OGH 10ObS39/06t

OGH10ObS39/06t17.8.2006

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Albert Ullmer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Edith R*****, vertreten durch Mag. Axel Bauer, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. Dezember 2005, GZ 10 Rs 143/05f-32, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 4. Mai 2005, GZ 20 Cgs 134/03x-28, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichtes insgesamt wie folgt zu lauten hat:

„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab 1. 4. 2003 Pflegegeld der Stufe 5, und zwar vom 1. 4. 2003 bis 31. 12. 2004 in Höhe von 842,40 EUR monatlich und ab 1. 1. 2005 in Höhe von 859,30 EUR monatlich zu gewähren und die mit 1.700,11 EUR (davon 12 EUR Barauslagen und 283,35 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Das auf Gewährung von Pflegegeld der Stufe 6 ab 1. 4. 2003 gerichtete Mehrbegehren wird abgewiesen."

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 818,98 EUR (davon 136,50 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 4. 8. 2003 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 14. 3. 2003 auf Erhöhung des ihr bereits in Höhe der Stufe 4 nach dem BPGG zuerkannten Pflegegeldes ab.

Das Erstgericht wies auch im zweiten Rechtsgang das auf Gewährung von Pflegegeld der Stufe 6 ab 1. 4. 2003 gerichtete Klagebegehren ab.

Es traf folgende Feststellungen:

Die 1922 geborene Klägerin wohnt im Parterre eines Reihenhauses. Ihre Wohnung ist mit WC, Badezimmer und einer Gasetagenheizung ausgestattet. Nach einem Schlaganfall im Jahr 1998 ist sie halbseitig gelähmt. Bei ihr bestehen weitere im Einzelnen festgestellte körperliche, geistige und psychische Behinderungen. Sie kann nicht gehen und stehen. Sie ist harn- und stuhlinkontinent. Sie kann aufgrund der Behinderungen die Notdurft nicht allein verrichten und sich danach reinigen. Das An- und Auskleiden, die tägliche Körperpflege, die Zubereitung von Mahlzeiten, die Reinigung von Wohnung und Gebrauchsgegenständen, die Pflege von Leib- und Bettwäsche, die Herbeischaffung von Lebensmitteln, von Bedarfsgütern des täglichen Lebens und von Medikamenten sind der Klägerin nicht möglich. Mahlzeiten kann sie selbst einnehmen. Speisen müssen vorgeschnitten und ihr die Medikamente gereicht werden. Mobilitätshilfe im engeren Sinn (Rollstuhltransfer) und auch im weiteren Sinn sind erforderlich. Wegen der aufgrund der häufigen Durchfälle stark erhöhten Gefahr des Wundliegens ist regelmäßiges Umlagern der Klägerin im Abstand von vier bis fünf Stunden während des Tages und der Nacht erforderlich. Wegen der durch ihre Demenz hervorgerufenen Unruhezustände kann sie während des Tages höchstens 45 Minuten bis eine Stunde allein gelassen werden. Für diese Nachschau (wie beruhigend auf sie einreden, ihr versichern, dass man da ist) sind jeweils ein paar Minuten erforderlich. Zustände, die einen zwischen diesen Nachschauen gelagerten Betreuungsaufwand bedingen, der jederzeit auftreten können und daher das unmittelbare zeitlich nicht planbare Einschreiten einer Betreuungsperson erforderlich machen, liegen weder während des Tages noch während der Nacht vor. Die Klägerin verbringt die Nacht nach Einnahme eines Schlafmittels ruhig, gelegentlich wacht sie auf und muss gewickelt werden. Das ist jedoch nicht regelmäßig jede Nacht erforderlich. Rechtlich führte das Erstgericht aus, die Klägerin habe einen monatlichen Pflegebedarf von 183 Stunden. Sie habe keinen Anspruch auf ein höheres Pflegegeld als das der Stufe 4, weil sie zwischen den Nachschauen alleine gelassen werden könne und daher in diesem zeitlichen Rahmen eine Koordinierbarkeit durchaus möglich sei. Mit Ausnahme des zeitlich koordinierbaren und planbaren Umbettens gegen eventuell auftretenden Dekubitus alle vier bis fünf Stunden auch während der Nacht benötige die Klägerin während der Nacht regelmäßig keine zusätzlichen Pflegemaßnahmen.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 5 bestehe nur, wenn Umstände vorlägen, die einen Betreuungsaufwand bedingten, der jederzeit auftreten könne und daher das unmittelbare, zeitlich nicht planbare Einschreiten einer Betreuungsperson erforderlich mache. Eine koordinierte Pflege der Klägerin während des Tages und der Nacht sei jedoch möglich. Zusätzliche Pflegemaßnahmen, die über die vorgeplanten pflegerischen Einheiten hinausgingen und gemeinsam mit diesen eine zeitliche Intensität erreichten, dass sich eine Pflegeperson in der Nähe der Klägerin aufhalten müsse, um dieser unmittelbar notwendig werdende Pflegemaßnahmen angedeihen lassen zu können, seien nach den Feststellungen nicht erforderlich.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision der Klägerin ist zulässig, weil das Berufungsgericht durch unrichtige Subsumtion des festgestellten Sachverhalts unter die von ihm zitierten Leitsätze des Obersten Gerichtshofs von dessen Rechtsprechung abgewichen ist. Sie ist auch teilweise berechtigt.

Die beklagte Partei beteiligte sich nicht am Revisionsverfahren. Der Revisionsantrag ist zwar auf Abänderung der angefochtenen Entscheidung im klagestattgebenden Sinn, also auf Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 6 gerichtet, die Revision wird jedoch nur dahin ausgeführt, dass die Anspruchsvoraussetzungen für Pflegegeld der Stufe 5 gegeben seien. Ein Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 6 scheitert daran, dass nach den Feststellungen weder die Anspruchsvoraussetzung der Erforderlichkeit zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen, die regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringen sind (§ 4 Abs 2 Stufe 6 Z 1 BPGG) noch die alternative Anspruchsvoraussetzung der Erforderlichkeit der dauernden Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht, weil die Wahrscheinlichkeit einer Eigen- oder Fremdgefährdung gegeben ist, verwirklicht ist (§ 4 Abs 2 Stufe 6 Z 2 BPGG). Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 5 besteht gemäß § 4 Abs 2 BPGG für Personen, deren Pflegebedarf nach der funktionsbezogenen Beurteilung nach § 4 Abs 1 BPGG durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand erforderlich ist. Unstrittig ist davon auszugehen, dass der Pflegebedarf der Klägerin mehr als 180 Stunden monatlich beträgt. Ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand liegt nach § 6 EinstVO vor, wenn die dauernde Bereitschaft, nicht jedoch die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich ist. Dauernde Bereitschaft ist nach ständiger Rechtsprechung dahingehend zu verstehen, dass der Pflegebedürftige jederzeit Kontakt mit der Pflegeperson aufnehmen und diese in angemessener Zeit die erforderliche Betreuung und Hilfe leisten kann oder die Pflegeperson von sich aus in angemessenen Zeitabständen Kontakt mit dem Pflegebedürftigen aufnimmt (RIS-Justiz RS0106361). Im Unterschied zu Stufe 6 wird nicht verlangt, dass permanent eine Pflegeperson bei der pflegebedürftigen Person oder in deren unmittelbarer Nähe anwesend ist, weil die Erbringung der notwendigen Pflegeleistungen nicht unverzüglich notwendig, sondern auch in gewissen zeitlichen Abständen möglich ist (10 ObS 42/06h). Es müssen Umstände vorliegen, die einen Betreuungsaufwand bedingen, der jederzeit auftreten kann und daher das unmittelbare, zeitlich nicht planbare Einschreiten einer Pflegeperson erforderlich macht

(RIS-Justiz RS0106361 [T4]; 10 ObS 372/97x = SZ 72/21 = SSV-NF 13/7;

10 ObS 108/02h = SSV-NF 16/61; jüngst 10 ObS 42/06h).

Die Entscheidung 10 ObS 108/02h (ihr folgend 10 ObS 224/03v) spricht aus, dass § 4 Abs 2 Stufe 5 (iVm § 6 EinstV) auf das Fehlen einer Koordinierungsmöglichkeit abstelle, weil andernfalls die „dauernde Bereitschaft" einer Pflegeperson nicht erforderlich sei; das Erfordernis der dauernden Bereitschaft einer Pflegeperson sei dann zu bejahen, wenn die Nachschau in relativ kurzen Zeitabständen erforderlich sei. Nur dann, wenn diese zusätzlichen Pflegemaßnahmen, die über die vorgeplanten pflegerischen Einheiten hinausgingen, gemeinsam mit diesen eine zeitliche Intensität erreichten, dass sich eine Pflegeperson in der Nähe des Pflegebedürftigen aufhalten müsse, um diesem unmittelbar notwendig werdende Pflegemaßnahmen angedeihen lassen zu können, bestehe Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 5. Daraus geht hervor, dass die Möglichkeit der zeitlichen Koordination der Pflegeleistungen einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 5 nicht scheitern lässt, wenn eine Nachschau in relativ kurzen Zeitabständen erforderlich ist (in diesem Sinn 10 ObS 170/04t). So nimmt die Entscheidung 10 ObS 4/01p = SSV-NF 15/39 die Erforderlichkeit dauernder Bereitschaft an, wenn der Pflegebedürftige ca eine Stunde allein gelassen werden kann und die Betreuungsmaßnahmen zeitlich im Voraus koordiniert werden können.

Von der referierten Rechtsprechung ausgehend, ist ein Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld der Stufe 5 zu bejahen, weil sie während des Tages für längstens eine Stunde allein gelassen werden kann, eine Kontaktaufnahme durch die Pflegeperson in relativ kurzen Zeitabständen daher erforderlich ist und diese Pflegemaßnahmen gemeinsam mit dem Umlagern der Klägerin auch in der Nacht, das wegen der Gefahr des Wundliegens aufgrund häufiger Durchfälle bei gegebener Stuhlinkontinenz notwendig ist, unter Bedachtnahme auf die weitgehende Bewegungseinschränkung der Klägerin eine zeitliche Intensität erreichen, dass sich eine Pflegeperson in der Nähe der Klägerin aufhalten muss.

In teilweiser Stattgebung der Revision war daher der Klägerin Pflegegeld der Stufe 5 zuzusprechen, das ab 1. 1. 2005 859,30 EUR monatlich beträgt (§ 5 BPGG idF BGBl I 2004/136).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 ASGG. Für die Revision steht lediglich der einfache Einheitssatz zu.

Stichworte