Spruch:
Andrzej S***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.
Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.
Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von 800 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer an den Beschwerdeführer auferlegt.
Text
Gründe:
Andrzej S***** wurde mit Urteil des Landesgerichts Salzburg als Schöffengericht vom 21. September 2009, GZ 36 Hv 30/08v-214, im zweiten Rechtsgang erneut des Verbrechens des gewerbsmäßig durch Einbruch begangenen schweren Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 129 Z 1 erster und zweiter Fall und Z 3, 130 dritter und vierter Fall StGB (I), des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Fall StGB (II) sowie des Verbrechens der Verleumdung nach § 297 Abs 1 zweiter Fall StGB (V) schuldig erkannt und hiefür unter Einbeziehung der bereits im ersten Rechtsgang in Rechtskraft erwachsenen Schuldsprüche (wegen eines weiteren Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 StGB und des Vergehens der schweren Sachbeschädigung nach §§ 12 dritter Fall, 125, 126 Abs 1 Z 5 StGB) zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 4 ½ Jahren verurteilt.
Nach dem Inhalt des Schuldspruchs - soweit vom Oberlandesgericht als haftrelevant angesehen - hat er
„I. mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz und in der Absicht, sich durch die wiederkehrende Begehung von schweren und durch Einbruch begangenen Diebstählen eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen, anderen fremde bewegliche Sachen weggenommen, und zwar
1. zwischen 11. und 13. November 2007 in Wien Dr. Thomas M***** zwei KFZ-Kennzeichentafeln unbekannten Werts;
2. in der Nacht zum 16. November 2007 in Z***** Verfügungsberechtigten des A***** Centers G***** durch Einschlagen einer Fensterscheibe und anschließendes Einsteigen in eine Holzhütte etwa 30 Fahrzeugschlüssel unbekannten Wertes und einen PKW der Marke Audi A6 Avant, 2,5 TDI, im Verkaufswert von ca 19.000 Euro durch Eindringen mit einem widerrechtlich erlangten Schlüssel;
II. am 16. November 2009 in W***** den Polizeibeamten Werner K***** mit Gewalt an seiner Festnahme zu hindern versucht, indem er mit seinem Fahrzeug mit unvermindertem Tempo auf den Beamten zufuhr, der auf der Straße stand, um ihn anzuhalten, sodass sich dieser nur durch einen Sprung zum Fahrbahnrand in Sicherheit bringen konnte, und indem er kurz nach seiner Anhaltung im Zuge der Festnahme versuchte, sich loszureißen und Werner K***** umzurennen und wegzudrücken;
V. am 18. November 2007 und am 29. April 2008 in S***** die Polizeibeamten Werner K***** und Benedikt O***** dadurch der Gefahr einer behördlichen Verfolgung ausgesetzt, dass er sie der von Amts wegen zu verfolgenden, mit Strafe bedrohten Handlung des Quälens oder Vernachlässigens eines Gefangenen nach § 312 Abs 1 StGB falsch verdächtigte, indem er anlässlich seiner Vernehmungen vor dem Journalrichter des Landesgerichts Salzburg und in der Hauptverhandlung behauptete, sie hätten ihn am 16. November 2007 in W***** nach seiner Fesselung mittels Handschellen mehrfach massiv geschlagen, getreten, seinen Kopf gegen den Asphalt geschlagen und ihn auf diese Weise am Körper verletzt, obwohl er wusste, dass die Verdächtigung falsch war."
Über die dagegen fristgerecht angemeldete Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung des Angeklagten (ON 215) wurde bislang noch nicht entschieden.
Am 20. August 2009 brachte Andrzej S***** einen Enthaftungsantrag ein (ON 193) und ersuchte am 21. August 2009, diesen als „Beschwerdegründe" dem Oberlandesgericht Linz (das zu diesem Zeitpunkt über seine Beschwerde gegen den Haftfortsetzungsbeschluss vom 23. Juli 2009 zu entscheiden hatte) vorzulegen „bzw ihn sofort zu enthaften" (ON 196 S 7). Am 25. August 2008 urgierte er unter Bezugnahme auf den Antrag die Anberaumung einer Haftverhandlung (ON 196 S 3) und erkundigte sich am 1. September 2009 nach dessen Verbleib (ON 196 S 1). Die Vorsitzende des Schöffengerichts übermittelte die Eingabe zwar am 24. August 2009 dem Oberlandesgericht Linz „im Nachhang", beraumte aber keine Haftverhandlung an und entschied auch in der am 7. September 2009 fortgesetzten Hauptverhandlung nicht über den Antrag. Mit am 17. September 2009 beim Erstgericht eingelangtem Schreiben vom 11. September 2009 beantragte der Angeklagte mit ausführlicher Begründung erneut seine „sofortige Enthaftung" (ON 212), die Hauptverhandlung wurde am 21. September 2009 fortgesetzt, die Haftfrage dabei nicht erörtert.
Erst am 29. September 2009 führte die Vorsitzende des Schöffengerichts eine Haftverhandlung durch und setzte die über Andrzej S***** am 18. November 2007 verhängte (ON 4) und bereits wiederholt fortgesetzte Untersuchungshaft mit Beschluss vom selben Tag, GZ 37 Hv 42/09t-217, aus den Haftgründen der Flucht- und Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 und 3 lit b und c StPO neuerlich fort.
Einer dagegen erhobenen Beschwerde des Genannten (ON 219) gab das Oberlandesgericht Linz mit Beschluss vom 22. Oktober 2009, AZ 7 Bs 341/09k (ON 225), nicht Folge und ordnete die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus den vom Erstgericht angenommenen Haftgründen an.
Rechtliche Beurteilung
Die Grundrechtsbeschwerde zeigt zutreffend auf, dass Andrzej S***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt wurde.
Soweit sie auf „das Vorbringen in der Haftbeschwerde vom 2. Oktober 2009 sowie in der Grundrechtsbeschwerde vom 15. Oktober 2009" verweist und dieses „ausdrücklich zum Vorbringen der gegenständlichen Grundrechtsbeschwerde" erhebt, verfehlt sie allerdings den vom Gesetz geforderten Bezugspunkt (vgl RIS-Justiz RS0106464).
Auf Einwendungen gegen die Dringlichkeit des Tatverdachts war angesichts der Verurteilung in erster Instanz nicht einzugehen (RIS-Justiz RS0061112; Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 180 aF Rz 4).
In Ansehung der Haftgründe überprüft der Oberste Gerichtshof im Grundrechtsbeschwerdeverfahren die rechtliche Annahme der in § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahr (Prognoseentscheidung) darauf, ob sich diese angesichts der zugrunde gelegten Tatsachen als willkürlich, mAW nicht oder nur offenbar unzureichend begründet darstellt (RIS-Justiz RS0117806). Davon kann im gegebenen Fall bei den vom Oberlandesgericht aktenkonform angestellten Erwägungen zum Vorliegen der Tatbegehungsgefahr keine Rede sein (BS 3 ff). Einzelne aus der Sicht des Beschwerdeführers erörterungsbedürftige Umstände (hier: die angeblich wenige Tage vor den ihm vorgeworfenen Tathandlungen erhaltene Überweisung eines „nicht unerheblichen Geldbetrags") bei der Prognose nicht erwähnt zu haben, kann der angefochtenen Entscheidung nicht als Grundrechtsverletzung vorgeworfen werden (RIS-Justiz RS0117806).
Mit der bloßen Behauptung, das Oberlandesgericht habe den Haftgrund der Tatbegehungsgefahr zu Unrecht auch aus der Vorstrafenbelastung und dem nach der Verdachtslage raschen Rückfall in einschlägige Delinquenz nach Verbüßung einer fünfjährigen Haftstrafe abgeleitet, weil die dieser Haft zugrunde liegende Verurteilung durch das Landgericht Kempten vom 31. Oktober 2002, 1 KLs 224 Js 16370/01, auch einen Schuldspruch wegen eines im September 2001 in Österreich begangenen Einbruchsdiebstahls umfasst, das damalige Ersuchen um Übernahme der Strafverfolgung durch die deutschen Behörden aber gegen die Bestimmung des § 74 Abs 1 und 3 ARHG verstoßen habe, verkennt der Beschwerdeführer, dass ausländische Verurteilungen - von hier nicht aktuellen weiteren Ausnahmen abgesehen - inländischen nur dann nicht gleich stehen, wenn sie nicht in einem den Grundsätzen des Art 6 MRK entsprechenden Verfahren ergangen sind (§ 73 StGB). Insoweit verweist die Grundrechtsbeschwerde ein weiteres Mal bloß auf das Vorbringen der Haftbeschwerde, ohne sich mit den dazu angestellten Erwägungen des Oberlandesgerichts (BS 4 f) auseinanderzusetzen und wird solcherart der Begründungspflicht des § 3 Abs 1 GRBG nicht gerecht, womit sie sich einer inhaltlichen Erwiderung entzieht (vgl im Übrigen zur Zulässigkeit des unmittelbaren Verkehrs zwischen den staatsanwaltlichen Behörden im Verhältnis zu Deutschland den Zusatzvertrag mit der Bundesrepublik Deutschland BGBl 1977/36, Art XII Abs 1 iVm Erlass des Bundesministeriums für Justiz vom 6. März 1992, Zl 303.005/115-IV/1/92).
Da somit bereits der Haftgrund der Tatbegehungsgefahr mängelfrei begründet wurde, erübrigt sich ein Eingehen auf jenen der Fluchtgefahr.
Behauptete Rechtsverletzungen im Zusammenhang mit den Beschlüssen des Landesgerichts Salzburg vom 23. Juli 2009 (ON 188) und des Oberlandesgerichts Linz vom 27. August 2009, AZ 7 Bs 276/09a (ON 194), waren bereits Gegenstand des Erkenntnisses des Obersten Gerichtshofs vom heutigen Tag über die dagegen erhobene Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten vom 15. Oktober 2009 (AZ 14 Os 145/09v, 14 Os 146/09s). Einer meritorischen Erledigung steht daher insoweit das Prozesshindernis der res iudicata entgegen.
Im Grundrecht auf persönliche Freiheit wurde der Angeklagte jedoch vom Oberlandesgericht Linz dadurch verletzt, dass dieses als Kontrollinstanz in seiner Entscheidung vom 22. Oktober 2009 nicht aussprach, dass durch - in der Haftbeschwerde ausdrücklich relevierte - erhebliche Verzögerungen das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen (§§ 9 Abs 2, 177 Abs 1 StPO) verletzt wurde, es einen solchen Verstoß vielmehr ausdrücklich verneinte.
Unabhängig von der Frage der Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft erachtet der Oberste Gerichtshof in mittlerweile ständiger Rechtsprechung das Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt, wenn er nach Maßgabe eigener Beweiswürdigung zum Ergebnis kommt, dass die Gerichte nicht im Sinne des § 177 Abs 1 StPO alles ihnen Mögliche zur Abkürzung der Haft unternommen haben (RIS-Justiz RS0120790; Kier, WK-StPO § 9 Rz 49).
Dabei bedarf es vorliegend zu ausreichendem Grundrechtsschutz nicht notwendig angestellter Erwägungen zu sämtlichen vom Beschwerdeführer als das Beschleunigungsgebot verletzend reklamierten Vorgängen. Es genügt vielmehr, festzuhalten, dass er zu Recht behauptet, durch verspätete Entscheidung über seine Enthaftungsanträge vom 20. August 2009 (ON 193) und vom 11. September 2009 (ON 212) in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt worden zu sein.
Im hier vorliegenden Fall des § 175 Abs 5 StPO hat eine Haftverhandlung stattzufinden, wenn der Angeklagte seine Enthaftung beantragt und darüber nicht ohne Verzug (zum Begriff vgl Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 174 Rz 25; RIS-Justiz RS0112353; zuletzt ausführlich: 13 Os 122/09d) in einer Hauptverhandlung entschieden werden kann.
Ausnahmen sieht das Gesetz nicht vor, sodass es entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts Linz nicht ausreicht, dass dem Beschwerdegericht zum Zeitpunkt der Entscheidung über eine Beschwerde gegen einen früheren Haftfortsetzungsbeschluss der später eingebrachte weitere Enthaftungsantrag des Angeklagten „bekannt war" (BS 4). Anders als in Betreff jenes vom 5. August 2008 (ON 191) ist dem Akt auch nicht zu entnehmen, dass der Enthaftungsantrag des Andrzej S***** vom 20. August - etwa durch sein (mit dem Antrag auf sofortige Enthaftung verbundenes) Ersuchen um Übermittlung des Schreibens an das Beschwerdegericht (ON 196 S 7), welchem Urgenzen in Betreff der Anberaumung einer Haftverhandlung folgten - zurückgezogen worden wäre, wie der Vollständigkeit halber anzumerken bleibt.
Unter dem Aspekt der gesetzlich auferlegten Verpflichtung (§§ 9 Abs 2, 177 Abs 1 StPO) bedeutet demnach die Untätigkeit des Erstgerichts bis zum 29. September 2009 ebenso eine ins Gewicht fallende Säumnis, wie fallbezogen der Umstand, dass der Enthaftungsantrag vom 11. September 2009 ebenfalls erst in der Haftverhandlung vom 29. Jänner 2009 erledigt wurde. Dass die Entscheidung über den Antrag innerhalb von 14 Tagen nach dessen Einlangen getroffen wurde (vgl dazu erneut für alle: 13 Os 122/09d), ist dabei - dem Standpunkt des Beschwerdegerichts zuwider - vorliegend ohne Bedeutung, weil objektive Gründe (vgl dazu Kier, WK-StPO § 9 Rz 51, Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 177 Rz 2; Grabenwarter, EMRK4 § 21 Rz 32, jeweils mwN; 13 Os 122/09d; 15 Os 23/09k), die einer Entscheidung ohne Verzug bereits in der am 21. September 2009 fortgesetzten Hauptverhandlung entgegengestanden wären (§ 175 Abs 5 StPO), nicht aktenkundig sind. Dass der Beschwerde des Andrzej S***** gegen den Beschluss des Erstgerichts vom 29. September 2009 letztlich nicht Folge gegeben wurde, ist unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung des Beschleunigungsgebots ebenfalls irrelevant.
Weil bei der hier gegebenen Konstellation des § 175 Abs 5 StPO die Wirksamkeit eines Beschlusses auf (Verhängung oder) Fortsetzung der Untersuchungshaft durch die Haftfrist nicht mehr begrenzt ist, stellt die Vorgangsweise des Erstgerichts allerdings - der Beschwerdeauffassung zuwider - keine (die sofortige Enthaftung des Beschwerdeführers nach sich ziehende) „Fristüberschreitung in U-Haft-Sachen" dar.
Es war daher in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur in Stattgebung der Grundrechtsbeschwerde - jedoch ohne Aufhebung des angefochtenen Beschlusses (vgl RIS-Justiz RS0120790 [T13] - auszusprechen, dass Andrzej S***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt wurde.
Durch die - im Fall des § 7 Abs 2 GRBG mit der Feststellung einer Grundrechtsverletzung von Gesetzes wegen verbundene - Anordnung umgehend erneuter Haftprüfung wird (anders als im Fall der Haftprüfung aufgrund vom Beschuldigten beantragter Freilassung; §§ 175 Abs 5, 176 Abs 1 Z 2 StPO) die Entscheidung einer kassatorischen Erledigung so weit wie möglich angenähert, um das Bemühen der Gerichte, einen Ausgleich für die festgestellte Grundrechtsverletzung zu finden, zu unterstreichen und das Fortwirken der Grundrechtsverletzung zu unterbinden.
Entsprechend dem Gebot des § 7 Abs 2 GRBG wird die Vorsitzende des Schöffengerichts umgehend eine neuerliche Haftprüfung vorzunehmen haben (RIS-Justiz RS0119858).
Der Kostenausspruch beruht auf § 8 GRBG.
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