Spruch:
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichtes insgesamt wie folgt zu lauten hat:
„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab 1. 1. 2005 Pflegegeld der Stufe 5 in Höhe von EUR 859,30 monatlich zu gewähren und die mit EUR 794,80 (darin EUR 131,81 Umsatzsteuer und EUR 3,95 Barauslagen) bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen zu ersetzen. Das auf Gewährung von Pflegegeld der Stufe 6 ab 1. 1. 2005 gerichtete Mehrbegehren wird abgewiesen."
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 818,98 (darin EUR 136,50 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 8. 4. 2005 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 17. 12. 2004 auf Erhöhung des ihr bereits seit 1. 6. 2001 in Höhe der Stufe 4 nach dem BPGG zuerkannten Pflegegeldes ab. Das Erstgericht wies im zweiten Rechtsgang das auf Gewährung von Pflegegeld der Stufe 6 ab 1. 1. 2005 gerichtete Klagebegehren ab. Es traf - zusammengefasst - folgende Feststellungen:
Die Klägerin leidet seit der Antragstellung an einer schweren Zuckerkrankheit mit Netzhautveränderungen, Blutungen, sowie an einer Netzhautabhebung; sie ist als blind im Sinn des Bundespflegegeldgesetzes zu bezeichnen. Internistisch hat sie kardiorespiratorische Dekompensationen, wobei unter den eingeschränkten Mobilisierungen ein stabiles Zustandsbild herrscht. Ihre diabetische Polyneuropathie tritt erhöht bei den unteren Extremitäten, geringer im Bereich der oberen Extremitäten auf. Weiters liegt eine Spreizfußstellung links und ein Lumbalsyndrom (Verdacht auf Bandscheibenvorfall) vor. Psychiatrisch befindet sie sich in einen reaktiv-depressiven Verstimmungszustand. Die Klägerin benötigt Mobilitätshilfe im engeren Sinn für den Transfer in den Rollstuhl; ebenso Mobilitätshilfe im weiteren Sinn. Sie ist unsicher. Eine Potenzierung der Leiden infolge ihrer Blindheit ist gegeben. Die Klägerin kann nicht alleine auf die Toilette gehen und bedarf für die Verrichtung der Notdurft bzw die Reinigung nach der Verrichtung der Notdurft fremder Hilfe. In der Nacht trägt sie eine Windelhose; die Reinigung muss mit einer Hilfsperson gemacht werden. Auch die Medikamente müssen ihr hergerichtet werden.
Hilfe benötigt die Klägerin auch zum täglichen Reinigen der Unterschenkel und der Füße (wegen Diabetes mellitus), für die Zubereitung einer abwechslungsreichen Kost und für das An- und Auskleiden. Sie kann die tägliche Körperpflege nicht selbst durchführen und sich selbst nur notdürftig Gesicht und Hände waschen. Sie kann den Wohnraum nicht instand halten und auch nicht die persönlichen Gebrauchsgegenstände reinigen oder Mahlzeiten zubereiten. Sie kann lediglich vorgeschnittene und breiige Kost alleine essen und vorbereitete Medikamente einnehmen. Die Pflege der Leib- und Bettwäsche und das Herbeischaffen von Nahrungsmitteln ist ihr ebenso wenig möglich, wie das Aufsuchen von Arzt oder Apotheke. Auch zu sämtlichen schwierigen Verrichtungen wie Großreinemachen und Putzen braucht sie - wie für den Transfer in und aus dem Rollstuhl - Fremdhilfe.
„Unkoordinierte Pflegeleistungen" sind bei der Klägerin jedoch nicht notwendig.
In rechtlicher Hinsicht gelangte das Erstgericht zum Ergebnis, dass die Klägerin aufgrund ihrer Blindheit im Sinn des BPGG die Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegegeld der Stufe 4 erfülle (§ 4a Abs 5 BPGG). Ihr Pflegebedarf betrage zwar monatlich mehr als 180 Stunden, es seien jedoch koordinierte Pflegeleistungen möglich. Da kein außergewöhnlicher Pflegebedarf und auch keine Eigen- oder Fremdgefährdung vorliege, sei die Einstufung der Klägerin in die Pflegegeldstufe 5 nicht möglich.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Die Klägerin weise darauf hin, dass sie „unter anderem" blind und vom Rollstuhl abhängig sei sowie an einer diabetischen Polyneuropathie leide. Das Erstgericht habe diese Umstände (die einer Einstufung in die Pflegegeldstufe 4 seit 1. 6. 2001 entsprächen, aber kein Erfordernis der dauernden Bereitschaft einer Pflegeperson bedingten) ohnehin berücksichtigt und - zutreffend - auch die diagnosebezogene Pflegegeldeinstufung der Klägerin nach § 4a Abs 4 und Abs 5 BPGG geprüft.
Die Betreuungsmaßnahmen bei der Pflege der Klägerin seien aber noch koordinierbar; eine koordinierte Pflege während des Tages und der Nacht sei (noch) möglich. Zusätzliche Pflegemaßnahmen, die über die vorgeplanten pflegerischen Einheiten hinausgingen und gemeinsam mit diesen eine zeitliche Intensität erreichten, dass sich eine Pflegeperson in der Nähe der Klägerin aufhalten müsse, um dieser unmittelbar notwendig werdende Pflegemaßnahmen angedeihen lassen zu können, seien nach den Feststellungen nicht erforderlich. Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 5 bestünde nur, wenn Umstände vorlägen, die einen Betreuungsaufwand bedingten, der jederzeit auftreten könne und daher das unmittelbare, zeitlich nicht planbare Einschreiten einer Betreuungsperson erforderlich mache. Das Erfordernis der dauernden Bereitschaft einer Pflegeperson wäre nur dann zu bejahen, wenn die Nachschau in relativ kurzen Zeitabständen erforderlich sei.
Nach ständiger Rechtsprechung seien die Voraussetzungen für eine höhere Einstufung als nach Pflegegeldstufe 4 nicht erfüllt wenn - wie hier - keine Gefahr selbst- oder fremdgefährdender Handlungen und auch kein Anhaltspunkt für das Erfordernis zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen oder einer dauernden Bereitschaft einer Pflegeperson bestehe, um die Verwahrlosung der Betroffenen zu verhindern.
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen erhobene außerordentliche Revision der Klägerin ist zulässig - weil das Berufungsgericht nicht von der (aktuellen) Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes ausgeht - und teilweise auch berechtigt.
Die beklagte Partei beteiligte sich nicht am Revisionsverfahren. Die Revisionswerberin macht geltend, das Berufungsgericht sei von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abgewichen. Sie beruft sich auf die Entscheidung 10 ObS 165/06x (wonach die Formulierung des § 6 EinstV: „Ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand liegt vor, wenn die dauernde Bereitschaft, nicht jedoch die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich ist." nicht zwingend eine restriktive Auslegung dahingehend verlange, dass nach dieser Bestimmung ein „außergewöhnlicher Pflegebedarf" im Sinne einer besonders qualifizierten Pflege ausschließlich bei Notwendigkeit einer „dauernden Bereitschaft" denkbar sei; ein außergewöhnlicher Pflegebedarf im Sinn des § 4 Abs 2 BPGG iVm § 6 EinstV aber jedenfalls dann vorliege, wenn die Notwendigkeit einer besonders qualifizierten Form der Pflege durch das Erfordernis einer dauernden Bereitschaft [Rufbereitschaft] einer Pflegeperson indiziert sei, und darüber hinaus für eine Einstufung in die Pflegegeldstufe 5 auch noch andere einen vergleichbaren besonders qualifizierten Pflegebedarf indizierende Fallgestaltungen in Betracht kämen [= RIS-Justiz RS0121582]) und vertritt den Standpunkt, eine derartige Fallgestaltung müsse auch hier bejaht werden. Außerdem habe der Oberste Gerichtshof einen Pflegefall bei Rollstuhlabhängigkeit, Blindheit, Harninkontinenz samt Einlagenversorgung und Diabetes (wobei gerade bei Blindheit besondere Hilflosigkeit gegeben sei) noch nicht vorgenommen. Angesichts des vorliegenden Krankheitsbildes und der Hilflosigkeit sei unverzügliches, somit nicht planbares Eingreifen jedenfalls indiziert und ein dringender Bedarf nach fremder Hilfe bzw dauernder Bereitschaft einer Pflegeperson gegeben. Mit diesen (zuletzt erstatteten) Ausführungen entfernt sich die Zulassungsbeschwerde von den im Revisionsverfahren nicht mehr angreifbaren - im Berufungsverfahren überprüften - Feststellungen der Tatsacheninstanzen, wonach sich aus den aufgrund der eingeholten Sachverständigengutachten detailliert angeführten Tätigkeiten, welche der Klägerin nicht mehr möglich sind, ergibt, dass unkoordinierbare Pflegeleistungen nicht erforderlich, die Pflegemaßnahmen also „planbar und koordinierbar" sind, wobei „kein Anhaltspunkt" für das Erfordernis einer dauernden Bereitschaft einer Pflegeperson (die im Wohnungsbereich der Klägerin offenbar auch gar nicht gegeben ist [vgl AS 71 f]) und auch keine Gefahr selbst- oder fremdgefährdender Handlungen besteht.
Ein Zuspruch von Pflegegeld der - von der Revisionswerberin weiterhin begehrten - Stufe 6 scheitert daher bereits an den zitierten Feststellungen, wonach weder die Anspruchsvoraussetzung der Erforderlichkeit zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen, die regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringen sind (§ 4 Abs 2 Stufe 6 Z 1 BPGG) noch die alternative Anspruchsvoraussetzung des Erfordernisses der dauernden Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht, weil die Wahrscheinlichkeit einer Eigen- oder Fremdgefährdung gegeben ist, verwirklicht ist (§ 4 Abs 2 Stufe 6 Z 2 BPGG; 10 ObS 39/06t).
Was hingegen die Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 5 betrifft ist zunächst festzuhalten, dass der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung vom 5. 12. 2006, 10 ObS 165/06x, unter anderem Folgendes ausgesprochen hat:
„Soweit aus früheren Entscheidungen auch die Auffassung abgeleitet werden kann, die Möglichkeit der zeitlichen Koordination der Pflegeleistungen schließe einen Anspruch auf Stufe 5 von vornherein aus, kann diese Ansicht nicht aufrechterhalten werden. In diesem Sinne hat der erkennende Senat in der erst jüngst ergangenen Entscheidung 10 ObS 39/06t bereits ausdrücklich darauf hingewiesen, dass etwa die Möglichkeit der zeitlichen Koordination der Pflegeleistungen einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 5 nicht scheitern lässt, wenn eine Nachschau in relativ kurzen Zeitabständen erforderlich ist. Die Fälle der unkoordinierbaren Pflegeleistungen, die regelmäßig nur bei Tag oder bei Nacht notwendig sind und/oder kein unverzügliches Eingreifen erfordern, stellen daher typische Anwendungsfälle der Pflegegeldstufe 5 dar, ohne diese aber abschließend zu umschreiben (in diesem Sinne auch Greifeneder/Liebhart, Handbuch Pflegegeld, Rz 337 f). Das Erfordernis einer besonders qualifizierten Pflege muss jedoch auch bei der Pflegegeldstufe 5 ein gewisses Ausmaß erreichen, um von einem „außergewöhnlichen Pflegebedarf" sprechen zu können. So rechtfertigt eine Stuhl- und/oder Harninkontinenz für sich allein ebenso wenig wie der Umstand, dass der Betroffene weitgehend an das Bett bzw den Rollstuhl gebunden ist, die Annahme eines außergewöhnlichen Pflegebedarfes ..." (10 ObS 165/06x mwN = RIS-Justiz RS0106361 [T16 und T17]).
Über diese letztgenannten Umstände geht jedoch der Pflegebedarf der Klägerin eindeutig hinaus. Zu Recht beruft sie sich daher darauf, dass bei ihr durch das Zusammentreffen von Rollstuhlabhängigkeit, Blindheit, Harninkontinenz samt Einlagenversorgung und Diabetes eine „besondere Hilflosigkeit" gegeben ist, die dazu führt, dass das Erfordernis der besonders qualifizierten Pflege bei ihr ein Ausmaß erreicht, bei dem von einem „außergewöhnlichen Pflegebedarf" gesprochen werden muss; schließt doch, wie bereits ausgeführt, die Möglichkeit der zeitlichen Koordination der Pflegeleistungen einen Anspruch auf Stufe 5 - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes - nicht von vornherein aus (vgl auch Greifeneder/Liebhart aaO Rz 336). Nach § 4 Abs 2 BPGG besteht Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 5 vielmehr dann, wenn zu einem durchschnittlichen monatlichen Pflegebedarf von mehr als 180 Stunden ein „außergewöhnlicher Pflegebedarf" hinzutritt. Aus dieser gesetzlichen Regelung ist zu folgern, dass die Stufe 5 allen Pflegebedürftigen zugänglich sein soll, bei denen zum funktionsbezogen ermittelten, rein zeitmäßig bestimmten Pflegebedarf von mehr als 180 Stunden besondere - die Pflege zusätzlich erschwerende - qualifizierende Elemente hinzutreten, die aber noch nicht ausreichen, die Voraussetzungen für die Stufen 6 oder 7 (zur Gänze) zu erfüllen (RIS-Justiz RS0121581). Von der referierten Rechtsprechung ausgehend (vgl bereits 10 ObS 39/06t vom 17. 8. 2006), ist der Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld der Stufe 5 daher zu bejahen, weshalb ihr in teilweiser Stattgebung der Revision Pflegegeld dieser Stufe zuzusprechen war, das ab 1. 1. 2005 EUR 859,30 monatlich beträgt (§ 5 BPGG idF BGBl I 2004/136). Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 ASGG. Nach § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG hat der Versicherte gegenüber dem Versicherungsträger Anspruch auf Ersatz aller seiner sonstigen „durch die Prozessführung verursachten, zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Verfahrenskosten". Die verzeichneten vorprozessualen Kosten und jene für einen gar nicht eingebrachten Schriftsatz vom 15. 9. 2005 sind daher nicht zuzusprechen, während für den Rekurs ON 9 nur 60 % Einheitssatz und für die beiden kurzen Eingaben ON 12 und 15 (die der Terminkoordination mit dem Sachverständigen dienten) nur ein Honorar nach TP 1 zusteht.
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