OGH 2Ob219/08g

OGH2Ob219/08g22.1.2009

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. Fichtenau, Dr. E. Solé und Dr. Schwarzenbacher als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Norbert R*, vertreten durch Dr. Dieter Klien, Rechtsanwalt in Dornbirn, gegen die beklagten Parteien 1. Elisabeth G*, 2. A* AG, *, und 3. Verband der Versicherungsunternehmen Österreichs, Schwarzenbergplatz 7, 1031 Wien, alle vertreten durch Dr. Anton Weber, Rechtsanwalt in Bregenz, wegen 4.686,23 EUR sA und Feststellung (Streitinteresse: 1.500 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Berufungsgericht vom 17. Juni 2008, GZ 4 R 156/08h‑23, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Bezirksgerichts Feldkirch vom 1. April 2008, GZ 4 C 538/07t‑19, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2009:E89886

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 427,25 EUR (darin 71,21 EUR USt) bestimmten Kosten ihrer Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

 

Die Zurückweisung einer ordentlichen Revision wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage (§ 502 Abs 1 ZPO) kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 letzter Satz ZPO).

Nach den maßgeblichen Feststellungen der Vorinstanzen fuhr der Kläger am 27. 9. 2006 in Götzis südlich des Kreisverkehrs beim Kobel mit seinem Motorfahrrad auf einen von der Erstbeklagten gelenkten und bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW auf. Dabei kam er zu Sturz und zog sich mehrere Verletzungen zu. An der Unfallstelle betrug die erlaubte Höchstgeschwindigkeit 40 km/h. Die Erstbeklagte hatte ihr Fahrzeug nach der Ausfahrt aus dem Kreisverkehr auf eine 50 km/h, nicht jedoch 60 km/h, überschreitende Geschwindigkeit beschleunigt. Der Kläger folgte ihr mit einer Geschwindigkeit von zumindest 50 km/h. Als die Erstbeklagte die Bremse betätigte, um ihre Geschwindigkeit auf ein zulässiges Ausmaß zu reduzieren, betrug der Tiefenabstand des Klägers lediglich 6 m. Die Intensität des Bremsmanövers der Erstbeklagten konnte nicht festgestellt werden.

Das Erstgericht gelangte zu einer Verschuldensteilung im Verhältnis von 2 : 1 zu Lasten des Klägers, dessen Verschulden im Rechtsmittelverfahren nicht mehr strittig ist. Der Erstbeklagten warf es die Einhaltung einer überhöhten Geschwindigkeit „im Zusammenhang mit der hiedurch ausgelösten unfallursächlichen Geschwindigkeitsverlangsamung" vor.

Das Berufungsgericht, das vom Alleinverschulden des Klägers ausging, vertrat die Ansicht, die von der Geschwindigkeitsverminderung des Beklagtenfahrzeugs ausgehende Gefahr sei vom Schutzzweck des § 20 Abs 1 StVO nicht umfasst. „Der Vollständigkeit halber" verwies es darauf, dass die erstinstanzlichen Feststellungen zu der behördlich verordneten und von der Erstbeklagten überschrittenen Geschwindigkeit überschießend seien; der Kläger habe seinen Schuldvorwurf ausschließlich auf eine - nicht erwiesene - Verletzung des § 21 Abs 1 StVO gestützt.

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision mit der Begründung zu, das Vorbringen des Klägers, die Erstbeklagte habe ihr Fahrzeug nach Verlassen des Kreisverkehrs beschleunigt, könnte bei großzügiger Auslegung auch im Sinne der Behauptung einer überhöhten Geschwindigkeit verstanden werden. Zum Schutzzweck des § 20 Abs 1 StVO „im Zusammenhang mit einem nachfolgenden Abbremsen des Fahrzeugs und einem dadurch verursachten Auffahrunfall" fehle es aber an höchstgerichtlicher Judikatur.

Rechtliche Beurteilung

Die vom Kläger erhobene Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage nicht zulässig. Auch in der Revision werden keine Rechtsfragen im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO dargetan.

1. Der Oberste Gerichtshof vertritt trotz kritischer Stimmen der Lehre (zum Meinungsstand vgl Salficky, Überschießende Feststellungen im Zivilprozess, ÖJZ 2006/51, 787) in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass sogenannte überschießende Feststellungen nur dann berücksichtigt werden dürfen, wenn sie sich im Rahmen des geltend gemachten Klagegrundes oder der erhobenen Einwendungen halten (2 Ob 123/06m mwN; 2 Ob 274/06t; 2 Ob 115/07m; RIS‑Justiz RS0040318). Die im Einzelfall vorzunehmende Beurteilung, ob dies zutrifft, reicht in ihrer Bedeutung über den konkreten Rechtsstreit nicht hinaus und begründet in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO (2 Ob 150/05f; 2 Ob 123/06m; RIS‑Justiz RS0040318 [T3]). Dies gilt ebenso für die Frage, ob im Hinblick auf den Inhalt der Prozessbehauptungen eine bestimmte Tatsache als vorgebracht anzusehen ist (RIS‑Justiz RS0042828).

Der Kläger hat in erster Instanz nicht vorgebracht, dass die erlaubte Höchstgeschwindigkeit im Bereich der Unfallstelle nur 40 km/h betrug. Er hat das geltend gemachte Verschulden der Erstbeklagten auch nicht auf die Einhaltung einer überhöhten Geschwindigkeit, sondern auf den Vorwurf einer abrupten Bremsung, somit auf eine Verletzung des § 21 Abs 1 StVO gestützt. Das Berufungsgericht hat sich aufgrund dieser Aktenlage zwar „der Vollständigkeit halber" zu dem Hinweis veranlasst gesehen, dass die über das Tatsachenvorbringen des Klägers hinausreichende Feststellung einer behördlichen Geschwindigkeitsbeschränkung auf 40 km/h als überschießend außer Betracht hätte bleiben müssen. Es hat die als überschießend beurteilte Feststellung aber ungeachtet dessen in seine rechtliche Beurteilung miteinbezogen und sich mit der darauf gegründeten Rechtsansicht des Erstgerichts inhaltlich auseinandergesetzt. Der Frage, ob dem Berufungsgericht durch die Berücksichtigung einer als unzulässig erkannten Feststellung allenfalls eine unrichtige rechtliche Beurteilung unterlaufen ist (vgl 2 Ob 123/06m mwN), kommt aber aus den nachstehenden Gründen keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu.

2. § 20 Abs 1 und 2 StVO sind Schutznormen im Sinne des § 1311 ABGB, deren Zweck in der Vermeidung aller durch die Einhaltung überhöhter Fahrgeschwindigkeiten im Straßenverkehr auftretenden Gefahren liegt (2 Ob 283/06s = ZVR 2008/7 mwN; RIS‑Justiz RS0027748, RS0027501 [T1]). Das Gericht hat ein anzuwendendes Schutzgesetz teleologisch zu interpretieren, um herauszufinden, ob die jeweilige Vorschrift, die übertreten wurde, den in einem konkreten Fall eingetretenen Schaden verhüten soll (RIS‑Justiz RS0008775 [T1]). Wie weit der Normzweck reicht, ist Ergebnis der Auslegung im Einzelfall (RIS‑Justiz RS0082346).

Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, durch die Geschwindigkeitsverminderung des Beklagtenfahrzeugs habe sich keine mit der überhöhten Geschwindigkeit verbundene Gefahr realisiert, trägt den konkreten Umständen des Einzelfalls Rechnung, ist in der zitierten Rechtsprechung gedeckt und wirft daher keine erhebliche Rechtsfrage auf. In der Verneinung eines auf die Verletzung der Schutznorm des § 20 Abs 1 StVO gegründeten Verschuldens der Erstbeklagten ist daher keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts zu erblicken.

Die in der Revision zitierten Entscheidungen 2 Ob 225/02f und 2 Ob 2426/96w betrafen jeweils die Schutznorm des § 7 StVO; aus ihnen ist für die Lösung des vorliegenden Falls nichts zu gewinnen. Fragen der Beweislastverteilung bei Verletzung eines Schutzgesetzes können bei der dargestellten Rechtslage auf sich beruhen.

3. Da es der Lösung von Rechtsfragen im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO nicht bedarf, ist die Revision zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO. Die beklagten Parteien haben in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.

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