OGH 14Os154/07i

OGH14Os154/07i15.1.2008

Der Oberste Gerichtshof hat am 15. Jänner 2008 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Holzweber als Vorsitzenden sowie durch die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Fuchs in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Pulker als Schriftführerin in der Strafsache gegen Zoran C***** wegen des Verbrechens nach § 28 Abs 2 vierter Fall, Abs 3 erster Fall und Abs 4 Z 3 SMG (aF; § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 4 Z 3 SMG idgF) und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 14 Ur 153/06x des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über die aus Anlass des Beschlusses des Oberlandesgerichts Graz vom 9. Oktober 2007, AZ 10 Bs 376/07f (= ON 73 der Akten) erhobene Grundrechtsbeschwerde des Zoran C*****, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Zoran C***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt. Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von 700 EUR zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.

Text

Gründe:

In dem beim Landesgericht für Strafsachen Graz (ua) gegen Zoran C***** wegen des Verbrechens nach § 28 Abs 2 vierter Fall, Abs 3 erster Fall und Abs 4 Z 3 SMG (aF; § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 4 Z 3 SMG idgF) und des Verbrechens der kriminellen Organisation nach § 278a StGB geführten - im Ermittlungsverfahren befindlichen - Strafverfahren wurden gegen den Genannten am 16. Mai 2007 ein Europäischer und ein Internationaler Haftbefehl erlassen (ON 33 und 34). Nach deren Inhalt „ist Zoran C***** verdächtig,

I. gewerbsmäßig, somit in der Absicht, sich durch die wiederkehrende Begehung strafbarer Handlungen nach dem Suchtmittelgesetz eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen, den bestehenden Vorschriften zuwider Suchtgift in einer das 25fache der Grenzmenge (§ 28 Abs 6 SMG) übersteigenden Menge in Verkehr gesetzt zu haben, indem er zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt vor dem 08.09.2004 in Zagreb Nenad T***** 3 kg Kokain (2400 Gramm +/- 35 Gramm Kokain in Reinsubstanz) zu dem Zweck übergab, dass dieses von Kroatien nach Österreich geschmuggelt wird;

II. sich an einer auf längere Zeit angelegten unternehmensähnlichen Verbindung einer größeren Zahl von Personen als Mitglied beteiligt zu haben, wobei diese kriminelle Organisation auf den wiederkehrenden Erwerb, Besitz und das Inverkehrsetzen übergroßer Mengen Kokain in gewerbsmäßiger Absicht ausgerichtet war und dadurch eine Bereicherung in großem Umfang angestrebt wurde und durch die Verwendung von Decknamen, falschen Identitäten, häufigen Mobiltelefonwechsel und Verwendung passwortgesicherter privater Chat-Räume und anonymer Webmail-Adressen sowie Verschleierung der Kommunikationsinhalte durch vereinbarte Codierungen sich selbst und die Mitglieder gegen Strafverfolgungsmaßnahmen abzuschirmen versuchte, indem er sich durch die zu I. geschilderte Tathandlung an einer von Kroatien und Serbien-Montenegro aus operierenden Tätergruppe, die sich darüber hinaus aus Nenad T*****, Novica G*****, Zladko A*****, Bojan A***** und weiteren bislang nicht bekannten Personen zusammensetzte, beteiligte."

Aufgrund dieser Haftbefehle wurde Zoran C***** am 3. Juli 2007 in Kroatien festgenommen (ON 40).

Am 27. August 2007 beantragte er durch seinen Verteidiger die Einvernahme des Nenad T***** zu seiner Beziehung zu Zoran C***** unter Vorhalt mehrerer unter einem vorgelegter, nach seinem Vorbringen (ua) den Beschuldigten darstellender Lichtbilder (ON 50). Am 10. September wurden der Genannte sowie der gesondert verfolgte Leonid V***** von der Untersuchungsrichterin als Zeugen vernommen (ON 53, 54).

Am 10. September langte der Antrag des Beschuldigten auf Aufhebung des Internationalen Haftbefehls beim Erstgericht ein (ON 55), den die Untersuchungsrichterin mit Beschluss vom 19. September 2007 abwies (ON 63).

Der dagegen am 23. September 2007 erhobenen (dem Beschwerdegericht am 27. September 2007 vorgelegten) Beschwerde des Beschuldigten gab das Oberlandesgericht Graz mit dem angefochtenen Beschluss vom 9. Oktober 2007 Folge und hob den Internationalen Haftbefehl sowie - aus Anlass der Beschwerde - den Europäischen Haftbefehl gegen Zoran C***** auf. Gleichzeitig wurde dem Erstgericht aufgetragen, bei unveränderter Sachlage die Enthaftung des Beschuldigten zu veranlassen. Zur Begründung führte das Beschwerdegericht im Wesentlichen aus, dass nach den Verfahrensergebnissen zwar Anhaltspunkte für eine Verwicklung des Beschwerdeführers in den ihm angelasteten (auch die inkriminierten Tathandlungen nach § 278a StGB darstellenden) Suchtgifttransfer vorlägen, diese jedoch - mangels Kooperationsbereitschaft des (nach dem Verfahrensstand alleine informierten Zeugen) Nenad T***** - als Grundlage für die Annahme eines konkreten und dringenden Tatverdachts der Begehung der von der Voruntersuchung und den beiden Haftbefehlen umfassten strafbaren Handlungen durch Zoran C***** nicht hinreichten. Den Beschwerdeeinwand, durch die erst am 10. September 2007 erfolgte Erledigung des Beweisantrags des Beschuldigten vom 27. August 2007 sei eine unangemessene Verfahrensverzögerung bewirkt worden, erachtete der Gerichtshof II. Instanz für nicht stichhältig und hielt in Anbetracht der Schwere des Tatvorwurfs und der Komplexität der Beweislage auch die Beschlussfassung über den (der Staatsanwaltschaft zur Stellungnahme übermittelten und am 13. September rückgelangten) Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls vom 10. September 2007 innerhalb von sechs Tagen für vertretbar.

Zur Behauptung einer „eklatanten Verletzung des Beschleunigungsgebots des § 193 Abs 1 StPO" durch die ca viermonatige Untätigkeit der Untersuchungsrichterin zwischen Erlassung des Haftbefehls und Einvernahme der beiden angeführten Zeugen trotz zwischenzeitig am 3. Juli 2007 erfolgter Verhaftung des Beschuldigten nahm das Beschwerdegericht nicht Stellung.

Auf Grund dieses Beschlusses wurde der Beschuldigte - nach seinem eigenen Vorbringen (S 334/III) - am 11. Oktober 2007 aus der Auslieferungshaft in Kroatien entlassen.

Aus Anlass des Beschlusses des Oberlandesgerichts Graz hat Zoran C***** (rechtzeitig) Grundrechtsbeschwerde erhoben, mit der er - gestützt auf § 2 Abs 2 GRBG - geltend macht, die die Haft beendende Entscheidung sei zufolge eines - schon in der Beschwerde an das Oberlandesgericht behaupteten - Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot des § 193 Abs 1 StPO durch das Erstgericht zu spät getroffen worden, weil - im Hinblick auf die vom Beschwerdegericht nach Ansicht des Beschuldigten zutreffend verneinte Haftvoraussetzung eines konkreten und dringenden Tatverdachts - schon die Erlassung der Haftbefehle nicht zulässig war, in der Folge weder seitens der Staatsanwaltschaft noch seitens des Gerichts irgendwelche Schritte gesetzt wurden, um entlastende oder den Tatverdacht verdichtende Beweise gegen den Beschuldigten zu erheben, die Erledigung des oben angesprochenen Beweisantrags vom 27. August 2007 (ON 50) vom Erstgericht - entgegen der damit kritisierten Begründung der angefochtenen Entscheidung - unangemessen verzögert wurde und die Entscheidung des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 19. September 2007 zudem rechtlich verfehlt war, sodass die die Enthaftung des Beschuldigten anordnende Beschlussfassung durch das Oberlandesgericht erst am 9. Oktober 2007 erfolgen konnte (ON 78).

Rechtliche Beurteilung

Vorauszuschicken ist zunächst, dass erstinstanzliche Beschlüsse über Erlassung und Aufhebung eines Haftbefehls als Entscheidungen „in Haftsachen" anzusehen sind, die nach der Rechtslage vor dem 1. Jänner 2008 mit einer an den Gerichtshof zweiter Instanz gerichteten Beschwerde nach § 179 Abs 5 StPO angefochten werden konnten (12 Os 130/95; ausführlich 15 Os 46, 47/99; vgl nunmehr § 87 Abs 1 iVm § 174 Abs 4 StPO idgF).

Der von der Untersuchungsrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Graz erlassene Internationale sowie der darauf beruhende Europäische Haftbefehl waren vorliegend die innerstaatliche Grundlage für die Verhängung und Aufrechterhaltung der Auslieferungshaft im Ausland. Als strafgerichtliche (innerstaatliche) Entscheidungen, die für die (ausländische) Entscheidung über die Auslieferungshaft präjudiziell sind, unterliegen daher die Haftbefehle - und damit auch ein Beschluss, mit dem ein Antrag auf deren Aufhebung abgewiesen wird - einer Überprüfung im Grundrechtsbeschwerdeverfahren (14 Os 128/95; zuletzt 14 Os 133/06z).

Nach § 2 Abs 2 GRBG kann aus Anlass einer die Freiheitsbeschränkung beendenden Entscheidung oder Verfügung Grundrechtsbeschwerde „mit der Behauptung erhoben werden, dass die Entscheidung oder Verfügung zu spät getroffen worden sei". Diese Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 1 GRBG trägt dem Umstand Rechnung, dass das Rechtsschutzinteresse des Betroffenen an der Feststellung einer Grundrechtsverletzung mit deren Beendigung nicht unbedingt weggefallen sein muss. Unberechtigte Verzögerungen durch das letztinstanzliche Gericht sollen daher in jedem Fall als Grundrechtsverletzung bekämpfbar sein. Aber auch verspätete Entscheidungen und Verfügungen von Vorinstanzen können als Grundrechtsverletzung aufgegriffen werden; dies allerdings nur dann, wenn ein Rechtszug (durch die bereits erfolgte Enthaftung mangels Beschwer) verwehrt, insoweit also der Instanzenzug erschöpft ist (11 Os 84/93; 13 Os 34/94; 14 Os 140/93; 13 Os 120, 121/95) und die Verzögerung für den Zeitpunkt der die Freiheitsbeschränkung beendenden Entscheidung kausal war (§ 2 Abs 2 GRBG). Sobald eine zu einer Freiheitsbeschränkung führende gerichtliche Entscheidung oder Verfügung im (ordentlichen) Rechtsmittelweg durch das Instanzgericht als gesetzwidrig festgestellt und aufgehoben wird, kommt die Erhebung einer Grundrechtsbeschwerde - von dem in § 2 Abs 2 GRBG erfassten Ausnahmefall einer diesem Gericht zuzuschreibenden Verzögerung abgesehen - dann nicht mehr in Betracht, wenn die grundrechtsverletzende Entscheidung behoben und dem rechtlichen Interesse des Betroffenen umfassend Rechnung getragen wurde (Hager/Holzweber § 2 GRBG E 90, 13 Os 120, 121/95). Vorliegend wurde zwar dem Rechtsschutzinteresse an der Feststellung der fehlenden Haftvoraussetzung eines hinreichenden Tatverdachts - auch nach der in der Grundrechtsbeschwerde vertretenen Auffassung - durch das Oberlandesgericht Genüge getan und die Enthaftung des Beschuldigten angeordnet, seinem rechtlichen Interesse aber gerade nicht umfassend Rechnung getragen, weil eine mit der Beschwerde an das Oberlandesgericht (auch) angestrebte Feststellung gesetzwidrigen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot durch das Erstgericht nicht erfolgte. Die Beschwerde behauptet demzufolge mit dem zitierten Vorbringen zu einer für die verspätete Beendigung der Freiheitsbeschränkung kausalen Untätigkeit des Erstgerichts zwischen Erlassung des Haftbefehls und Erledigung des Beweisantrags vom 27. August 2007 eine nach § 2 Abs 2 GRBG relevante Verzögerung der Haftentscheidung des Oberlandesgerichts.

Sie ist im Recht.

Dem Erstgericht standen bis zum Einlangen des Beweisantrags des Beschuldigten vom 27. August 2007 zur Überprüfung eines konkreten Tatverdachts gegen Zoran C***** lediglich Teile der kriminalpolizeilichen Ermittlungsergebnisse aus dem (Stamm-)Verfahren AZ 14 Ur 341/04s des Landesgerichts für Strafsachen Graz zur Verfügung, aus denen sich ergab, dass Zoran C***** als die Person ausgeforscht werden konnte (ON 32), die nach den Angaben des - zweimal polizeilich einvernommenen (S 189/I) - Nenad T***** 3 kg Kokain an Letztgenannten überlassen hatte, welche T***** durch Zvonimir N***** nach Österreich schmuggeln ließ und in der Folge an einen verdeckten Ermittler übergab (siehe oben Punkt I; ON 3, insbesonders S 81 f, 107/jeweils Bd I).

Nach Erlassung des Haftbefehls geschah bis zum Einlangen des oben angesprochenen Beweisantrags des Beschuldigten vom 27. August 2007 (ON 50) - abgesehen von der Einleitung des Auslieferungsverfahrens (S 3 ll/ON 1/Bd I) - nichts, obwohl das Erstgericht am 5. Juli 2007 die Mitteilung erhielt, dass Zoran C***** aufgrund des Europäischen Haftbefehls am 3. Juli 2007 in Rovinj festgenommen worden war (ON 40).

Erst aus Anlass des Beweisantrags ordnete die Untersuchungsrichterin am 27. August 2007 die Beischaffung „der Protokolle über die Vernehmung von Nenad T***** im hg Verfahren 8 Hv 83/06d" (S 3mm/ON 1/Bd I) an. Am 4. September 2007 langte über das Kriminalamt ein „Anschreiben eines kroatischen Anwalts" des Zoran C***** vom 8. August 2007 beim Erstgericht ein, dem eine Niederschrift des Nenad T***** vom 26. Jänner 2007 angeschlossen war, aus der sich nach der im Anschreiben vertretenen Ansicht eine Belastung des Beschuldigten nicht ergab (ON 51). Am 5. September veranlasste die Untersuchungsrichterin die Übermittlung der - der im Akt erliegenden Anzeige nicht angeschlossenen und (soweit ersichtlich) auch bislang nicht vollständig eingelangten - „Niederschriften, aus welchen sich eine Belastung des Zoran C***** ergibt" durch die Kriminalpolizei (S 3mm verso/ON 1/Bd I).

Angesichts der beschriebenen Verdachtslage ergibt sich aus den Umständen des Falls, dass das Erstgericht nicht nur unverzüglich - spätestens aber sofort nach der Verhaftung des Beschuldigten im Ausland - sämtliche haftrelevanten Ermittlungsergebnisse zum Akt nehmen und die Befragung zur Verfügung stehender Zeugen durchführen, sondern (mangels Möglichkeit einer persönlichen Gegenüberstellung) zur Erweiterung der Entscheidungsgrundlage auch die - ab diesem Zeitpunkt mögliche - Beischaffung von Fotomaterial über C***** veranlassen hätte müssen, um seine Identität mit dem von Nenad T***** genannten „Zoran aus Zagreb" abzuklären.

Stattdessen wurden Nenad T***** und Leonid V***** erst am 10. September gerichtlich einvernommen und mit den vom Beschuldigten vorgelegten Kopien von Fotos konfrontiert (ON 53 und 54), auf denen - nach dessen Vorbringen - unter anderem er selbst abgebildet sein soll.

Die Unterlassung der Durchführung der aufgezeigten Maßnahmen, die - nach dem jeweiligen Verfahrensstand - geboten gewesen wären und zu einer mutmaßlich zu erzielenden, zur Bewirkung einer früheren Enthaftung des Beschuldigten geeigneten Beschleunigung des Verfahrens oder aber einer Verdichtung des Tatverdachts führen hätten können, durch das Erstgericht stellt eine durchaus ins Gewicht fallende Säumigkeit in einer Haftsache dar. Der Beschwerdeführer macht zu Recht geltend, dass die Untätigkeit des Erstgerichts, die ihn an früherer Antragstellung auf Aufhebung des Europäischen Haftbefehls und dadurch erst möglicher Befassung des Oberlandesgerichts mit der Sache hinderte, kausal für den Zeitpunkt der - solcherart zu spät getroffenen - die Freiheitsbeschränkung beendende Entscheidung war. Dadurch wurde der Beschuldigte in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.

Insoweit sich die Beschwerde gegen die - vom Beschuldigten zuvor nicht bekämpfte - Erlassung des Internationalen Haftbefehls mit der Begründung wendet, konkreter Tatverdacht gegen den Beschuldigten sei niemals vorgelegen, verfehlt sie allerdings den oben beschriebenen Bezugspunkt und ist daher keiner Erörterung zugänglich. Da sich die Grundrechtsbeschwerde nicht gegen einen Beschluss des Oberlandesgerichts richtete, sondern aus Anlass dessen, die Freiheitsbeschränkung beendenden Entscheidung erhoben wurde, kommt eine Aufhebung (im Sinne des § 7 Abs 1 GRBG) nicht in Betracht. Die Kostenentscheidung beruht auf § 8 GRBG.

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