OGH 2Ob114/11w

OGH2Ob114/11w24.4.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Sol, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E***** M*****, vertreten durch Mag. Stefan Weiskopf und Dr. Rainer Kappacher, Rechtsanwälte in Landeck, gegen die beklagte Partei U***** AG, *****, vertreten durch Dr. Berndt Schön, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 32.756,21 EUR sA, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Zwischenurteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 4. Mai 2011, GZ 4 R 91/11f-12, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 8. März 2011, GZ 41 Cg 184/10t-8, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 5.583,96 EUR (darin 724,71 EUR USt und 1.234 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der 1951 geborene Kläger wurde am 15. 6. 2004 als Radfahrer von einem bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten Pkw von hinten erfasst, von der Fahrbahn geschleudert und dabei so schwer verletzt, dass er seither arbeitsunfähig ist. Das Alleinverschulden der Pkw-Lenkerin ist unstrittig.

Der Kläger war zum Unfallszeitpunkt bei einer Bausparkasse beschäftigt, wo er in seinem letzten vollen Arbeitsjahr (2003) ein Nettoeinkommen von 65.197,68 EUR (bestehend aus Fixbetrag, Provisionen und pauschalen Reisekostenvergütungen) bezog. Seit 1. 7. 2005 erhält er eine Berufsunfähigkeitspension. Der sich aus der Differenz zu seinem (fiktiven) Erwerbseinkommen ergebende Verdienstentgang wird von der beklagten Partei abgegolten.

Der Schwiegersohn des Klägers, der zum Unfallszeitpunkt als Mechaniker unselbständig erwerbstätig war, entschloss sich im Jahr 2007, ein eigenes Unternehmen (Kfz-Werkstätte, Kfz-Handel, Kfz-Spenglerei, Kfz-Lackiererei, Abschleppungen etc) zu gründen, wozu es großer Investitionen bedurfte. Um das Eigenkapital des Unternehmens zu stärken, vereinbarten der Kläger, dessen Ehegattin, die Tochter und der Schwiegersohn mit Zusammenschlussvertrag vom 8. 11. 2007 die Errichtung einer atypischen stillen Gesellschaft. Die drei erstgenannten Gesellschafter verpflichteten sich zu Bareinlagen (der Kläger in Höhe von 135.000 EUR) und sollten laut Vertrag „am Vermögen, Gewinn und Verlust, an einem allfälligen Liquidationserlös sowie an den stillen Reserven“ beteiligt sein (der Kläger zu 24,5 %).

Im Einkommenssteuerbescheid für das Jahr 2008 sind die Verluste des Klägers aus dem Gewerbebetrieb mit 81.247,99 EUR angeführt. Berücksichtigt wurden weiters die Einkünfte des Klägers, die aus den Zahlungen der Pensionsversicherungsanstalt in Höhe von 23.059,58 EUR und den steuerfreien Verdienstentgangszahlungen der beklagten Partei in Höhe von 45.957,45 EUR resultierten. Auf dieser Grundlage ergab sich eine Abgabengutschrift von 4.993,13 EUR.

Den Nettoeinkünften von 69.017,03 EUR hätte - wäre der Kläger weiterhin erwerbstätig gewesen - ein Bruttobezug von 116.630 EUR entsprochen, worin an Lohnsteuer 37.749,34 EUR enthalten gewesen wären.

Der Kläger begehrte von der beklagten Partei aus dem Titel des Verdienstentgangs den Ersatz von 32.756,21 EUR sA. Ohne den Unfall hätte er statt der Zahlung des Nettoverdienstentgangs ein Bruttogehalt bezogen. In diesem Fall hätte er unter Berücksichtigung der Verlustzuweisungen aus seiner stillen Beteiligung an einem Kfz-Betrieb für das Jahr 2008 eine Steuergutschrift von 37.749,34 EUR erhalten. Durch Abzug der tatsächlichen Gutschrift errechne sich der Klagsbetrag.

Die beklagte Partei wandte ein, sie habe die sie treffende Schadenersatzverpflichtung zur Gänze erfüllt. Der Kläger begehre nicht ersatzfähige „fiktive Steuern“ und keinen Verdienstentgang.

Nach Einschränkung der Verhandlung auf den Grund des Anspruchs wies das Erstgericht das Klagebegehren ab.

Es stützte sich auf den eingangs zusammengefasst wiedergegebenen Sachverhalt und erörterte rechtlich, die beklagte Partei erfülle mit der Zahlung des Nettoverdienstentgangs ihre Schadenersatzpflicht. Fiktive Steuern seien nicht zu ersetzen. Dazu komme, dass nur der Entgang jenes Verdienstes zu ersetzen sei, den der Verletzte nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge hätte erzielen können. Dies treffe angesichts der Verlustzuweisungen aus einer erst nach dem Unfall gegründeten stillen Gesellschaft nicht zu.

Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung dahin ab, dass es mit Zwischenurteil das Klagebegehren dem Grunde nach als zu Recht bestehend erkannte. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Das Berufungsgericht führte aus, der konkret zu berechnende Verdienstentgang sei positiver Schaden. Alle aus der Körperverletzung resultierenden, im Rechtswidrigkeitszusammenhang stehenden und adäquat verursachten Schäden seien zu ersetzen. Bei der Berechnung von Verdienstentgangsansprüchen sei zur Berücksichtigung der durch die Ersatzleistung entstehenden Abgaben und Steuern auf jenen Veranlagungszeitraum abzustellen, für den der jeweilige Verdienstentgang fällig sei, wobei grundsätzlich auch zunächst nicht vorhersehbare steuerliche Nachteile ersatzfähig seien. Dass die stille Beteiligung vom Kläger deshalb eingegangen wurde, um mittels Verlustzuweisungen nachträglich einen weiteren zu ersetzenden Schaden „zu produzieren“, habe die beklagte Partei nicht vorgebracht und gehe auch aus den Feststellungen nicht hervor. Ohne das schädigende Ereignis vom 15. 6. 2004 hätte der Kläger im Jahr 2008 ein höheres Bruttoeinkommen zu versteuern gehabt. Dies hätte im Hinblick auf die vorgenommene Verlustzuweisung zu einer höheren Steuergutschrift führen können. Der Anspruch des Klägers auf Ersatz von weiterem Verdienstentgang für das Jahr 2008 in Form des Verlusts einer Steuergutschrift sei daher grundsätzlich ersatzfähig. Die Höhe werde noch zu klären sein. Ein Zwischenurteil über den Anspruchsgrund könne auch schon dann erlassen werden, wenn noch strittig sei, ob der Klagsanspruch überhaupt mit irgendeinem Betrag zu Recht bestehe.

Gegen diese Berufungsentscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Abänderungsantrag, das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung, das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen, in eventu ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht bei der Zurechnung der behaupteten Schadensfolge Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs unberücksichtigt ließ. Sie ist auch berechtigt.

Die beklagte Partei macht ua geltend, die dem Kläger zugewiesenen Verluste lägen außerhalb ihrer Einflusssphäre und stünden mit der von ihr zu erbringenden Schadenersatzleistung in keinem Zusammenhang. Steuerliche Belastungen, die der Kläger unabhängig vom Schadensereignis zu tragen habe, seien jedoch unbeachtlich. Die Gesellschaftsbeteiligungen des Klägers seien dessen „Privatvergnügen“ und könnten nicht zu Lasten des Schädigers gehen.

Hierzu wurde erwogen:

1. Verdienstentgang ist nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich positiver Schaden und nicht bloß entgangener Gewinn (RIS-Justiz RS0030425). Der Verlust einer Erwerbschance ist dann positiver Schaden, wenn der Geschädigte im Zeitpunkt der schädigenden Handlung (vgl Reischauer in Rummel, ABGB³ II/2a § 1293 Rz 12a) eine rechtlich gesicherte Position auf Verdienst hatte oder der Verdienst zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit eingetreten wäre (2 Ob 268/06k; RIS-Justiz RS0030726 [T2]; Reischauer aaO § 1293 Rz 7f). Letzteres würde voraussetzen, dass die Realisierung der Erwerbschance nach den typischen Marktverhältnissen praktisch gewiss gewesen, der Gewinn „im Verkehr“ also schon als sicher angesehen worden wäre (2 Ob 191/07p mwN; RIS-Justiz RS0111898 [T1]).

2. Nach diesen Kriterien ist der als Verdienstentgang bezeichnete Verlust einer höheren Steuergutschrift nicht als positiver Schaden zu qualifizieren:

Der Kläger war zum Zeitpunkt des Unfalls (15. 6. 2004) unselbständig erwerbstätig, ebenso sein Schwiegersohn. Dieser fasste erst im Jahr 2007 den Entschluss, ein Unternehmen zu gründen. Der Zusammenschlussvertrag stammt vom 8. 11. 2007. Dafür, dass die Unternehmensgründung und eine Beteiligung des Klägers als atypischer stiller Gesellschafter schon vor dem Unfall auch nur erwogen worden wäre, bieten die Feststellungen keinen Anhaltspunkt. Die gesicherte Rechtsposition des Klägers beschränkte sich somit auf sein Erwerbseinkommen als Angestellter. Der ihm insoweit erwachsene Verdienstentgang ist positiver Schaden, der von der beklagten Partei auch abgegolten wird. Die Frage, ob dabei auch die aufgrund dieser Schadenersatzleistungen entstandenen Abgänge an Steuern und sonstigen etwaigen Abzugsposten berücksichtigt werden (vgl 2 Ob 228/08f mwN; RIS-Justiz RS0031017), ist hier nicht zu erörtern, weil der Kläger einen solchen Steuerschaden nicht geltend gemacht hat. Seine diesbezüglichen Überlegungen in der Revisionsbeantwortung können daher auf sich beruhen. Davon, dass der Kläger zum Unfallszeitpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Steuergutschrift aus einer künftigen Beteiligung als atypischer stiller Gesellschafter erwarten durfte, kann nach dem oben Gesagten ebenfalls keine Rede sein.

3. Der Kläger begehrt den Ersatz seines subjektiv-konkret berechneten Interesses, indem er die tatsächliche Entwicklung seines Vermögens jener, wie sie ohne das schädigende Ereignis eingetreten wäre, gegenüberstellt (vgl Karner in KBB³ § 1293 Rz 9). Eine Voraussetzung für diesen Ersatzanspruch wäre grobes Verschulden der Pkw-Lenkerin (§ 1324 ABGB; Karner aaO Rz 9; Danzl in KBB³ § 1324 Rz 1). Dieses wurde zwar nicht explizit behauptet, könnte aber durchaus zu bejahen sein. Vor der abschließenden Klärung dieser den Grund des Anspruchs betreffenden Frage käme aber die Erlassung eines Zwischenurteils nicht in Betracht (vgl 2 Ob 268/06k).

Eine entsprechende Verfahrensergänzung erweist sich jedoch als entbehrlich, wie im Folgenden noch näher darzustellen sein wird. Vorrangig ist nämlich die Prüfung der in der Revision inhaltlich relevierten („Privatvergnügen“) Frage, ob der behauptete Vermögensnachteil dem Schädiger noch zugerechnet werden kann.

4. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kann die Zurechnung einer Schadensfolge trotz Bejahung der Adäquanz dann nicht mehr gerechtfertigt sein, wenn die Schadensfolge auf einem selbständigen, durch den haftungsbegründenden Vorgang nicht herausgeforderten Entschluss des Klägers beruhte, der sie deshalb auch allein zu verantworten hat (2 Ob 205/08y; 3 Ob 192/10x; RIS-Justiz RS0022912). In diesem Sinne wurde die Zurechnung etwa in einem Fall verneint, in welchem der Geschädigte seine sichere Anstellung wegen des von ihm als unerträglich empfundenen Arbeitsklimas aufgab, um sich selbständig zu machen, danach aber Einkommenseinbußen erlitt (2 Ob 205/08y).

In der soeben zitierten Entscheidung hatte sich der Oberste Gerichtshof auch auf Rechtsprechung des deutschen Bundesgerichtshofs zu einem ähnlich gelagerten Sachverhalt - der Geschädigte war in den Betrieb seines Bruders gewechselt, der bald wieder geschlossen werden musste - gestützt (BGH VI ZR 2/91 = VersR 1991, 1293). Lägen eindeutige Umstände dafür vor, dass der Verletzte mit der Entscheidung zu einem Berufswechsel seinen künftigen beruflichen Lebensweg vom Unfallereignis losgelöst und dem Bereich des eigenen Lebensrisikos überantwortet habe, handle der Verletzte auf eigenes Risiko (vgl dazu auch Knerr in Geigel, Der Haftpflichtprozess26 Kap I Rn 30).

5. Im vorliegenden Fall stand der Willensentschluss des Klägers, sich an dem neu gegründeten Unternehmen seines Schwiegersohns als atypischer stiller Gesellschafter zu beteiligen, mit dem Unfallgeschehen und dem Verlust seiner Erwerbsfähigkeit in keinem Zusammenhang. Ausgelöst wurde dieser Entschluss nicht durch das schädigende Ereignis oder die Schadensentwicklung, sondern durch die berufliche Neuorientierung des Schwiegersohns. Damit nahm der Kläger auch das Risiko von Anlaufverlusten des neu gegründeten Unternehmens und die damit verbundenen Verlustzuweisungen samt den nachteiligen steuerlichen Folgen in Kauf. Unter diesen Umständen muss aber die Zurechnung des geltend gemachten Vermögensschadens - selbst wenn man den adäquaten Kausalzusammenhang bejahen würde - jedenfalls daran scheitern, dass der den zusätzlichen Schaden herbeiführende Willensentschluss des Klägers der vom Schädiger geschaffenen Gefahrenlage weit, wenn nicht zur Gänze entrückt ist (vgl BGH VI ZR 2/91; Knerr aaO Kap I Rn 30).

6. Aus den dargelegten Erwägungen ist in Stattgebung der Revision das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO. Für die Berufungsbeantwortung ist ein Einheitssatz von lediglich 150 % (statt der verzeichneten 200 %) zuzuerkennen.

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