OGH 10ObS145/12i

OGH10ObS145/12i23.10.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Hermann Furtner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Stefan Jöchtl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*****, vertreten durch Dr. Charlotte Böhm, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert‑Stifter-Straße 65‑67, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 30. Juli 2012, GZ 8 Rs 10/12t‑17, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2012:010OBS00145.12I.1023.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Text

Begründung

In der gegen den ablehnenden Bescheid vom 13. 1. 2009 zu 6 Cgs 25/09y des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien eingebrachten Klage (im Folgenden: „Vorverfahren“) begehrte der Kläger die Feststellung seiner Schwerhörigkeit als Berufskrankheit und die Gewährung einer Versehrtenrente im Ausmaß von mindestens 20 %. Er sei als Maschineneinsteller in der Metallbranche beschäftigt gewesen und habe mit Hochdruckbohrern zu arbeiten gehabt, wodurch es zu einer massiven Lärmexposition gekommen sei.

Das Begehren auf Zahlung einer Versehrtenrente wurde mit Urteil vom 3. 11. 2009 abgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen für Hals‑, Nasen‑ und Ohrenkrankheiten Dr. A***** H***** sei davon auszugehen, dass beim Kläger eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits bestehe, die ausschließlich berufsbedingt lärminduziert sei. Es sei weder eine Besserung oder Verschlechterung dieser berufsbedingten Schwerhörigkeit zu erwarten. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) aufgrund der Hörstörungen betrage 40 vH. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit gehe in einem Ausmaß von 25 % auf die Tätigkeit des Klägers in Serbien und zu 15 % auf Tätigkeiten bei österreichischen Dienstgebern zurück.

Rechtlich ging das Erstgericht im Vorverfahren davon aus, trotz Anerkennung der Schwerhörigkeit als Berufskrankheit komme die Leistung einer Versehrtenrente nicht in Betracht, weil die auf die berufliche Lärmexposition in Serbien zurückzuführenden Anteile unberücksichtigt zu bleiben hätten, sodass die auf die Berufstätigkeit in Österreich zurückzuführende Minderung der Erwerbsfähigkeit bezogen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt nur 15 vH betrage.

Dieses Urteil ließ der Kläger unangefochten, sodass es in Rechtskraft erwuchs.

Mit Bescheid vom 15. 2. 2011 lehnte die beklagte Partei den (neuerlichen) Antrag des Klägers vom 9. 2. 2011 auf Zuerkennung einer Versehrtenrente mangels Verschlechterung und unter Hinweis auf die Ergebnisse des Vorverfahrens ab.

In seiner gegen diesen Bescheid erhobenen, auf Gewährung einer Versehrtenrente von zumindest 20 vH gerichteten Klage nahm der Kläger den Standpunkt ein, seine berufsbedingte beidseitige Hörstörung sei progredient. Er brachte weiters vor, es sei im Hinblick auf Art 17 und 18 des Abkommens über Soziale Sicherheit zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Jugoslawien nicht zwischen in Serbien und in Österreich geschehener Lärmexposition zu differenzieren.

Die beklagte Partei bestritt und beantragte Klageabweisung.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es beauftragte den bereits im Vorverfahren herangezogenen Sachverständigen für Hals‑, Nasen‑ und Ohrenkrankheiten Dr. A***** H***** mit der Gutachtenserstellung und traf unter Bezugnahme auf dieses Gutachten die ‑ wenngleich teils dislozierten ‑ Feststellungen, eine Verschlechterung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit sei dann nicht mehr denkbar, wenn der Kläger einer beruflich bedingten Lärmexposition nicht mehr ausgesetzt war. Unstrittigerweise sei der Kläger seit dem Vorverfahren nicht mehr lärmexponiert berufstätig gewesen. Bei der als Berufskrankheit im Vorverfahren anerkannten Lärmschwerhörigkeit sei seit Rechtskraft des im Vorverfahren ergangenen Urteils keine Veränderung eingetreten. Es liege eine (medizinische) Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 vH aufgrund der Schwerhörigkeit vor, wovon aber nur ein Anteil von 40 % berufsbedingt sei, sodass die berufsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit 20 vH ausmache (40 % von 50 vH = 20 vH). Der nicht berufsbedingte Anteil an der Schwerhörigkeit sei anlagebedingt.

Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass eine Versehrtenrente aufgrund der im Vorverfahren festgestellten Berufskrankheit erst dann gewährt werden könne, wenn sich die Verhältnisse, die für die Feststellung der Rente maßgeblich gewesen seien, geändert hätten. Eine Änderung bei der durch die Berufskrankheit verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit sei nicht eingetreten. Ob das im Vorverfahren ergangene (rechtskräftige) Urteil inhaltlich richtig gewesen sei, sei nicht zu prüfen. Insbesondere sei nicht zu prüfen, ob es rechtlich korrekt gewesen sei, zwischen Lärmexpositionszeiten in Österreich und Serbien zu differenzieren. Eine allenfalls irrtümlich unrichtige Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Vorverfahren könne nicht im Wege des § 183 ASVG korrigiert werden.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Nach den unbekämpft gebliebenen Feststellungen sei bei der als Berufskrankheit anerkannten Lärmschwerhörigkeit im Vergleich zum Vorverfahren keine Veränderung eingetreten, weshalb keine wesentliche Änderung der Verhältnisse vorläge, die eine Neueinschätzung der Rente ermöglichen würde. Im Rahmen der Verneinung der geltend gemachten Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens infolge Nichteinholung eines zweiten Sachverständigengutachtens aus dem Fachgebiet der Hals‑Nasen‑Ohrenheilkunde führte das Berufungsgericht aus, auch schon im Vorverfahren habe das dort eingeholte ärztliche Sachverständigengutachten das Ergebnis erbracht, dass beim Kläger zwischen anlagebedingter und durch berufsbedingten Lärm induzierter Schwerhörigkeit zu differenzieren sei und insgesamt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 vH bestehe, wobei der berufsbedingte Anteil an der (gesamten) Hörstörung mit nur 40 % beziffert worden sei; der restliche Anteil sei anlagebedingt. Rein rechnerisch ergebe sich daher eine berufsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH. Von dieser entfielen ‑ laut den Ausführungen des Sachverständigen im Vorverfahren ‑ 25 % auf die Tätigkeit des Klägers in Serbien und 15 % auf seine Tätigkeit in Österreich. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von 40 vH ergebe sich auch im Vorverfahren nicht aus dem Sachverständigengutachten, sondern nur ein 40%iger berufsbedingter Anteil an der an sich gegebenen Minderung der Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von 50 vH. Ebenso wie im Vorverfahren sei der Sachverständige auch im nunmehrigen Verfahren von einer gesamten Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 vH ausgegangen und habe unter Annahme eines berufsbedingten Anteils von 40 % an der Gesamthörstörung eine berufskausale Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH errechnet (ohne Differenzierung zwischen berufsbedingter Lärmexposition in Serbien und Österreich). Die medizinische Beurteilung des Gehörleidens im vorliegenden Verfahren stimme somit völlig mit der Beurteilung im Vorverfahren überein. Eine kausale Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH habe somit schon im Zeitpunkt der Entscheidung im Vorverfahren bestanden. Dass die Entscheidung im Vorverfahren möglicherweise sowohl aufgrund der dort geschehenen missverständlichen Folgerungen aus dem Sachverständigengutachten wie auch in rechtlicher Hinsicht unrichtig war, könne mangels Änderung im Gesundheitszustand nicht im Wege einer Neufestsetzung der Rente korrigiert werden. Auf die Frage, inwieweit rechtlich eine Differenzierung der Berufskrankheit nach Arbeitszeiten in Österreich und Arbeitszeiten in Serbien im Vorverfahren zulässig gewesen sei, brauche nicht eingegangen werden.

Rechtliche Beurteilung

In seiner außerordentlichen Revision zeigt der Revisionswerber keine Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf:

1.1. Gemäß § 183 Abs 1 ASVG hat der Träger der Unfallversicherung bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse, die für die Feststellung einer Rente maßgebend waren, auf Antrag oder von Amts wegen die Rente neu festzustellen. Als wesentlich gilt eine Änderung der Verhältnisse nur, wenn durch sie die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch mehr als drei Monate um mindestens 10 vH geändert wird, durch die Änderung ein Rentenanspruch entsteht oder wegfällt (§§ 203, 210 Abs 1 ASVG) oder die Schwerversehrtheit entsteht oder wegfällt (§ 205 Abs 4 ASVG). Eine „wesentliche Änderung der Verhältnisse“ iSd § 183 Abs 1 ASVG kann eine wesentliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse sein. Eine Änderung der Rechtslage (zB zwischenzeitiges Inkrafttreten eines AbkSozSi) liegt nicht vor und wird auch vom Kläger nicht behauptet. Zum Vergleich dafür, ob eine wesentliche Änderung der Verhältnisse (im Tatsächlichen) eingetreten ist, ist der Tatsachenkomplex heranzuziehen, der jener Entscheidung zugrunde lag, deren Rechtskraftwirkung bei unveränderten Verhältnissen einer Neufeststellung der Rente im Wege stünde (RIS‑Justiz RS0084151).

1.2. Die Bestimmung des § 183 Abs 1 ASVG hängt unmittelbar mit der Rechtskraft von Bescheiden im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung zusammen. Es werden in dieser Norm bestimmte Voraussetzungen statuiert, unter denen die Rechtskraft von Bescheiden innerhalb von bestimmten Grenzen ihre Wirksamkeit verliert, wobei sich § 183 Abs 1 ASVG nicht nur auf durch Bescheid der Unfallversicherungsträger festgestellte Renten bezieht, sondern auch dann anzuwenden ist, wenn ein Urteil oder Vergleich im gerichtlichen Verfahren den Rechtsgrund der Rente bildet (RIS‑Justiz RS0084189). In Ermangelung einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse gemäß § 183 Abs 1 ASVG steht somit die Rechtskraft der Vor-Entscheidung (Bescheid, Urteil, Vergleich) einer Neubemessung im Wege (Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen 568).

1.3. Somit kann auch eine früher unrichtige Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht im Wege des § 183 Abs 1 ASVG korrigiert werden (RIS‑Justiz RS0084151 [T2]; RS0084142). Dies gilt nicht nur dann, wenn die Minderung der Erwerbsfähigkeit in der früheren Entscheidung zu hoch eingeschätzt wurde, sondern auch im Falle einer zu niedrigen Einschätzung (10 ObS 320/01h; 10 ObS 336/89, SSV‑NF 3/140). Eine unrichtige Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in der rechtskräftigen Vorentscheidung bildet keinen Anlass für eine Neueinschätzung (vgl RIS‑Justiz RS0110119), sondern könnte nur dann von Bedeutung sein, wenn eine Besserung oder Verschlechterung des Zustands eingetreten wäre (10 ObS 336/89, SSV‑NF 3/140 = RIS‑Justiz RS0084151 [T1]).

1.4. Bei der Beurteilung, ob eine wesentliche Änderung des Tatsachenkomplexes vorliegt, der für die (letzte) Feststellung der Rente maßgebend war, sind die Verhältnisse, die der früheren Entscheidung zugrundelagen, mit denen zu vergleichen, die zum nunmehr maßgeblichen Datum gegeben sind (RIS‑Justiz RS0084226).

2. In Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen der Rechtsprechung legten die Vorinstanzen ihren Entscheidungen zugrunde, dass ein Vergleich zwischen den Verhältnissen seit Rechtskraft der Entscheidung im Vorverfahren und dem Zeitpunkt der nunmehrigen Antragstellung keine wesentliche Änderung im Tatsächlichen erbracht hat und mangels wesentlicher Änderung der objektiven Grundlagen der Entscheidung die Rechtskraft der Entscheidung im Vorverfahren der Gewährung der Rente entgegensteht. Die unrichtige Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in der Vorentscheidung wäre nur bei einer seit der Entscheidung im Vorverfahren eingetretenen Änderung im Hörvermögen maßgeblich, von der der Kläger in seiner Revisionsschrift aber selbst nicht ausgeht.

3. Wie bereits ausgeführt (siehe Pkt 1.1) kann eine „wesentliche Änderung der Verhältnisse“ iSd § 183 Abs 1 ASVG auch eine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse sein. Eine Änderung der Rechtslage (zB zwischenzeitiges Inkrafttreten eines AbkSozSi) liegt nicht vor und wird auch vom Kläger nicht behauptet. Ein allfälliger Rechtsirrtum des Klägers stellt jedoch keine Änderung der für das in Rechtskraft erwachsene Urteil im Vorverfahren maßgebenden Rechtslage dar. Keine maßgebliche Bedeutung kommt daher dem Umstand zu, dass der Kläger die im Vorverfahren ergangene Entscheidung unbekämpft ließ, mittlerweile aber zur Ansicht gelangt ist, ein gegen diese Entscheidung eingebrachtes Rechtsmittel wäre im Hinblick auf Art 17 und 18 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Jugoslawien über die Soziale Sicherheit BGBl III 2002/100 erfolgreich gewesen (siehe dazu Art 18 Abs 1 des Abkommens, nach dem die Berufskrankheit bei Expositionszeiten in beiden Vertragsstaaten nur nach den Rechtsvorschriften des Vertragsstaates zu entschädigen ist, nach dessen Rechtsvorschriften die letzte Expositionszeit zurückgelegt wurde, wobei die nach den Rechtsvorschriften des jeweils anderen Vertragsstaates zurückgelegten Expositionszeiten nach Art 17 Abs 2 des Abkommens wie eigene Expositionszeiten zu berücksichtigen sind ‑ Siedl/Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Serbien1, Art 18 Fn 1).

4. Nach ständiger Rechtsprechung hat das Gericht im Verfahren über die Neubemessung oder Entziehung einer Leistung unabhängig von den im Zuerkennungsverfahren vom Sozialversicherungsträger allenfalls getroffenen Feststellungen eigene Feststellungen über die maßgeblichen Zustände im Zuerkennungszeitpunkt zu treffen (10 ObS 163/09g, SSV‑NF 23/78 mwN). Dies erklärt sich daraus, dass sich die materielle Rechtskraft auf die Sachlage bezieht, wie sie im Zeitpunkt der Entscheidung objektiv vorlag, nicht jedoch auf den Sachverhalt, den der Unfallversicherungsträger seiner Entscheidung zugrunde legte. Es kommt also nicht darauf an, von welchen Verhältnissen der Unfallversicherungsträger ausgegangen ist, was also bei Erlassung des Bescheids subjektiv für ihn maßgeblich war (vgl 10 ObS 326/99k, SSV‑NF 14/51 mwN zu § 99 ASVG).

5. Die Bekämpfung der Sachverhaltsfeststellungen der Tatsacheninstanzen ist in dritter Instanz nicht möglich (RIS‑Justiz RS0108449). An diesem Grundsatz muss der Versuch der Revision scheitern, die aufgrund des medizinischen Sachverständigengutachtens getroffenen Feststellungen in Frage zu stellen. Der Revisionswerber vermag keinen Verstoß des von den Vorinstanzen herangezogenen ärztlichen Gutachtens gegen zwingende Denkgesetze oder zwingende Gesetze des sprachlichen Ausdrucks darzulegen (RIS‑Justiz RS0040579 [T1]).

Da der Kläger in seiner Revision keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufzeigt, war die außerordentliche Revision zurückzuweisen.

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