Spruch:
Die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 3. Mai 2010, GZ 4 Hv 51/10z-17, und des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 8. Juni 2010, AZ 11 Bs 198/10s, verletzen § 485 Abs 1 StPO.
Text
Gründe:
Mit Beschluss vom 3. Mai 2010, GZ 4 Hv 51/10z-17, wies das Landesgericht für Strafsachen Graz den Strafantrag der Staatsanwaltschaft Graz vom 26. April 2010, AZ 7 St 36/10k, „gem §§ 485 Z 1, 450 StPO“ zurück. Einer dagegen gerichteten Beschwerde der Staatsanwaltschaft gab das Oberlandesgericht Graz mit dem eingangs bezeichneten Beschluss vom 8. Juni 2010 nicht Folge.
Bei diesen Beschlüssen gingen beide Gerichte im Wesentlichen übereinstimmend von folgendem Sachverhalt aus (vgl ON 17 S 1 ff):
Am 30. April 2009 brachte die Staatsanwaltschaft Graz beim Bezirksgericht Graz-Ost einen Strafantrag (ON 4) gegen Vincenzo C***** wegen eines als Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (1) und der Sachbeschädigung nach § 125 StGB (2) qualifizierten Verhaltens ein.
Im Zuge eines Delegierungsverfahrens (§ 590 Abs 2 Geo) stellte die Oberstaatsanwaltschaft Graz den „Antrag“, die Akten dem Bezirksgericht Graz-Ost zurückzustellen, um der Staatsanwaltschaft Graz „die Möglichkeit zur Vorgangsweise nach § 227 Abs 2 (analog) StPO zu geben“, weil nach den Verfahrensergebnissen „ein tatbestandsmäßiges Verhalten“ (des Angeklagten) „nach § 105 Abs 1 StGB indiziert“ sei. Das Oberlandesgericht Graz hat die Akten in diesem Sinn dem Bezirksgericht Graz-Ost übermittelt (ON 12). Ohne weitere Ermittlungen hinsichtlich des zu Punkt 1 des ursprünglichen Strafantrags inkriminierten Sachverhalts brachte die Staatsanwaltschaft Graz im „Austausch“ gegen den bezeichneten Strafantrag jenen vom 26. April 2010, AZ 7 St 36/10k (ON 15), beim Landesgericht für Strafsachen Graz ein, in welchem der (zu Punkt 1 des ursprünglichen Strafantrags) idente Sachverhalt § 105 Abs 1 StGB subsumiert wurde.
Rechtlich gehen die angefochtenen Beschlüsse davon aus, dass die Einbringung des zweiten Strafantrags (in Ermangelung neuer Tatsachen oder Beweismittel) ohne die Voraussetzungen des § 227 Abs 2 StPO das Gericht zur Zurückweisung im Rahmen der gemäß § 485 Abs 1 StPO vorzunehmenden Prüfung berechtige.
In ihrer gegen diese Entscheidungen zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde führt die Generalprokuratur Folgendes aus:
„Gemäß § 485 Abs 1 StPO hat das Gericht den Strafantrag vor Anordnung der Hauptverhandlung zu prüfen und im Fall seiner örtlichen oder sachlichen Unzuständigkeit gemäß § 450 StPO vorzugehen (Z 1 leg. cit.), demnach vor Anordnung der Hauptverhandlung mit Beschluss seine sachliche Unzuständigkeit auszusprechen.
Die sachliche Zuständigkeit ist ausschließlich auf Grundlage des unter Anklage gestellten Sachverhalts zu beurteilen (EBRV zum Strafprozessreformgesetz, 25 BlgNR 22. GP 246 f). Der Prüfungsumfang wird von dem von der Anklage vorgegebenen Prozessgegenstand - dem inkriminierten historischen Ereignis - begrenzt (vgl Bauer, WK-StPO § 450 Rz 2 mwN; Lewisch, WK-StPO § 261 Rz 7; SSt 2004/69 = 12 Os 91/04). Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung der richtigen sachlichen Zuständigkeit ist (arg § 211 Abs 1 Z 2 aE iVm § 484 StPO) die im Strafantrag genannte strafbare Handlung (vgl Birklbauer/Mayrhofer, WK-StPO § 212 Rz 26).
Dabei vermag das Unterbleiben einer indizierten Subsumtion (hier: Strafantrag [ON 15] beim Einzelrichter bloß wegen des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB, nicht auch wegen des tateinheitlich mit ihm zusammentreffenden Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB) das Gericht bei der rechtlichen Beurteilung der angeklagten Tat im prozessualen Sinne ebenso wenig zu binden (vgl Fabrizy, StPO10 § 267 Rz 1; Lewisch, WK-StPO § 262 Rz 48) wie ein die Subsumtion der Tat betreffender Verfolgungsverzicht des Anklägers (vgl Lewisch, WK-StPO § 262 Rz 63; RIS-Justiz RS0119781).
Vorliegend hat die Staatsanwaltschaft den gegen Vincenzo C***** zunächst beim Bezirksgericht Graz-Ost ua wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB eingebrachten Strafantrag - wenngleich ohne Vornahme weiterer diesbezüglicher Erhebungen - zur Vermeidung eines Unzuständigkeitsurteils in Bezug auf das beim Vorfall vom 9. November 2008 in Idealkonkurrenz begangene Vergehen der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB ausgetauscht und damit unter Wahrung des Verfolgungsrechts den für die Prüfung der sachlichen Zuständigkeit nach § 485 Abs 1 Z 1 StPO relevanten Prozessgegenstand (Prüfungsumfang) festgelegt.
Gemäß § 31 Abs 4 Z 2 iVm § 30 Abs 1 Z 1 StPO ist für diese Tat, also den unter Anklage gestellten historischen Sachverhalt, der Einzelrichter des Landesgerichtes zuständig.
Aus dem bereits dargestellten Prüfungsumfang des § 485 Abs 1 Z 1 StPO ergibt sich keine Kompetenz des Gerichtes zur Verneinung der sachlichen Zuständigkeit wegen Fehlens der formellen Kriterien des § 227 Abs 2 StPO.
Demnach wären die bezeichneten Beschlüsse zur Klarstellung zu beseitigen (vgl Ratz, WK-StPO § 292 Rz 45; RIS-Justiz RS0116267, RS0116270), wodurch das Verfahren in jenes Stadium zu treten hätte, in dem es sich vor der Entscheidung befunden hatte (vgl Ratz, WK-StPO § 292 Rz 35).“
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:
Indem die angefochtenen Entscheidungen die Zulässigkeit der Zurückweisung des Strafantrags der Sache nach ausschließlich mit einer Verletzung des § 227 Abs 2 StPO begründen, stützen sie sich auf keinen der in § 485 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO genannten Fälle.
Nach dieser Bestimmung (§ 485 Abs 1 StPO) hat das Gericht bei Prüfung des Strafantrags vor Anordnung der Hauptverhandlung im Fall seiner örtlichen oder sachlichen Unzuständigkeit gemäß § 450 vorzugehen (diese also mit Beschluss auszusprechen - Z 1), in den Fällen des § 212 Z 3 und 4 StPO den Strafantrag mit Beschluss zurückzuweisen (Z 2) oder in den Fällen des § 212 Z 1, 2 und 7 StPO den Strafantrag mit Beschluss zurückzuweisen und das Verfahren einzustellen (Z 3). Liegt keiner dieser Fälle vor, hat es die Hauptverhandlung anzuordnen (Z 4).
Der sogenannte „Austausch“ der Anklageschrift (des Strafantrags) gemäß § 227 Abs 2 StPO hat - mit Blick auf die in §§ 262 f StPO für die Hauptverhandlung vorgesehenen Möglichkeiten - vor allem prozessökonomische Bedeutung (Danek, WK-StPO § 227 Rz 5; vgl Birklbauer/Mayrhofer, WK-StPO Vor §§ 210-215 Rz 59 f; Philipp, WK-StPO § 485 Rz 1). Wird ein derartiger „Austausch“ eines Strafantrags - wie hier - ohne die Voraussetzungen des § 227 Abs 2 StPO (also ohne dass eine gemeinsame Verfahrensführung wegen neuer Vorwürfe oder einer aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel geänderten rechtlichen Beurteilung ermöglicht werden soll) vorgenommen, schließt dies das Verfolgungsrecht der Staatsanwaltschaft (vgl §§ 212 Z 1, 281 Abs 1 Z 9 lit b StPO) nicht aus (RIS-Justiz RS0098099). Eine Zurückweisung des Strafantrags durch den Einzelrichter des Landesgerichts sieht die Strafprozessordnung für derartige Fälle daher nicht vor.
Hinweise für eine Annahme der (nominell angesprochenen) sachlichen Unzuständigkeit des Einzelrichters des Landesgerichts in Bezug auf den angeklagten Sachverhalt (vgl zur Tat im prozessualen Sinn als Beurteilungsgrundlage: Bauer, WK-StPO § 450 Rz 2; Ratz, WK-StPO § 468 Rz 18; 14 Os 173/10p) oder eines der in § 485 Abs 1 StPO genannten weiteren Zurückweisungsgründe sind den angefochtenen Beschlüssen nicht zu entnehmen.
Die Gesetzesverletzungen waren festzustellen. Zu einer Beseitigung der angefochtenen Beschlüsse gemäß § 292 letzter Satz StPO sah sich der Oberste Gerichtshof nicht zuletzt im Hinblick auf die zwischenzeitige Antragstellung der Staatsanwaltschaft Graz beim Bezirksgericht Graz-Ost (vgl § 450 StPO) nicht veranlasst.
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