) geltend gemachte Anspruch der Angeklagten von dieser ‑ ungeachtet des Vorliegens einer letztinstanzlichen Beschwerdeentscheidung ‑ durch (neuerliche, nach dem Vorbringen bereits erfolgte) Antragstellung in der Hauptverhandlung verbunden mit Urteilsanfechtung nach den Regeln der §§ 238, 281 Abs 1 Z 4 StPO wirksam durchgesetzt werden, wobei die (grundsätzlich mit jeder Anrufung einer weiteren Instanz verbundene) längere Dauer bis zu einem allfälligen Erfolg dieses Vorgehens und die dementsprechend behauptete größere Belastung der Angeklagten ‑ dem Erneuerungsantrag zuwider ‑ die Effektivität der zu ergreifenden Rechtsbehelfe nicht in Frage stellen.
Im Übrigen erweist sich der Antrag als offenbar unbegründet (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO):
Aus Art 6 Abs 3 lit e MRK ergibt sich nicht das Recht auf Übersetzung sämtlicher schriftlicher Beweismittel oder sonstiger Verfahrensdokumente. Der Beschuldigte muss lediglich verstehen, was ihm vorgeworfen wird und er muss dadurch in die Lage versetzt sein, den aus seiner Sicht relevanten Sachverhalt darstellen zu können. Eine Übersetzung schriftlicher Urkunden ist jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn die Urkunden in der mündlichen Verhandlung oder bei der Urteilsverkündung übersetzt werden (EGMR 19. 12. 1989, Kamasinski gg Österreich Nr 9783/82, Z 74, Meyer‑Ladewig, EMRK³ Art 6 Rz 251 mwN). Weil eine schriftliche Übersetzung der Anklage weder von Art 6 Abs 3 lit a noch von Art 6 Abs 3 lit e MRK ausdrücklich gefordert wird, lässt der EGMR mündliche Übersetzungen durchaus zu, soweit die zentrale Bedeutung des Verfolgungsantrags („the crucial role of an indictment in the criminal process“) beachtet und insgesamt ein faires Verfahren gewährleistet wird (EGMR 24. 2. 2009, Protopapa gg Türkei Nr 16084/90; Bachner‑Foregger, WK‑StPO § 56 Rz 26; vgl auch RIS-Justiz RS0109920). Lediglich wenn dies durch bloß mündliche Übersetzung nicht sichergestellt ist, kann daher aus Art 6 MRK ein Anspruch auf schriftliche Übersetzung abgeleitet werden (vgl Kühne, IntKomm EMRK Art 6 Rz 621; Mayer‑Ladewig, EMRK3 Art 6 Rz 250).
Bei grundrechtskonformer Interpretation des § 56 StPO ist somit anzunehmen, dass für bestimmte Unterlagen ein Anspruch des Beschuldigten auf schriftliche Übersetzung besteht, obwohl die genannte Bestimmung in der geltenden Fassung (BGBl I 2004/19) keinerlei Vorgaben enthält, in welcher Form Übersetzungshilfe zu leisten ist (vgl Rabussay, RZ 2011, 268). Mit dem Vorbringen der Antragstellerin, den Gutachten komme im gegenständlichen Wirtschaftsstrafprozess „zentrale Bedeutung“ zu, wird jedoch eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nicht dargelegt.
Im Übrigen hätte die Antragstellerin selbst unter der Prämisse des gegenüber Art 6 MRK strengeren Regelungsinhalts der ‑ nicht unmittelbar anwendbaren ‑ Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl L 280 vom 26. 10. 2010, 1; gemäß Art 9 Abs 1 innerstaatlich bis spätestens 27. Oktober 2013 umzusetzen) eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nicht dargetan.
Gemäß Art 3 Abs 1 und Abs 2 der Richtlinie hat eine verdächtige oder beschuldigte Person, die die Sprache des Strafverfahrens nicht versteht, innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen zu erhalten, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie im Stande ist, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires Verfahren zu gewährleisten, wobei zu den wesentlichen Unterlagen jegliche Anordnung einer Freiheitsentziehung, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil gehören.
Ob neben den nach der Richtlinie jedenfalls schriftlich zu übersetzenden Unterlagen weitere Dokumente wesentlich sind, hat gemäß deren Art 3 Abs 2 die zuständige Behörde im konkreten Fall zu entscheiden. Es liegt somit im Ermessen des zuständigen Gerichts (Art 3 Abs 3 der Richtlinie; Weratschnig, JSt 2010, 143), ob eine schriftliche Übersetzung erforderlich ist. Dabei ist anzunehmen, dass Aktenbestandteile, um einen Anspruch des Beschuldigten auf schriftliche Übersetzung begründen zu können, den jedenfalls schriftlich zu übersetzenden Unterlagen gleichwertig sein müssen.
Dass vorliegend „sämtliche Gutachten des Buchsachverständigen“ einer Anklageschrift gleichwertig wären und die Entscheidung des Oberlandesgerichts somit auf rechtsverletzender Ermessensausübung beruhe, also willkürlich erscheine, ergibt sich aus dem Vorbringen der Antragstellerin nicht.
Der Erneuerungsantrag war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 2 und 3 StPO).
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