Spruch:
Dem Antrag wird stattgegeben. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 7. April 2011, AZ 21 Bs 407/10x, wird aufgehoben und die Sache an dieses Gericht zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof gemäß Art 89 Abs 2 zweiter Satz B‑VG betreffend die Wortfolge „bezieht sich jedoch nicht auf Ton‑ oder Bildaufnahmen und“ in § 52 Abs 1 StPO verwiesen.
Text
Gründe:
Am 9. Juni 2010 brachte die Staatsanwaltschaft Wien beim Landesgericht für Strafsachen Wien die Anklageschrift vom 21. Mai 2010, AZ 44 St 13/10s (ON 10), gegen Oliver P***** und 92 weitere Personen wegen des Vergehens des Landfriedensbruchs nach § 274 Abs 1 und 2 erster und zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen ein (AS 3 in ON 1, ON 10).
Mit einem am 21. September 2010 beim Landesgericht für Strafsachen Wien eingelangten Schriftsatz beantragten die Angeklagten Johannes Po*****, Benjamin Pos*****, Andreas A*****, Markus B*****, Christian Br*****, Markus G*****, Alexander Gr*****, Johann H*****, Constantin Ha*****, Johann J*****, Andreas K*****, Thomas L*****, Martin Le*****, Simon O*****, Alexander Ot*****, Michael Pf*****, Wolfgang Pi*****, Christoph R*****, Christian S***** und Kurt Z***** durch ihren Verteidiger die Herstellung und Ausfolgung einer Kopie der sichergestellten Videoaufzeichnungen gegen Ersatz der Kosten (ON 72).
Dieser Antrag wurde mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 24. September 2010 abgewiesen (ON 75). Der dagegen erhobenen Beschwerde der Antragsteller gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 7. April 2011 nicht Folge (ON 100).
Im Antrag gemäß § 363a Abs 1 StPO wird zusammengefasst vorgebracht, Erst‑ und Beschwerdegericht hätten gegen das gemäß Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit b MRK verfassungsmäßig geschützte Recht auf ein faires Verfahren verstoßen, indem sie ihre Entscheidungen auf § 52 Abs 1 StPO stützten, wonach sich das Recht auf Herstellung von Kopien nicht auf Ton- oder Bildaufnahmen beziehe. Diese Bestimmung stehe „in der strikten und engen Interpretation“ des Beschwerdegerichts mit Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit b MRK und dem Sachlichkeitsgebot sowie dem Willkürverbot nach Art 2 StGG nicht im Einklang. Das Oberlandesgericht wäre ‑ wenn es sich zu einer verfassungskonformen Interpretation nicht in der Lage sehe ‑ verpflichtet gewesen, gemäß Art 89 Abs 2 B‑VG beim Verfassungsgerichtshof einen Antrag auf Aufhebung des letzten Satzes (gemeint sichtlich: der Passage „bezieht sich jedoch nicht auf Ton‑ oder Bildaufnahmen und“) des § 52 Abs 1 StPO zu stellen. In eventu wird die Einleitung eines Normanfechtungsverfahrens gemäß Art 89 Abs 2 B‑VG durch den Obersten Gerichtshof beantragt.
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:
Steht die Verfassungskonformität einer Norm als solche in Frage, hat der Antragsteller unter dem Aspekt der Rechtswegausschöpfung anlässlich der Beschwerde auf die Verfassungswidrigkeit des angewendeten Gesetzes hinzuweisen, um so das Rechtsmittelgericht zu einem Vorgehen nach Art 89 Abs 2 B‑VG zu veranlassen (11 Os 132/06f, EvBl 2008/8, 32). Diesem Erfordernis haben die Antragsteller entsprochen. Auch die sonstigen gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK, welche sinngemäß auch für Anträge auf Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO, denen kein Erkenntnis des EGMR zu Grunde liegt, gelten (13 Os 135/06m, EvBl 2007/154, 832), sind erfüllt. Insbesondere besteht ein subjektives Recht, den Obersten Gerichtshof wegen unterlassener Normanfechtung durch das Rechtsmittelgericht anzurufen (vgl 13 Os 173/08b, EvBl‑LS 2009/63, 380; 11 Os 21/10p, 58/10d, EvBl 2010/122, 824).
Der Angeklagte muss gemäß Art 6 Abs 3 lit b MRK über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung verfügen (vgl Grabenwarter, EMRK4 § 24 Rz 100 ff). Einer diesbezüglichen Grundrechtsverletzung vor der Hauptverhandlung kann er in dieser durch eine Antragstellung, die auf Erkundungsbeweise gerichtet wäre, nicht wirksam iSd Art 13 MRK begegnen (vgl Ratz, ÖJZ 2010, 986 f; 11 Os 119/10z, EvBl 2011/41, 274 = JBl 2011, 608; RIS‑Justiz RS0097230 [T3]).
Dem vorliegenden Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO kommt auch Berechtigung zu.
Gemäß § 51 Abs 1 StPO ist der Beschuldigte (Angeklagte, § 48 Abs 2 StPO) berechtigt, in die der Kriminalpolizei, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht vorliegenden Ergebnisse des Ermittlungs- und des Hauptverfahrens Einsicht zu nehmen. Das Recht auf Akteneinsicht berechtigt auch dazu, Beweisgegenstände in Augenschein zu nehmen, soweit dies ohne Nachteil für die Ermittlungen möglich ist.
Soweit dem Beschuldigten (Angeklagten) Akteneinsicht zusteht, sind ihm auf Antrag und gegen Gebühr Kopien (Ablichtungen oder andere Wiedergaben des Akteninhalts) auszufolgen oder herstellen zu lassen; dieses Recht bezieht sich jedoch nicht auf Ton- oder Bildaufnahmen (§ 52 Abs 1 StPO).
Festzuhalten ist, dass das Landesgericht für Strafsachen Wien den Zugang zu den Videoaufzeichnungen nicht verwehrt, die Antragsteller vielmehr auf die Möglichkeit des Augenscheins während der Amtsstunden hingewiesen hat (S 3 in ON 75).
In Übereinstimmung mit den Antragstellern bestehen Bedenken an der Verfassungskonformität des generellen Ausschlusses des Rechts, Kopien von Ton‑ oder Bildaufnahmen zu erhalten:
Zum Fairnessgebot des Art 6 Abs 1 MRK gehören Teilgewährleistungen wie der Grundsatz der Waffengleichheit und das Recht auf Akteneinsicht (Grabenwarter, EMRK4 § 24 Rz 60 f mN). Der Angeklagte muss gemäß Art 6 Abs 3 lit b MRK über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung verfügen. Dies erfordert auch in bestimmtem Umfang den Zugang zu Beweismaterial (Grabenwarter aaO Rz 100 und 102 mN). In jüngerer Rechtsprechung betonte der EGMR, aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens ergebe sich auch das Recht des Angeklagten, erforderlichenfalls Kopien von Aktenteilen zu erhalten (EGMR 18. 3. 1997, Foucher gegen Frankreich, Nr 10/1996/629/812; EGMR 24. 4. 2007, Matyjek gegen Polen, Nr 38184/03; EGMR 15. 1. 2008, Luboch gegen Polen, Nr 37469/05; EGMR 9. 10. 2008, Moiseyev gegen Russland, Nr 62936/00; EGMR 26. 11. 2009, Dolenec gegen Kroatien, Nr 25282/06; Meyer‑Ladewig, EMRK³ Art 6 Rz 115). Es ist davon auszugehen, dass der vom EGMR gebrauchte Begriff „case materials“ (EGMR 9. 10. 2008, Moiseyev gegen Russland, Nr 62936/00) sich auf alle Aktenstücke, seien diese nun schriftlich oder audio‑visueller Natur, bezieht (vgl auch EGMR 26. 7. 2011, Huseyn und andere gegen Aserbaidschan, Nr 35485/05, 45553/05, 35680/05 und 36085/05).
Dass § 52 Abs 1 StPO das Recht, Kopien von Ton‑ oder Bildaufnahmen zu erhalten, ausnahmslos verneint, solcherart eine Abwägung von Verteidigungsinteressen gegen ‑ der Ausfolgung einer Kopie allenfalls entgegenstehende ‑ schutzwürdige Interessen Dritter (Art 8 MRK; vgl 14 Os 95/09s) ausschließt, erweckt Bedenken (Art 89 Abs 2 B‑VG) im Hinblick auf die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit dem Recht auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit b MRK und allenfalls ‑ soweit die Regelung eine differenzierende Betrachtung für jene Fälle, in denen (wie hier) Ton‑ und Bildaufnahmen im Verfahren eine zentrale Rolle als Beweismittel spielen, nicht zulässt ‑ mit dem Gleichheitssatz nach Art 2 StGG (Art 7 Abs 1 B‑VG; vgl Mayer, B‑VG4 Art 2 StGG IV.2.).
Ein in zweiter Instanz zur Entscheidung berufenes Oberlandesgericht hat nach Art 89 Abs 2 zweiter Satz B‑VG bei Bedenken gegen die Anwendung eines Gesetzes aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit den Antrag auf Aufhebung dieses Gesetzes beim Verfassungsgerichtshof zu stellen.
Indem das Oberlandesgericht Wien als Beschwerdegericht § 52 Abs 1 StPO in einer mit (Angeklagten zukommenden) Konventionsgarantien unvereinbaren Weise angewendet und trotz der vorstehend aufgezeigten ‑ nach objektiven Gesichtspunkten vorliegenden (RIS‑Justiz RS0108286; Mayer, B‑VG4 Art 89 III.1.) ‑ Bedenken eine Antragstellung nach Art 89 Abs 2 zweiter Satz B‑VG unterlassen hat, wurden die Antragsteller in ihrem Recht auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit b MRK verletzt (vgl Reindl‑Krauskopf, WK‑StPO § 363a Rz 32). Das Verfahren war daher gemäß § 363b Abs 3 erster Satz StPO in der im Spruch bezeichneten Weise zu erneuern.
Es bleibt zur Klarstellung anzumerken, dass die vom Beschwerdegericht vertretene Rechtsansicht, durch das fehlende Recht auf Kopien von Ton‑ oder Bildaufnahmen werde eine „effektive Verteidigung“ „nicht eingeschränkt“ (BS 3) und Art 6 Abs 3 lit b MRK gewähre (generell) keinen „Anspruch auf Bereitstellung von Aktenkopien“ (BS 5), aus den dazu zitierten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs (14 Os 95/09s und 13 Os 176/08v) nicht abzuleiten ist.
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