OGH 11Os91/09f (11Os92/09b, 11Os93/09z)

OGH11Os91/09f (11Os92/09b, 11Os93/09z)23.6.2009

Der Oberste Gerichtshof hat am 23. Juni 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Schwab, Mag. Lendl und Dr. Bachner-Foregger als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Hofmann als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Daniel A***** wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 38 Hv 46/08v des Landesgerichts Innsbruck, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 22. August 2008 und weitere Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Knibbe, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Im Verfahren AZ 38 Hv 46/08v des Landesgerichts Innsbruck verletzen I./ die über den Antrag der Staatsanwaltschaft vom 28. April 2006 erst am 31. Jänner 2008 erfolgte Beschlussfassung § 35 Abs 1 zweiter Satz StPO aF iVm § 110 Abs 1 Geo bzw § 9 Abs 1 zweiter Satz StPO;

II./ das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 22. August 2008

1./ durch den Schuldspruch IV. § 267 StPO;

2./ durch den Schuldspruch III.2. § 202 Abs 1 StGB und § 61 StGB;

3./ durch die Bemessung der Strafe nach „§ 201 Abs 1 StGB aF" § 201 Abs 2 StGB idF BGBl I 2001/130;

4./ durch die - bedingt nachgesehene - Anordnung der Einweisung des Angeklagten in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher § 21 Abs 2 StGB und § 45 StGB;

III./ die am 22. August 2008 erteilte Weisung des Landesgerichts Innsbruck, „sich einer stationären Behandlung zu unterziehen und dem Gericht binnen zwei Monaten darüber Bericht zu erstatten", § 51 Abs 1 und 3 StGB.

Das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 22. August 2008, GZ 38 Hv 46/08v-98, das im Übrigen unberührt bleibt, wird in Ansehung der Punkte III.2. und IV. sowie im Strafausspruch samt dem Ausspruch der bedingt nachgesehenen Anordnung nach § 21 Abs 2 StGB, nicht jedoch in der erfolgten Vorhaftanrechnung, sowie weiters die Weisung, „sich einer stationären Behandlung zu unterziehen und dem Gericht binnen zwei Monaten darüber Bericht zu erstatten", aufgehoben und dem Landesgericht Innsbruck die neue Verhandlung und Entscheidung im Umfang des Angeklagepunkts III.2. aufgetragen.

Text

Gründe:

Mit Anklageschrift vom 4. Juni 2004 legte die Staatsanwaltschaft Innsbruck Daniel A***** das Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (I.), das Vergehen der versuchten Nötigung nach §§ 15, 105 StGB (II.) und die Vergehen der versuchten geschlechtlichen Nötigung nach §§ 15, 202 Abs 1 StGB (III.1. und III.2.; hinsichtlich [offensichtlich gemeint] III.1. modifiziert in der Hauptverhandlung vom 22. August 2008 in Richtung des Verbrechens der versuchten Vergewaltigung nach §§ 15, 201 Abs 2 StGB aF, vgl ON 97/S 3) zur Last (ON 8).

Am 8. Februar 2006 übermittelte die Staatsanwaltschaft dem Landesgericht Innsbruck eine - gegen Daniel A***** erstattete - Anzeige der Polizeiinspektion Laakirchen vom 16. Jänner 2006 wegen des Verdachts des Diebstahls zum Nachteil des Georg E***** (Vorfall am 23. November 2005), wobei die Anklagebehörde in ihrer Übersendungsnote die Einbeziehung nach § 56 Abs 1 StPO aF beantragte und eine Ausdehnung der schriftlichen Anklage der Hauptverhandlung vorbehielt (ON 43). Diese angekündigte Anklageausdehnung unterblieb aber, weil die öffentliche Anklägerin in der Hauptverhandlung vom 18. April 2008 ausdrücklich erklärte, von einer eingetretenen Verjährung dieser Tat auszugehen (S 371/I).

Im Hinblick auf ein Gutachten der gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. Karin T*****, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie (ON 50), beantragte die Staatsanwaltschaft am 28. April 2006 die Erlassung eines Haftbefehls wegen Tatbegehungsgefahr nach § 175 Abs 1 Z 4 StPO aF und Verhängung der Untersuchungshaft nach § 180 Abs 2 Z 3 lit a, b und c StPO aF (ON 53). Über diesen Antrag entschied der Vorsitzende des Schöffengerichts mit Beschluss vom 31. Jänner 2008 (ON 58). Zwischen der Antragstellung und der Entscheidung über diesen Antrag wurden vom Gericht lediglich drei Gebührenbeschlüsse gefasst (ON 54 bis 56, jeweils vom 2. Mai 2006) und zugestellt. Das Schriftstück mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft weist zwar keinen Eingangsvermerk des Gerichts auf, doch zeigt seine Journalisierung vor den erwähnten Beschlüssen seinen Eingang vor den Beschlussfassungen.

Mit Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 22. August 2008, GZ 38 Hv 46/08v-98, wurde Daniel A***** - im Sinne der modifizierten Anklage - des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (I.), des Vergehens der versuchten Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB (II.), des Verbrechens der versuchten Vergewaltigung nach §§ 15, 201 Abs 2 StGB aF (III.1.; vgl hiezu auch den Beschluss vom 3. April 2009, womit das schriftliche Urteil berichtigt wurde), des Vergehens der versuchten geschlechtlichen Nötigung nach §§ 15, 202 Abs 1 StGB (III.2.) sowie - im Hinblick auf die oben angeführte Anzeige - des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB (IV.) schuldig erkannt und hiefür nach § 201 Abs 1 StGB aF zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von zwei Jahren verurteilt, deren Vollzug unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Überdies wurde gemäß § 21 Abs 2 StGB die Unterbringung des Genannten in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher angeordnet und gemäß § 45 Abs 1 StGB die Vollziehung dieser Maßnahme unter Bestimmung einer Probezeit von fünf Jahren bedingt nachgesehen. Darüber hinaus wurde - inhaltlich mit Beschluss (vgl Ratz in WK2 § 45 [2008] Rz 6) vom selben Tag - Daniel A***** die Weisung erteilt, „sich einer stationären Behandlung zu unterziehen und dem Gericht binnen zwei Monaten darüber Bericht zu erstatten" (US 4).

Infolge allseitigen Rechtsmittelverzichts erwuchs dieses Urteil sogleich in Rechtskraft.

Zum Schuldspruch III.2. stellte das Schöffengericht fest, dass Daniel A***** („mit Gewalt"; US 3) versuchte, Maximilian F***** zur Duldung des Abtastens dessen Geschlechtsteils zu nötigen, was ihm aber aufgrund der Gegenwehr misslang. Der Angeklagte handelte hiebei mit dem Vorsatz, den Genannten mit Gewalt zur Duldung dieser geschlechtlichen Handlung zu nötigen (US 8).

Die Höhe der Strafe maß das Gericht nach § 201 Abs 1 StGB aF, sohin nach einem Strafrahmen von einem bis zu zehn Jahren, aus (US 4 und 12).

Zu den Voraussetzungen nach § 21 Abs 2 StGB stellten die Tatrichter fest, dass der Angeklagte „eine höhergradige, kombinierte Persönlichkeitsstörung mit Selbstunsicherheit, emotionaler Labilität und Impulsivität auf[weist], welche jedoch keine Aufhebung seiner Zurechnungsfähigkeit zur Folge hat" (US 8 f).

Rechtliche Beurteilung

Das Verfahren AZ 38 Hv 46/08v des Landesgerichts Innsbruck weist - wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt - mehrere Gesetzesverletzungen auf:

1./ Ohne aus dem Akt erkennbaren Grund hat der Vorsitzende des Schöffengerichts über den Antrag der Staatsanwaltschaft vom 28. April 2006 auf Erlassung eines Haftbefehls (ON 53) erst am 31. Jänner 2008 (ON 58) entschieden. Nach § 35 Abs 1 zweiter Satz StPO aF iVm § 110 Abs 1 Geo ist über einen Antrag, der dringende Angelegenheiten betrifft (zB Haftsachen) sogleich, sonst so rasch es die Geschäftslage gestattet, zu entscheiden. Der seit 1. Jänner 2008 in Geltung stehende § 9 Abs 1 zweiter Satz StPO ordnet an, dass Verfahren stets zügig und ohne unnötige Verzögerung durchzuführen sind. Dieser Verpflichtung hat der Vorsitzende des Schöffengerichts nicht entsprochen, zumal die Entscheidung hindernde Umstände den Akten nicht zu entnehmen sind.

2./ Der Schuldspruch des Daniel A***** wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB (IV.) erfolgte ohne eine auf die betreffende Tat gerichtete Anklage: Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Innsbruck vom 4. Juni 2004 beinhaltete diesen Vorwurf nicht (ON 8) und die öffentliche Anklägerin erklärte in der Hauptverhandlung ausdrücklich, von einer eingetretenen Verjährung dieser Tat auszugehen (S 371/I). Der im Urteil enthaltene Schuldspruch des Daniel A***** wegen eines am 23. November 2005 begangenen Diebstahls zum Nachteil des Georg E***** erfasst somit eine Tathandlung, auf welche die Anklage weder ursprünglich gerichtet war noch während der Hauptverhandlung ausgedehnt wurde und verstößt daher gegen § 267 StPO.

3./ Gleichermaßen verletzt der Schuldspruch des Daniel A***** wegen des Verbrechens der geschlechtlichen Nötigung nach §§ 15, 202 Abs 1 StGB (III.2.) das Gesetz: Nach herrschender Lehre und Rechtsprechung genügt zwar als Mittel der Willensbeugung nach § 105 StGB jede Art von Gewalt (im Sinne des Einsatzes einer nicht ganz unerheblichen physischen Kraft) zur Überwindung eines wirklichen oder vermuteten Widerstands, wobei keine besondere Intensität der Kraftanwendung nötig ist (vgl RIS-Justiz RS0093620, RS0093617). Inwieweit aber im konkreten Fall das gegen den Widerstand des Opfers erfolgte, nicht näher beschriebene versuchte Abtasten des Geschlechtsteils (US 8) die erforderliche Erheblichkeitsschwelle strafbarer (versuchter) Nötigung (im Sinne des § 202 Abs 1 StGB) überschritten hat bzw welche konkrete Gewaltanwendung der Vorsatz umfasste, entbehrt jeglicher Feststellungen. Solcherart bieten die Urteilskonstatierungen kein konkretes Substrat für die Annahme einer - für die Subsumtion des Verhaltens nach § 202 Abs 1 StGB essentiellen - Gewaltanwendung, die vom Vorsatz des Angeklagten erfasst gewesen wäre. Die Verwendung der verba legalia ohne konkreten Sachverhaltsbezug („Gewalt") vermag entsprechende Feststellungen nicht zu ersetzen (RIS-Justiz RS0119090).

Im Übrigen wäre auch zu berücksichtigen gewesen, dass die inkriminierte Tathandlung am 9. März 2004 stattfand, die Bestimmung des § 202 Abs 1 StGB idF BGBl 1989/242 (in Kraft bis 30. April 2004) als Strafrahmen eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren vorsah, die (im Urteilszeitpunkt geltende) Bestimmung des § 202 Abs 1 StGB idF BGBl I 2004/15 hingegen als Strafrahmen eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren beinhaltet, weshalb aufgrund des anzustellenden Günstigkeitsvergleichs nach § 61 StGB die für den Angeklagten günstigere Bestimmung des § 202 Abs 1 StGB idF BGBl 1989/242 anzuwenden gewesen wäre.

4./ Der Schöffensenat hat die dem Schuldspruch III.1. zugrunde liegende Tat als das Verbrechen der Vergewaltigung nach §§ 15, 201 Abs 2 StGB aF subsumiert, die Strafe aber unter Anwendung des § 28 StGB nach § 201 Abs 1 StGB aF - unter ausdrücklicher Anführung eines zugrunde gelegten Strafrahmens von einem bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe (US 12) - ausgemessen. Damit hat es sich bei der Strafbemessung zu Unrecht an einem Strafrahmen orientiert, den das Gesetz in der Bestimmung des § 201 Abs 2 StGB aF nicht vorsieht. 5./ Zu den Voraussetzungen nach § 21 Abs 2 StGB stellte das Gericht nicht fest, ob der Angeklagte die ihm zur Last gelegten Straftaten unter dem Einfluss dieser Störung begangen hatte, demnach seine Abartigkeit für die Anlasstaten (zumindest mit-)ursächlich gewesen ist. Auch zur Befürchtung, der Angeklagte werde ohne eine Unterbringung in einer Anstalt mit großer Wahrscheinlichkeit weiterhin mit Strafe bedrohte Handlungen mit schweren Folgen begehen, was ebenfalls notwendige Prämisse einer derartigen Maßnahme ist, findet sich im Urteil lediglich ein Verweis auf das psychiatrische Sachverständigengutachten von Dr. Karin T***** (US 13), welche die Befürchtung äußerte, der Angeklagte werde unter dem Einfluss seiner seelischen Abartigkeit höheren Grades wieder Delikte mit schweren Folgen setzen, wobei aus ihrer Sicht Sexualdelikte, schwere Körperverletzungen und Brandstiftungen zu befürchten seien (S 305 und 379/je I). Der bloße Hinweis auf dieses Gutachten mit dem Schluss, es sei demnach „in concreto vermutlich" mit Sexualdelikten, schweren Körperverletzungen und Brandstiftungen zu rechnen (US 13), vermag die Notwendigkeit von Feststellungen für eine Unterbringung des Angeklagten in einer Anstalt gemäß § 21 StGB, die nach dem Gesetz ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit zur Voraussetzung hat (RIS-Justiz RS0089988 und RS0090401; Ratz in WK2 Vorbem zu §§ 21 - 25 Rz 4), nicht zu ersetzen. Es wurden daher nicht sämtliche für die Beurteilung der angeordneten Einweisung des Daniel A***** in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 2 StGB maßgeblichen Tatsachen im Urteil festgestellt.

Welche Umstände zur Annahme berechtigen, dass die bloße Androhung der Unterbringung ausreiche, die Gefährlichkeit des Daniel A***** hintanzuhalten, und dass mit einer bedingten Nachsicht der Unterbringung das Auslangen gefunden werden kann, legt die Entscheidung gleichfalls nicht dar. Ohne die vom Gesetz verlangte Gefährlichkeit dürfte die freiheitsentziehende vorbeugende Maßnahme nach dem Gesetzlichkeitsprinzip des § 1 Abs 1 StGB (Art 7 Abs 1 MRK) im Übrigen überhaupt nicht, also auch nicht bedingt, angeordnet werden (RIS-Justiz RS0121151; Ratz in WK2 § 45 Rz 9 ff). 6./ Letztlich fehlt der dem Verurteilten Daniel A***** erteilten Weisung, „sich einer stationären Behandlung zu unterziehen und dem Gericht binnen zwei Monaten darüber Bericht zu erstatten" (US 4), mangels inhaltlicher Ausgestaltung die erforderliche Klarheit und Bestimmtheit. Eine Weisung nach § 51 StGB muss das auferlegte Gebot oder Verbot hinreichend deutlich bezeichnen und das erwartete Verhalten konkretisieren, um die notwendige verhaltensbestimmende Wirkung überhaupt entfalten zu können; nur dann kann ihre Nichtbefolgung den Widerruf der bedingten Nachsicht oder Entlassung begründen (Schroll in WK2 [2008] § 51 Rz 7). Mit der hier geforderten „stationären Behandlung" könnte jede therapeutische (medizinische, psychologische und psychotherapeutische) Heilbehandlung einschließlich (unzulässiger) operativer Maßnahmen in einer beliebigen Krankenanstalt oder gleichkommenden Einrichtung gemeint sein. Solcherart ist die Weisung angesichts ihrer Abfassung weder nachvollziehbar noch überprüfbar und verstößt gegen § 51 Abs 1 und Abs 3 StGB.

Da die aufgezeigten Gesetzesverletzungen geeignet sind, sich zum Nachteil des Daniel A***** auszuwirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst (§ 292 letzter Satz StPO), das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 22. August 2008 im bezeichneten Umfang sowie die Weisung nach § 51 Abs 3 StGB aufzuheben und dem Landesgericht die neue Verhandlung und Entscheidung in diesem Umfang aufzutragen.

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