OGH 10Ob82/08v

OGH10Ob82/08v14.10.2008

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen Seal Sjard M*****, geboren am *****, vertreten durch das Land Vorarlberg als Jugendwohlfahrtsträger (Bezirkshauptmannschaft Feldkirch, 6800 Feldkirch, Schloßgraben 1), über den Revisionsrekurs des Kindes gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgericht vom 6. Mai 2008, GZ 1 R 107/08f-U-36, womit infolge Rekurses des Kindes der Beschluss des Bezirksgerichts Feldkirch vom 17. März 2008, GZ 12 P 6/03g-U-27, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts zu lauten hat:

„Der Antrag des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Innsbruck, die dem Minderjährigen mit Beschluss des Bezirksgerichts Feldkirch vom 15. 12. 2005 für den Zeitraum vom 1. 1. 2006 bis 31. 12. 2008 weitergewährten Unterhaltsvorschüsse von monatlich 392,43 EUR einzustellen, wird abgewiesen."

Text

Begründung

Der Minderjährige und seine allein obsorgeberechtigte Mutter sind Schweizer Staatsangehörige. Er lebt in ihrem Haushalt in G*****. Sein Vater ist Staatsangehöriger Italiens und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in S*****, Schweiz. Er ist verpflichtet, seinem Sohn einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von 600 CHF zu zahlen.

Mit Beschluss vom 15. 12. 2005 hat das Erstgericht dem Kind Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1, 18 UVG von monatlich 392,43 EUR vom 1. 1. 2006 bis 31. 12. 2008 weitergewährt.

Am 19. 2. 2008 beantragte der vom Präsidenten des Oberlandesgerichts Innsbruck vertretene Bund die Einstellung der Vorschüsse, weil nach den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs 4 Ob 4/07b und 6 Ob 121/07y für den Anspruch auf Unterhaltsvorschuss nur jenes System sozialer Sicherheit maßgeblich sei, in das der Geldunterhaltsschuldner, in dessen Haushalt das Kind nicht lebe, eingebunden sei. Sei der Geldunterhaltsschuldner nicht in Österreich versichert, bleibe es dem österreichischen Gesetzgeber vorbehalten, an welche Tatbestände er die Zahlung von Vorschüssen knüpfe. In einem solchen Fall dürfe deshalb einem Kind kein Unterhaltsvorschuss aus Österreich gewährt werden.

Das Erstgericht gab diesem Antrag mit Beschluss vom 17. 3. 2008 statt.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Die höchstgerichtlichen Entscheidungen 4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y und 1 Ob 267/07g bedeuteten eine tiefgreifende und gesicherte Änderung der Rechtsprechung, die einer Änderung der Gesetzeslage gleichzuhalten sei und die materielle Rechtskraft des Unterhaltsvorschussgewährungsbeschlusses durchbreche. Da es auf der Grundlage der neuen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs an der Rechtsgrundlage für die Weitergewährung des Unterhaltsvorschusses mangle, sei der Einstellungsgrund gemäß § 20 Abs 1 Z 4 lit a UVG gegeben.

Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil die Frage, ob in der neuen Judikatur des Obersten Gerichtshofs (4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y und 1 Ob 267/07g) eine einer Gesetzesänderung gleichkommende tiefgreifende Änderung der Rechtsprechung zu erblicken sei, vom Höchstgericht bisher noch nicht entschieden worden sei.

Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der von einer Rechtsanwältin eingebrachte Revisionsrekurs des Minderjährigen, den der Jugendwohlfahrtsträger als dessen alleiniger gesetzlicher Vertreter (§ 9 Abs 2 UVG) genehmigte. Der Rechtsmittelwerber beantragt die Abänderung im antragsabweisenden Sinn.

Revisionsrekursbeantwortungen wurden nicht erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig; er ist auch berechtigt.

Der Minderjährige verweist im Wesentlichen darauf, dass die Rechtskraft des Unterhaltsvorschussgewährungsbeschlusses nur dann durchbrochen werden könne, wenn sich die Entscheidungsgrundlage geändert habe. Im Anlassfall habe sich an der Sachlage nichts geändert. Bei der Gewährung sei bekannt gewesen, dass der unterhaltspflichtige Vater in der Schweiz seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe. Damals sei auch schon die Verordnung (EWG) Nr 1408/71 anwendbar gewesen. Der Judikaturwandel bedeute keine gesicherte und tiefgreifende, einer Änderung der Rechtslage gleichzuhaltende Änderung der Rechtsprechung, die die Rechtskraft des Gewährungsbeschlusses durchbreche.

Dazu wurde Folgendes erwogen:

1. Im Außerstreitverfahren ergangene Beschlüsse, wie etwa Unterhaltsbemessungs- und Unterhaltsvorschussgewährungsbeschlüsse, sind der materiellen Rechtskraft (nunmehr nach § 43 Abs 1 AußStrG „Verbindlichkeit der Feststellung": RV 224 BlgNR 22. GP 45) zugänglich (RIS-Justiz RS0107666, zuletzt etwa 7 Ob 293/06y und 3 Ob 43/07f) und können nur bei Änderung der Sachlage oder der Rechtslage abgeändert werden (RIS-Justiz RS0053297). Eine tiefgreifende Änderung der Rechtsprechung wird einer Änderung der Rechtslage gleichgehalten (4 Ob 42/05p = ÖA 2005, 191/U 453 = RIS-Justiz RS0007171 [T26] mwN).

1.1. Zu einer solchen tiefgreifenden Änderung der Rechtsprechung ist es im Zusammenhang mit den Anspruchsvoraussetzungen für österreichische Unterhaltsvorschüsse im Anwendungsbereich der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 („Wanderarbeitnehmerverordnung", die im Verhältnis zur Schweiz aufgrund des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedern andererseits über die Freizügigkeit vom 21. 6. 1999, BGBl III 2002/133, gilt; 1 Ob 183/04z) nicht gekommen.

1.2. In der jüngsten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y, 1 Ob 267/07g) wurde in Widerspruch zur früheren Judikatur in vergleichbaren Fällen (4 Ob 117/02p = SZ 2002/77; 9 Ob 157/02g ua) die Ansicht vertreten, dass der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinn der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 an die Rechtsstellung des Unterhaltsschuldners anknüpfe, in dessen Haushalt das Kind nicht lebe und der den ihm auferlegten Geldunterhalt als Familienlast nicht tragen könne oder wolle. Es sei daher für das Bestehen eines solchen Anspruchs nach den Kollisionsregeln der Verordnung (nur) jenes System sozialer Sicherheit maßgebend, in das der Geldunterhaltsschuldner eingebunden sei.

1.3. Anders als bei der Berücksichtigung von Transferleistungen bei der Bemessung der Unterhaltshöhe (dazu 4 Ob 42/05p = ÖA 2005, 191/U 453 = RIS-Justiz RS0007171 [T26]) kann angesichts der in den letzten Jahren aufgetretenen Widersprüchlichkeit der Judikatur zur Leistungszuständigkeit für Unterhaltsvorschüsse nach der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 noch keineswegs von einer „tiefgreifenden Judikaturänderung" gesprochen werden.

1.4. Gemäß § 20 Abs 1 Z 4 UVG sind Unterhaltsvorschüsse auf Antrag oder von Amts wegen einzustellen, wenn a) eine der Voraussetzungen der Gewährung der Vorschüsse, ausgenommen die des § 3 Z 2 UVG, wegfällt oder b) nach § 7 Abs 1 UVG die Vorschüsse zur Gänze zu versagen sind. Nach dem Konzept dieser Bestimmung ist das Gericht nicht berechtigt, im Zusammenhang mit der Einstellung den Gewährungsbeschluss zu überprüfen. Haben sich nach der Gewährung die Sach- und Rechtslage nicht geändert, ist eine abweichende rechtliche Beurteilung im Einstellungsverfahren im Hinblick auf die Rechtskraft des Gewährungsbeschlusses ausgeschlossen (Neumayr in Schwimann, ABGB³ I § 20 UVG Rz 9).

Im Hinblick auf die Verneinung einer Änderung der Rechtslage (in Form einer tiefgreifenden Judikaturänderung) liegt kein Grund vor, die Vorschüsse einzustellen.

Dem Revisionsrekurs des Kindes ist daher statt zu geben.

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