OGH 14Os140/93

OGH14Os140/937.9.1993

Der Oberste Gerichtshof hat am 7.September 1993 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Walenta als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Massauer und Mag.Strieder als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag.Kobinger als Schriftführerin in der Strafsache gegen Walter D* wegen des Verbrechens der versuchten Erpressung nach §§ 15, 144 Abs. 1 StGB und einer anderen strafbaren Handlung, AZ 22 Vr 3.717/92 des Landesgerichtes Innsbruck, über die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 20.Juli 1993, AZ 8 Bs 293/93 (= ON 120), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1993:0140OS00140.9300000.0907.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

Durch den angefochtenen Beschluß wurde Walter D* im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

 

 

Gründe:

 

Walter D* wurde auf Grund eines Haftbefehles des Landesgerichtes Innsbruck vom 5.Juli 1991 (ON 22/I) am 16.Dezember 1992 bei einer Autobahnkontrolle im Raume Wr.Neustadt festgenommen und dem Bezirksgericht Wr.Neustadt eingeliefert, das am 17.Dezember 1992 auf Ersuchen des Landesgerichtes Innsbruck über ihn wegen des dringenden Verdachtes der Vergehen des schweren Betruges nach §§ 146, 147 Abs. 2 StGB, der Ankündigung zur Herbeiführung unzüchtigen Verkehrs nach § 210 StGB, der Werbung für Unzucht mit Personen des gleichen Geschlechts oder mit Tieren nach § 220 StGB und der Verbindungen zur Begünstigung gleichgeschlechtlicher Unzucht nach § 221 StGB sowie der Vergehen nach § 1 Abs. 1 lit. a und c PornG und nach § 36 Abs. 1 Z 2 WaffG aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 180 Abs. 2 Z 1 StPO die Untersuchungshaft verhängte (S 123 verso/I und ON 35/I). In der Folge wurde die Voruntersuchung auch wegen dringenden Verdachtes des Verbrechens der versuchten Erpressung nach §§ 15, 144 Abs. 1 StGB sowie wegen eines weiteren Betrugsfaktums ausgedehnt (S 123 a/I). Nach Faktenausscheidungen und Teileinstellungen brachte die Staatsanwaltschaft am 22.März 1993 beim Einzelrichter des Landesgerichtes Innsbruck gegen den Beschuldigten einen Strafantrag wegen des Vergehens des schweren Betruges nach §§ 146147 Abs. 2 StGB und wegen des Verbrechens der versuchten Erpressung nach §§ 15144 Abs. 1 StGB (ON 75/II) sowie am 30.März 1993 ‑ in einem zunächst gesondert geführten, aber dann einbezogenen Verfahren ‑ wegen des Vergehens nach § 1 Abs. 1 lit. a PornG (ON 8 in ON 92 des Originalaktes) ein.

In der Hauptverhandlung vom 7.Juni 1993, die vertagt werden mußte, beantragte der Verteidiger die Enthaftung des Beschuldigten wegen Wegfalls des Haftgrundes, allenfalls gegen Gelöbnis und Stellung einer Kaution. Der Staatsanwalt sprach sich dagegen aus und beantragte seinerseits die Verhängung der Untersuchungshaft nunmehr auch aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs. 2 Z 3 lit. b und c StPO. Der Einzelrichter gab dem Enthaftungsantrag des Beschuldigten nicht Folge, "weil der angezogene Haftgrund nach wie vor vorliegt". Eine Entscheidung über den Antrag des Staatsanwaltes unterblieb zunächst (siehe HV‑Protokoll ON 97/II, S 62).

Gegen diesen Beschluß erhob der Beschuldigte am 18.Juni 1993 Haftbeschwerde an das Oberlandesgericht Innsbruck (ON 99), die dort am 24.Juni 1993 einlangte (ON 100). Am 25.Juni 1993 leitete das Oberlandesgericht die Akten der Oberstaatsanwaltschaft zur Stellungnahme zu, die sie am 28.Juni 1993 mit dem Antrag rückmittelte, dem Erstgericht aufzutragen, zunächst über den Antrag des Staatsanwaltes auf Verhängung der Untersuchungshaft auch wegen Tatbegehungsgefahr zu entscheiden (ON 101). Demgemäß wurden die Akten dem Erstgericht zurückgestellt und der Einzelrichter verhängte am 30.Juni 1993 über Walter D* antragsgemäß die Untersuchungshaft auch aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs. 2 Z 3 lit. b und c StPO (ON 102). Diesen Beschluß machte der Einzelrichter dem Beschuldigten kund (ON 34, S 123 m/I) und verfügte zugleich die Zustellung einer Beschlußausfertigung an den Verteidiger. Sodann legte der Einzelrichter die Akten wieder dem Oberlandesgericht vor, wo sie am 5.Juli 1993 einlangten (ON 103).

Offensichtlich wurden die Akten sodann neuerlich der Oberstaatsanwaltschaft übermittelt, wie sich aus einer am 16.Juli 1993 beim Oberlandesgericht eingelangten Stellungnahme des Verteidigers zur Äußerung der Oberstaatsanwaltschaft ergibt (siehe Schriftsatz vom 13.Juli 1993 vor ON 104 des Kopienaktes).

Mittlerweile hatten zwei weitere Hauptverhandlungen stattgefunden (ON 104 und 109) und mit Urteil vom 14.Juli 1993 (ON 110) wurde Walter D* wegen des Vergehens des schweren Betruges nach §§ 146147 Abs. 2 StGB (3 Angriffe mit einem Schaden von rund 80.000 S) und wegen des Verbrechens der versuchten Erpressung nach §§ 15144 Abs. 1 StGB (beabsichtigter Schaden 16.000 DM) zu 16 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Vom Vorwurf wegen Vergehens nach § 1 Abs. 1 lit. a PornG wurde er gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Der Beschuldigte hat gegen dieses Urteil Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe, die Staatsanwaltschaft Berufung wegen Strafe ergriffen (ON 124, 115/II). Über diese Rechtsmittel wurde nach dem Inhalt der dem Obersten Gerichtshof vorliegenden Kopienakten noch nicht entschieden.

Am 16.Juli 1993 überreichte der Verteidiger eine an die Ratskammer des Landesgerichtes Innsbruck gerichtete Haftbeschwerde (ON 113) gegen den Beschluß des Einzelrichters vom 30.Juni 1993, mit dem dieser die Untersuchungshaft auch wegen Tatbegehungsgefahr verhängt hatte. Die Ratskammer wies jedoch mit Beschluß vom 21.Juli 1993 (ON 114) die Beschwerde als verspätet zurück, weil sie die Beschwerdefrist schon ab Kundmachung des Beschlusses an den Beschuldigten (am 30.Juni 1993) und nicht erst ab der Zustellung der Beschlußausfertigung an den Verteidiger berechnete. Gegen diesen Ratskammerbeschluß hat der Verteidiger am 6.August 1993 abermals Beschwerde an das Oberlandesgericht Innsbruck erhoben (ON 122), über die nach dem Inhalt der vorliegenden Kopienakten ebenfalls noch nicht entschieden worden ist.

Bereits zuvor, und zwar am 20.Juli 1993 (ON 120) hat das Oberlandesgericht Innsbruck aber über die eingangs erwähnte Haftbeschwerde (vom 18.Juni 1993) gegen den in der Hauptverhandlung vom 7.Juni 1993 gefaßten abweislichen Haftbeschluß des Einzelrichters entschieden. Der Beschwerde wurde nicht Folge gegeben und die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus den Gründen der Flucht‑ und Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs. 2 Z 1 und 3 lit. b und c StPO angeordnet. Das Beschwerdegericht begründete seine Entscheidung damit, daß die Dringlichkeit des Tatverdachtes durch das (wenn auch noch nicht rechtskräftige) Urteil vom 14.Juli 1993 bestärkt sei. Die Vorschrift des § 190 StPO, wonach die wegen Fluchtgefahr verhängte Untersuchungshaft (ua) gegen Haftkaution unterbleiben muß, wenn ‑ wie hier ‑ die dem Beschuldigten vorgeworfenen strafbaren Handlungen nicht mit strengerer als 5‑jähriger Freiheitsstrafe bedroht sind, käme nicht zum Tragen, weil mit dem nachfolgenden Beschluß vom 30.Juni 1993 zu Recht auch Tatbegehungsgefahr angenommen worden sei.

 

Rechtliche Beurteilung

Gegen diese Beschwerdeentscheidung richtet sich die vorliegende Grundrechtsbeschwerde des Walter D*, in welcher der Beschwerdeführer sich im Grundrecht auf persönliche Freiheit wie folgt verletzt erachtet:

1. Bei der Beurteilung der Gesetzmäßigkeit des Beschlusses vom 7.Juni 1993 hätte im Hinblick auf § 190 StPO einerseits die Unterlassung der Kautionsfestsetzung nicht außer Betracht bleiben und andererseits der (nachträgliche) Beschluß vom 30.Juni 1993 auf Verhängung der Untersuchungshaft auch wegen Tatbegehungsgefahr nicht berücksichtigt werden dürfen;

2. Das Oberlandesgericht Innsbruck habe über die am 17. (richtig: 18.) Juni 1993 beim Erstgericht eingelangte Beschwerde entgegen der Vorschrift des § 196 Abs. 1 StPO nicht "ohne Verzug", nämlich erst am 20.Juli 1993 entschieden;

3. Zu Unrecht habe das Oberlandesgericht Innsbruck Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs. 2 Z 3 lit. b und c StPO angenommen, weil dafür keine bestimmten Tatsachen vorlägen;

4. Die bisher (bis zur Einbringung der Grundrechtsbeschwerde) fast 8 Monate andauernde Haft sei im Hinblick auf die Möglichkeit einer bedingten Entlassung schon nach der Hälfte der im Urteil verhängten Freiheitsstrafe von 16 Monaten (§ 46 Abs. 1 StGB) bereits offenbar unangemessen im Sinne des § 193 Abs. 2 StPO;

5. Auch der Haftgrund der Fluchtgefahr sei nicht mehr gegeben, weil mit Rücksicht auf die bisherige Dauer der Haft und die zu erwartende bedingte Entlassung nicht anzunehmen sei, daß sich der Beschwerdeführer dem Berufungsverfahren entziehen würde.

Die Grundrechtsbeschwerde ist in keinem Punkte begründet:

Zu 1.

Richtig ist, daß der Einzelrichter im Beschluß vom 7.Juni 1993 die zwingende Bestimmung des § 190 StPO, wonach bei einer nicht strenger als mit fünfjähriger Freiheitsstrafe bedrohten strafbaren Handlung die wegen Verdachtes der Flucht verhängte Haft gegen eine von der Ratskammer zu bestimmende Kautionssumme und gegen Ablegung der im § 180 Abs. 5 Z 1 und 2 StPO erwähnten Gelöbnisse auf Verlangen aufgehoben werden muß, mißachtet hat. Er hat sich allerdings zugleich ‑ ebenso zu Unrecht ‑ nicht der Entscheidung über den vom Staatsanwalt gestellten Antrag auf Verhängung der Untersuchungshaft auch wegen Tatbegehungsgefahr unterzogen, wonach dem Enthaftungsantrag des Beschuldigten ‑ trotz des Kautions‑ bzw. Gelöbnisangebotes ‑ allenfalls der Boden entzogen worden wäre. Aus der erstangeführten unrichtigen Anwendung des Gesetzes (§ 190 StPO) waren aber im Grundrechtsbeschwerdeverfahren vom Obersten Gerichtshof schon deshalb keine Konsequenzen zu ziehen, weil Voraussetzung dafür die Erschöpfung des Instanzenzuges ist (§ 1 Abs. 1 GRBG).

Dem Oberlandesgericht Innsbruck ‑ als hier maßgebender Beschwerdeinstanz ‑ hinwieder ist ‑ entgegen dem eine unzulässige nachträgliche "Sanierung" des Beschlusses des Einzelrichters vom 7.Juni 1993 behauptenden Vorbringen in der Grundrechtsbeschwerde ‑ insoweit keine Gesetzesverletzung unterlaufen. Da im Beschwerdeverfahren kein Neuerungsverbot besteht, ist nämlich vom Gerichtshof zweiter Instanz eine Haftentscheidung der Vorinstanz nach der Verfahrenslage zu prüfen, wie sie sich zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung darbietet, weshalb das Oberlandesgericht Innsbruck den in der Zwischenzeit vom Einzelrichter gefaßten Beschluß vom 30.Juni 1993 gar nicht unberücksichtigt lassen durfte. Dies unabhängig davon, ob ‑ wie hier ‑ der zusätzliche Haftgrund wegen eines bereits damals vorliegenden Antrages schon im angefochtenen Beschluß des Einzelrichters vom 7.Juni 1993 hätte angenommen werden können oder nicht. Voraussetzung einer Berücksichtigung des Haftbeschlusses vom 30.Juni 1993 war auch nicht dessen formelle Rechtskraft, da das Oberlandesgericht als Beschwerdeinstanz ohnedies verpflichtet war, von Amts wegen alle Voraussetzungen der Haft, also insbesondere den Haftgrund der Tatbegehungsgefahr, nachzuprüfen, den es vorliegendenfalls ‑ wie noch auszuführen ist (zu Punkt 3) ‑ mit Recht bejaht hat.

Aus diesem Grund kann aber ‑ wie zur Klarstellung vermerkt sei ‑ die unrichtige Beurteilung des Gesetzes durch den Einzelrichter bei der (weiteren) Anhaltung des Beschwerdeführers auch zu einer rückbezüglichen Feststellung einer Grundrechtsverletzung keinen Anlaß bieten, weil ein solcher Ausspruch nur für den Fall einer die Freiheitsbeschränkung beendenden (idS "sanierenden") Entscheidung (des Oberlandesgerichtes) gesetzlich vorgesehen ist, wenn solcherart die ‑ schon vom Einzelrichter zu treffen gewesene ‑ Entscheidung über die Enthaftung des Beschuldigten gegen Kaution und Gelöbnis verspätet getroffen worden wäre (§ 2 Abs. 2 GRBG).

Zu 2.

Angesichts der dargestellten Chronologie des Beschwerdeverfahrens kann von einer Verfahrensverzögerung durch das Oberlandesgericht Innsbruck keine Rede sein, zumal die Rücksendung der Akten zur Nachholung der Entscheidung über den unerledigt gebliebenen Antrag des Staatsanwaltes in der Hauptverhandlung unerläßlich war.

Zu 3.

Die mehreren, zum Teil schweren Vorstrafen des Beschwerdeführers wegen Raub, Erpressung und Betrug liegen keineswegs schon so lange zurück, daß sie nicht mehr hätten berücksichtigt werden dürfen. Im Zusammenhang mit den hier in Rede stehenden wiederholten betrügerischen Angriffen und dem schweren Erpressungsversuch unter Ausnützung menschlicher Schwächen hat das Oberlandesgericht Innsbruck mit Recht die durch gelindere Mittel nicht zu beseitigende Gefahr als gegeben angenommen, daß der Beschuldigte auf freiem Fuße ungeachtet des gegen ihn geführten Strafverfahrens einschlägige strafbare Handlungen (auch) mit nicht bloß leichten Folgen begehen könnte. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß der Beschwerdeführer nach der Aktenlage keiner geregelten Beschäftigung nachgeht und kein Einkommen bezieht, sodaß die kriminelle Beschaffung von Subsistenzmitteln durchaus naheliegt. Der Hinweis auf verfügbares Barvermögen von etwa 100.000 S versagt, weil dieser ‑ unbescheinigte ‑ Umstand mangels eines entsprechenden Beschwerdevorbringens vom Oberlandesgericht nicht berücksichtigt werden konnte.

Zu 4.

Im Hinblick auf die in erster Instanz erkannte Freiheitsstrafe von 16 Monaten war zum maßgebenden Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung die Dauer der Untersuchungshaft von damals etwas mehr als 7 Monaten auch unter Berücksichtigung der Möglichkeiten einer allfälligen bedingten Entlassung nach Lage des Falles noch keineswegs offenbar unangemessen (§ 193 Abs. 2 StPO).

Zu 5.

Nach der Aktenlage ist davon auszugehen, daß die Lebensverhältnisse des Beschwerdeführers nicht geordnet sind. Er geht ersichtlich keiner geregelten Beschäftigung nach und hat weder im Inland noch im Ausland einen festen Wohnsitz (S 121/I). Der Haftbefehl gegen ihn konnte erst nach mehr als einem Jahr durch Zufall vollzogen werden. Mit Recht hat daher das Oberlandesgericht Innsbruck auch Fluchtgefahr angenommen, die durch die bisherige Haftdauer keineswegs gebannt erscheinen konnte.

Walter D* wurde somit durch die Entscheidung des Oberlandesgerichtes Innsbruck im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt, weshalb seine Beschwerde abzuweisen war.

Da der Ersatz der Beschwerdekosten dem Bund nur bei einem stattgebenden Erkenntnis aufzuerlegen ist, hatte eine Kostenentscheidung zu entfallen (§ 8 GRBG).

 

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte