OGH 11Os34/09y (11Os35/09w, 11Os36/09t)

OGH11Os34/09y (11Os35/09w, 11Os36/09t)21.4.2009

Der Oberste Gerichtshof hat am 21. April 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Schwab, Mag. Lendl und Dr. Bachner-Foregger als weitere Richter, in Gegenwart der Richterin im Evidenzbüro Mag. Finster als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Vardan T***** wegen des Vergehens des Betrugs nach § 146 StGB, AZ 32 U 18/07m des Bezirksgerichts Favoriten, über die von der Generalprokuratur gegen die Beschlüsse des Bezirksgerichts Favoriten vom 5. März 2008 (ON 11) und 5. September 2008 (ON 18) sowie die im Folgenden angeführten Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Holzleithner, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

In der Strafsache gegen Vardan T***** wegen des Vergehens des Betrugs nach § 146 StGB, AZ 32 U 18/07m des Bezirksgerichts Favoriten, verletzen das Gesetz

1./ der Beschluss vom 5. März 2008, mit dem vom Widerruf der dem Vardan T***** im Verfahren AZ 22 Hv 135/04a des Landesgerichts für Strafsachen Graz gewährten bedingten Strafnachsicht abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert wurde,

Der dem erstgenannten Beschluss zugrunde liegende Antrag der Staatsanwaltschaft wird zurückgewiesen.

Dem Bezirksgericht Favoriten wird aufgetragen, neuerlich (analog) gemäß § 270 Abs 3 StPO vorzugehen.

Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 11. Jänner 2005, GZ 22 Hv 135/04a-18, wurde Vardan T***** des Verbrechens des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 130 erster Fall StGB schuldig erkannt und zu einer gemäß § 43 Abs 1 StGB unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe verurteilt.

Mit Beschluss vom 23. Jänner 2008 sah das Landesgericht für Strafsachen Graz in diesem Verfahren (ON 30) die bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe gemäß § 43 Abs 2 StGB endgültig nach. Dieser Beschluss wurde von der Staatsanwaltschaft nicht bekämpft. Mit Urteil des Bezirksgerichts Favoriten vom 5. März 2008, GZ 32 U 18/07m-11, wurde der - ordnungsgemäß geladene (Rückschein bei S 3a) Angeklagte Vardan T***** in Abwesenheit des (noch während der Probezeit zum Verfahren des Landesgerichts für Strafsachen Graz, AZ 22 Hv 135/04a, begangenen) Vergehens des Betrugs nach § 146 StGB schuldig erkannt und - wie aus dem Hauptverhandlungsprotokoll (S 59 f) und der Eintragung im Aktenvermerk ON 9 hervorgeht - zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Abweichend von dem mündlich verkündeten Urteilsspruch ist in der schriftlichen Ausfertigung das Ausmaß der verhängten Freiheitsstrafe mit zwei Monaten angeführt (S 67 bzw US 2).

Mit zugleich mit dem Urteil gefasstem (und mündlich verkündetem) Beschluss wurde - ohne Anhörung des Angeklagten, dem nach der Aktenlage auch nicht durch einen entsprechenden Hinweis anlässlich der Ladung zur Hauptverhandlung oder sonst Gelegenheit zur Stellungnahme zur von der Staatsanwaltschaft beantragten Verlängerung der Probezeit eingeräumt worden war - gemäß § 494a Abs 1 Z 2 und Abs 6 StPO vom Widerruf der Vardan T***** im Verfahren AZ 22 Hv 135/04a des Landesgerichts für Strafsachen Graz gewährten bedingten Strafnachsicht abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert (S 61).

Ob eine (tatsächliche) Einsichtnahme in den angeschlossenen Vorakt - aus dem die endgültige Strafnachsicht vom 23. Jänner 2008 ebenso wie aus der Strafregisterauskunft (ON 5 in AZ 32 U 18/07m des Bezirksgerichts Favoriten) ersichtlich war - oder zumindest in eine Abschrift des Urteils vor der Beschlussfassung gemäß § 494a Abs 1 Z 2 und Abs 6 StPO erfolgte, ist dem Hauptverhandlungsprotokoll nicht zu entnehmen.

Am 10. April 2008 ordnete der Bezirksrichter mit der Verfügung „AU + RMB 3 an a) + Rsa" (S 3a) zwar die Zustellung einer Ausfertigung des Urteils (samt der im Abwesenheitsverfahren erforderlichen Rechtsbelehrung) an Vardan T***** an, nicht aber auch des Protokolls der Hauptverhandlung. Das Protokoll wurde auch nicht an die sonstigen Beteiligten des Verfahrens (Staatsanwaltschaft und Privatbeteiligte) zugestellt, obwohl diese darauf nach dem Akteninhalt nicht verzichtet hatten. Dem Rückschein (bei S 3a) über die Hinterlegung der Urteilsgleichschrift am 15. April 2008 ist eine - allenfalls von der Geschäftsabteilung veranlasste - Übermittlung einer Rechtsmittelbelehrung auch in Bezug auf den darin enthaltenden Beschluss und einer Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls nicht zu entnehmen.

Aufgrund eines „Ersuchens" der Staatsanwaltschaft Wien um „dementsprechende Berichtigung" und des Hinweises, dass Vardan T***** - entgegen der schriftlichen Ausfertigung, BedV1 und StrAA", wo „nur zwei Monate bedingt" aufscheinen - laut Hauptverhandlungsprotokoll und Eintragung im Tagebuch zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden sei, fasste das Bezirksgericht Favoriten am 5. September 2008 einen Beschluss auf Angleichung des ausgefertigten an das verkündete Urteil, ohne den Verurteilten dazu angehört zu haben. Auch dieser Beschluss enthält keine Rechtsmittelbelehrung.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde weitgehend zutreffend aufzeigt, stehen die Beschlüsse des Bezirksgerichts Favoriten vom 5. März und 5. September 2008 sowie die Unterlassung der Zustellung auch des Protokolls der Hauptverhandlung an die Beteiligten mit dem Gesetz nicht im Einklang:

1./ Gemäß § 86 Abs 1 erster Satz StPO hat ein Beschluss neben Spruch und Begründung auch eine Rechtsmittelbelehrung darüber zu enthalten, ob ein Rechtsmittel zusteht, welchen Förmlichkeiten es zu genügen hat und innerhalb welcher Frist und wo es einzubringen ist. Diesen Anforderungen wird der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten insofern nicht gerecht, als er keine Rechtsmittelbelehrung enthält. Der zeitlich frühere, in Rechtskraft erwachsene Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 23. Jänner 2008, GZ 22 Hv 135/04a-30, auf endgültige Strafnachsicht entfaltete Sperrwirkung. Daher durfte weder das erkennende Gericht noch ein anderes ohne vorangegangene prozessordnungsgemäße Kassation dieses Beschlusses über denselben Gegenstand erneut absprechen (RIS-Justiz RS0091864). Das Bezirksgericht Favoriten hat daher durch seine Beschlussfassung gemäß § 494a Abs 1 Z 2, Abs 6 StPO eine ihm nicht (mehr) zustehende Entscheidungskompetenz in Anspruch genommen.

2./ Gemäß § 271 Abs 6 letzter Satz StPO ist den Beteiligten des Verfahrens, soweit sie nicht darauf verzichtet haben, ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung zuzustellen. Auch dieser gesetzlichen Anordnung ist das Bezirksgericht Favoriten nicht nachgekommen.

3./ Der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 5. September 2008 (ON 18) auf Angleichung des Urteils vom 5. März 2008 steht mit dem Gesetz gleichfalls nicht in Einklang. Denn wie bereits zuvor ausgeführt, muss ein Beschluss unter anderem eine Rechtsmittelbelehrung enthalten. Weil auch dieser Beschluss keine Rechtsmittelbelehrung aufweist, verletzt er ebenso § 86 Abs 1 StPO. 4./ Für die Angleichung der schriftlichen Ausfertigung an das mündlich verkündete Urteil ist die Bestimmung des § 270 Abs 3 StPO analog heranzuziehen (RIS-Justiz RS0098973, RS0098979). Nach § 270 Abs 1 StPO hat der Vorsitzende das Urteil „jederzeit, allenfalls nach Anhörung der Beteiligten" zu berichtigen, welche Vorschrift dem Grundsatz des beiderseitigen Gehörs (vgl auch § 6 StPO) Rechnung trägt. Zwar ist dem Vorsitzenden gestattet, ein Urteil auch ohne Anhörung zu berichtigen oder anzugleichen, aber verwehrt, lediglich einen von mehreren Beteiligten zu hören (RIS-Justiz RS0123183). Indem das Bezirksgericht Favoriten vor der erwähnten Beschlussfassung nur die Staatsanwaltschaft - im Wege deren begründeten Ersuchens um „Berichtigung" des Urteils - anhörte, dem Verurteilten Vardan T***** jedoch nicht auch Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat, hat es gegen § 270 Abs 3 erster Satz StPO iVm § 447 StPO verstoßen.

Die Generalprokuratur führt weiters aus:

Gemäß § 494a Abs 3 StPO hat das Gericht vor seiner Entscheidung gemäß Abs 1 leg.cit. (ua) Einsicht in die Akten über die frühere Verurteilung, zumindest aber - wenn dies eine ausreichende Grundlage für die Entscheidung darzustellen vermag - in eine Abschrift des früheren Urteils zu nehmen.

Die unabdingbare Einsichtnahme in die Vorstrafakten des Landesgerichts für Strafsachen Graz, zumindest aber in eine Abschrift des früheren Urteils ist gegenständlich unterblieben, weshalb die solcherart gemäß § 494a Abs 1 Z 2 und Abs 6 StPO erfolgte Beschlussfassung (vgl S 61 bzw US 2 und 5) § 494a Abs 3 StPO verletzt.

Der Oberste Gerichtshof hat hiezu erwogen, dass nicht mehr festgestellt werden kann, ob das Gericht tatsächlich in den (angeschlossenen) Akt Einsicht genommen hat oder nicht. Eine Verpflichtung zur Verlesung des Aktes über eine frühere Verurteilung sieht § 494a Abs 3 StPO nicht vor. Daher kann nicht eine etwaige hierin gelegene Gesetzesverletzung erkannt werden, sodass die Nichtigkeitsbeschwerde in diesem Punkt zu verwerfen war. Der Beschluss vom 5. März 2008 konnte zwar weder den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz beseitigen noch sonst für den Verurteilten nachteilige Rechtsfolgen nach sich ziehen, war aber aus Gründen der Rechtssicherheit aufzuheben und der entsprechende Antrag der Staatsanwaltschaft zurückzuweisen (§ 292 letzter Satz StPO). Weil die unterbliebene Anhörung und die unterlassene Rechtsmittelbelehrung dem Verurteilten zum Nachteil gereichen, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, auch den Beschluss vom 5. September 2008 aufzuheben und dem Bezirksgericht Favoriten aufzutragen, neuerlich über eine Angleichung des schriftlich ausgefertigten an das mündlich verkündete Urteil nach Anhörung des Vardan T***** zu entscheiden. Danach wird diesem das Abwesenheitsurteil vom 5. März 2008 (zusammen mit einer vollständigen Rechtsmittelbelehrung), aber auch einer Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls persönlich zu eigenen Handen zuzustellen sein.

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