Spruch:
Die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 20. August 2008, GZ 353 HR 200/08s-23, und des Oberlandesgerichts Wien vom 17. Oktober 2008, AZ 17 Bs 302/08y, verletzen § 52 Abs 1 StPO.
Text
Gründe:
Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 16. Dezember 2008, GZ 034 Hv 56/08i-35, wurde Daniel L***** des Vergehens der pornographischen Darstellungen Minderjähriger nach § 207a Abs 3 erster Fall StGB idF BGBl I Nr 15/2004 schuldig erkannt, weil er „seit einem nicht festzustellenden Zeitpunkt bis zum 10. Juli 2007 in Wien pornographische Darstellungen minderjähriger Personen verschafft und besessen hatte, indem er 21 Bilddateien und 10 Videodateien (exemplarisch auf S 13 - 21 in ON 20 dargestellt) aus dem Internet heruntergeladen und auf diversen Datenträgern abgespeichert hatte". Die „inkriminierten Gegenstände" wurden gemäß § 26 Abs 1 StGB eingezogen.
Im Zuge vorangegangener Ermittlungen wurden anlässlich einer Hausdurchsuchung in der Wohnung des Daniel L***** ein PC, zwei Laptops, zwei USB-Festplatten und weitere Datenträger sichergestellt (ON 8). In der Folge wurden zumindest 16 Bilddateien und 10 Videodateien mit kinderpornographischem Inhalt gesichert, wovon teilweise Ausdrucke oder Screenshots angefertigt wurden (ON 20 S 11 bis 21). Die von Daniel L***** beantragte Ausfolgung von Kopien der Ausdrucke der kinderpornographischen Bilddateien hat die Staatsanwaltschaft verweigert (ON 20 S 3).
Im dagegen erhobenen Einspruch wegen Rechtsverletzung wurde vorgebracht, dass der Verteidiger stets und vor allem davor auch im gegenständlichen Verfahren Kopien von im Akt erliegenden Ausdrucken inkriminierter Bilddateien erhalten habe. Die Bilder würden den zentralen Gegenstand der verfahrensgegenständlichen Anschuldigungen wiedergeben und müssten dem Verteidiger zur ordnungsgemäßen Verteidigung bei ungestörten Besprechungen mit dem Mandanten, beim Verfassen von Schriftsätzen und während einer Beschuldigtenvernehmung oder in der Hauptverhandlung ständig zur Verfügung stehen. Die Einholung eines Privatgutachtens sei nur anhand von ausgefolgten Kopien möglich. Die Ausdrucke seien keine Bildaufnahmen im Sinn des § 52 Abs 1 letzter Halbsatz StPO, weil der hinter dieser Bestimmung stehende Schutz vor Veröffentlichung von Aufnahmen durch § 207a StGB gewährleistet sei. Unter Berufung auf disziplinäre Verantwortlichkeit sicherte der Verteidiger zu, inkriminiertes Bildmaterial nicht an Daniel L***** auszufolgen.
Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 20. August 2008, GZ 353 HR 200/08s-23, wurde dem - von der Staatsanwaltschaft mit ablehnender Stellungnahme dem Gericht zugeleiteten - Einspruch wegen Rechtsverletzung Folge gegeben und der Staatsanwaltschaft aufgetragen, dem Beschuldigten zu Handen seines Verteidigers die begehrte vollständige Aktenabschrift „einschließlich von Kopien der im Akt erliegenden Ausdrucke der inkriminierten Bilddateien" auszufolgen. Begründend wurde ausgeführt, dass Ausdrucke oder Kopien von Bilddateien oder von Screenshots von Videodateien keine Ton- oder Bildaufnahmen im Sinn des § 52 Abs 1 letzter Satz StPO wären und ihr Besitz in Ausübung der Verteidigungsrechte gerechtfertigt sei.
Einer dagegen gerichteten Beschwerde der Staatsanwaltschaft gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 17. Oktober 2008, AZ 17 Bs 302/08y (ON 29), nicht Folge. Das Beschwerdegericht führte aus, dass unter dem in § 52 Abs 1 letzter Satz StPO angeführten Begriff „Ton- und Bildaufnahmen" ausschließlich während des Strafverfahrens angefertigte Aufzeichnungen von Tatrekonstruktionen und Vernehmungen sowie im Rahmen von Späh- und Lauschangriffen sowie „Videofallen" erstellte Aufzeichnungen zu verstehen sind, nicht aber die antragsgegenständlichen Ausdrucke von Bilddateien, deren Besitz Gegenstand des Strafverfahrens ist. Die Rechte der Opfer wären durch § 54 StPO gesichert. Überdies habe der Verteidiger unter Berufung auf seine Standespflichten erklärt, die Ausfolgung ausschließlich zu Verteidigungszwecken zu begehren und das Material nicht an den Beschuldigten auszuhändigen. Strafbarkeit nach § 207a Abs 3 StGB scheide aus, weil Verteidiger und Beschuldigter durch die Ausübung der Verteidigungsrechte gerechtfertigt seien, soweit und solange der Besitz der ausgefolgten Abschriften zur wirksamen Verteidigung erforderlich ist. Die Besprechung kinderpornographischen Materials im Rahmen der Akteneinsicht in den Räumlichkeiten der Staatsanwaltschaft sei unzumutbar, weil die Ausübung dieses Rechts nur in den öffentlich zugänglichen Kanzleiräumen möglich sei. Die Interessenabwägung schlage sohin zugunsten der Verteidigungsrechte des Beschuldigten aus.
Die Generalprokuratur erblickt das Gesetz durch die bezeichneten Beschlüsse aus folgenden Erwägungen als verletzt:
„Die jeweils die Ausfolgung von Kopien der im Akt erliegenden Ausdrucke der inkriminierten Abbildungen anordnenden Beschlüsse des Einzelrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 20. August 2008, GZ 353 HR 200/08s-23, und des Oberlandesgerichtes Wien vom 17. Oktober 2008, AZ 17 Bs 302/08y (ON 29 des HR-Aktes), stehen mit dem Gesetz nicht im Einklang.
Der Beschuldigte ist berechtigt, in die der Kriminalpolizei, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht vorliegenden Ergebnisse des Ermittlungs- und Hauptverfahrens Einsicht zu nehmen. Das Recht auf Akteneinsicht berechtigt auch dazu, Beweisgegenstände in Augenschein zu nehmen, soweit dies ohne Nachteil für die Ermittlungen möglich ist (§ 51 Abs 1 StPO).
Soweit dem Beschuldigten Akteneinsicht zusteht, sind ihm auf Antrag und gegen Gebühr Kopien (Ablichtungen oder andere Wiedergaben des Akteninhalts) auszufolgen oder herstellen zu lassen; dieses Recht bezieht sich jedoch nicht auf Ton- oder Bildaufnahmen (§ 52 Abs 1 StPO).
Entgegen der von den Gerichten vertretenen Rechtsansicht ist der Begriff der „Ton- oder Bildaufnahmen" in § 52 Abs (erg 1) StPO - der auf keine andere Gesetzesstelle verweist - keineswegs auf während des Strafverfahrens angefertigte Aufzeichnungen einer Tatrekonstruktion (§ 149 Abs 1 Z 2 StPO) oder einer Vernehmung (§§ 97, 164 Abs 2, 165 Abs 5, 247a StPO) bzw einer optischen und akustischen Überwachung von Personen (§ 134 Z 4 StPO) beschränkt, sondern umfassend zu verstehen. Dies zeigt auch die Bestimmung des § 110 Abs 4 StPO, die den Ersatz einer Sicherstellung von Gegenständen aus Beweisgründen durch Bild-, Ton- oder sonstige Aufnahmen ua regelt und damit den Begriffsinhalt erweitert.
Im gegebenen Fall wurde dem Angeklagten ua vorgeworfen, pornographische Darstellungen mündiger minderjähriger Personen (§ 207a Abs 4 Z 3 und 4 StGB) sich verschafft und besessen zu haben, indem er 21 Bilddateien und 10 Videodateien aus dem Internet herunterlud und auf diversen Datenträgern abspeicherte (Strafantrag ON 30). Gegenstand der Straftat waren somit Bildaufnahmen, die in elektronischer Form gespeichert waren. Um diese strafrechtlich beurteilen zu können, wurden einige dieser von der Kriminalpolizei in (analoge) Bilder umgewandelt und ausgedruckt. Somit handelt es sich bei diesen Bildern um Gegenstände, die der Täter zur Begehung der mit Strafe bedrohten Handlung offenbar verwendet hat (vgl Ratz in WK2 § 26 Rz 4), auch wenn sich ihr (verpönter) Besitz auf ihre Speicherung in elektronischer Form beschränkte. Der Ausdruck der Bilder stellte jedenfalls einen Beweisgegenstand dar, den der Beschuldigte gemäß § 51 Abs 1 zweiter Satz StPO bloß in Augenschein nehmen durfte.
Somit ergibt sich bereits aus den §§ 51 Abs 1 zweiter Satz, 52 Abs 1 StPO, dass dem Beschuldigten (und damit auch dem diesen im Strafverfahren vertretenden Verteidiger, dem im Strafverfahren grundsätzlich keine über die Verfahrensrechte des Beschuldigten hinausgehenden Rechte zukommen - § 57 Abs 2 StPO) kein Recht auf Ausfolgung von Kopien der den Gegenstand der Straftat bildenden Bildaufnahmen zusteht.
Vielmehr ist aus den Strafbestimmungen des § 207a Abs 1 Z 3, Abs 3 StGB sogar ein Verbot der Weitergabe pornographischer Darstellungen Minderjähriger abzuleiten. Diese Gesetzesstellen normieren ein absolutes Verkehrsverbot für pornographische Darstellungen Minderjähriger (vgl Fabrizy StGB9 § 207a Rz 7), welches dem Schutz der Persönlichkeitsrechte des missbrauchten Opfers dient. Jede Vervielfältigung einer pornographischen Darstellung Minderjähriger verletzt das Opfer erneut in seinen Persönlichkeitsrechten und verstärkt seine Viktimisierung. Daher haben die Strafverfolgungsbehörden Kopien solcher Bildaufnahmen nur in dem für die Strafrechtspflege unbedingt erforderlichen Ausmaß herzustellen.
Eine effektive Verteidigung erfordert die Ausfolgung eines Beweisgegenstandes an den Verteidiger (oder gar an den Beschuldigten) jedoch nicht. Daher sieht § 51 Abs 1 zweiter Satz StPO - wie erwähnt - nur das Recht des Beschuldigten vor, Beweisgegenstände in Augenschein zu nehmen.
Im Übrigen ist aus Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit b MRK bloß das Recht des Beschuldigten auf Akteneinsicht (vgl Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3 § 24 Rz 60; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK] Rz 511; Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention2 Artikel 6 Rz 45a; Schäffer in Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Band VII/1 Rz 52; Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar2 Rz 185), nicht aber auf Ausfolgung einer Aktenkopie oder gar eines Beweisgegenstandes abzuleiten. In diesem Sinn hat § 45 Abs 2 StPO idF vor dem Strafprozessreformgesetz ein Recht des Beschuldigten bzw des Verteidigers auf Abschriften bzw Ablichtungen auch nur in eingeschränktem Umfang statuiert.
Schließlich ist zu bedenken, dass bei Bejahung eines Rechtes des Beschuldigten auf Ausfolgung von Kopien von im Strafakt erliegenden pornographischen Darstellungen Minderjähriger die tatsächliche Übergabe dieser - auch nach der durch das Budgetbegleitgesetz 2009 geänderten Fassung des § 52 Abs 1 StPO - nicht auf den Verteidiger eingeschränkt werden könnte. Denn der Beschuldigte - der in einem Strafverfahren wegen des Vergehens nach § 207a Abs 3 StPO grundsätzlich keines Verteidigers bedarf (vgl § 61 Abs 1 StPO) - könnte dieses Recht auch selbst ausüben. Die Ausfolgung von Kopien der inkriminierten Bildaufnahmen an den Beschuldigten würde ihm dann den rechtmäßigen Besitz der verpönten Bilder ermöglichen und nicht nur die (zwingende) Einziehung dieser gemäß § 26 Abs 1 StGB (welcher sowohl das Original als auch Vervielfältigungsstücke unterliegen), sondern auch den Schutzzweck der Strafbestimmungen des § 207a StGB konterkarieren. Daran würde auch das Verbot der Veröffentlichung gemäß § 54 StPO nichts ändern."
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:
Ein Recht des Beschuldigten - oder des dessen Verfahrensrechte ausübenden Verteidigers (§ 57 Abs 2 erster Satz StPO) - auf Ausfolgung von Gegenständen (hier: pornographischer Darstellungen Minderjähriger), deren Besitz (hier: nach § 207a StGB) allgemein verboten ist (vgl auch § 110 Abs 3 Z 2 StPO) und die als solche der Einziehung (hier: nach § 26 StGB; vgl Ratz in WK2 § 26 Rz 4 f) unterliegen, durch den Staat, ist aus § 52 Abs 1 StPO nicht abzuleiten und wird durch Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit b MRK nicht begründet.
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