OGH 3Ob203/04f

OGH3Ob203/04f24.11.2004

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Pimmer, Dr. Zechner, Dr. Sailer und Dr. Jensik als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Kinder Valentina D*****, Silvana D*****, und Zagorka D*****, sämtliche vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien, infolge Revisionsrekurses der drei Kinder, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 2. Juni 2004, GZ 42 R 247/04s, 277/04b und 278/04z-59, womit die Beschlüsse des Bezirksgerichts Döbling vom 4. März 2004, GZ 10 P 118/02x-49, 50 und 51, abgeändert wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Die drei Minderjährigen und ihre Eltern sind jugoslawische Staatsangehörige (Serbien-Montenegro). Der Vater verpflichtete sich in der mit dem Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie geschlossenen Vereinbarung vom 13. Dezember 1999 zu monatlichen Unterhaltsleistungen von 145,35 EUR für Valentina, 116,28 EUR für Silvana und 101,74 EUR für Zagorka. Da der Vater diese Unterhaltsbeiträge nicht leistete, beantragten die drei Kinder die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen. Von der Exekutionsführung nahmen sie auf Grund des geringen Notstandshilfebezugs des Vaters wegen Aussichtslosigkeit Abstand.

Das Erstgericht bewilligte die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gemäß §§ 3 und 4 Z 1 UVG.

Das Rekursgericht wies über Rekurs des Bundes die Anträge der Minderjährigen auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen ab. Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs mangels Rsp des Obersten Gerichtshofs zur Verordnung (EG) Nr 859/2003 zulässig sei. Da die Kinder zwar ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich haben, aber weder österreichische Staatsbürger noch Staatsangehörige eines Mitglieds der EU seien, erfüllten sie die Voraussetzung für die Gewährung von Vorschüssen nach § 2 UVG nicht. Der europäische Rat habe sich zwar bemüht, die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen derjenigen von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten anzunähern, er habe mit der Verordnung (EG) Nr 859/2003 die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr 574/72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen, ausgedehnt. Gemäß Art 1 der genannten Verordnungen setze deren Anwendung aber voraus, dass diese Drittstaatsangehörigen ihren rechtmäßigen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben und ihre Situation mit einem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweise. Dies führe zwar zu der unlogischen Konsequenz, dass einem in Österreich aufhältigen Kind, das trotz Drittstaatsangehörigkeit Anspruch auf Familienbeihilfe habe, nur dann Vorschüsse gewährt werden könnten, wenn der Unterhaltsverpflichtete in einem anderen Mitgliedstaat, aber nicht wie hier in Österreich, arbeite und Notstandshilfe beziehe. Die Voraussetzungen für die Gewährung eines Unterhaltsvorschusses für die drei Minderjährigen liege daher trotz der zitierten Verordnungen der Europäischen Gemeinschaft nicht vor. Überdies gehe aus dem Akt nicht hervor, ob die Mutter in Österreich sozialversichert sei und ob ein dauerhafter Anspruch auf Familienbeihilfe iSd Verordnung (EG) Nr. 859/2003 oder überhaupt ein rechtmäßiger Aufenthalt in Österreich bestehe.

Der Revisionsrekurs der mj. Antragstellerinnen ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zwar zulässig, aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Nach § 2 Abs 1 UVG haben mj Kinder mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich Anspruch auf Unterhaltsvorschuss, wenn sie entweder österr. Staatsbürger oder staatenlos sind. In seiner Entscheidung vom 15. März 2001, Rs C-85/99 - Offermanns (Slg 2001, I-2261, 2285; vgl ecolex 2001, 797) qualifizierte der EuGH Leistungen nach dem österr. Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) als Familienleistung iSd Art 4 Abs 1 lit h der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige und deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (Wanderarbeitnehmerverordnung). Er sprach aus, dass die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnenden Personen, für die diese Verordnung gelte, nach deren Art 3 unter denselben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf eine solche im Recht des Mitgliedstaats vorgesehene Leistung haben (folgend 1 Ob 86/01f = SZ 74/61 u.a.; RIS-Justiz RS0115509, RS0115844). Der EuGH hat in einer weiteren, das UVG betreffenden Entscheidung vom 5. Februar 2002, Rs C-255/99 - Anna Humer (Slg 2002, I-1205) ausgesprochen, dass eine Person, die zumindest einen Elternteil hat, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer ist, als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers iSd Art 2 Abs 1 iVm Art 1 lit f i der Verordnung (VO) Nr 1408/71 in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fällt. Die Art 73 und 74 dieser Verordnung betreffend Familienleistungen sind so auszulegen, dass ein mj. Kind auch dann Anspruch auf eine Familienleistung wie den Unterhaltsvorschuss nach dem UVG hat, wenn es zusammen mit dem obsorgeberechtigten Elternteil in einem anderen als dem die Leistung erbringenden Mitgliedstaat wohnt und dessen anderer, zu Unterhaltszahlungen verpflichteter Elternteil in dem die Leistung erbringenden Mitgliedstaat tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer ist. Der Oberste Gerichtshof folgerte aus dieser Rsp, dass die Verlegung des Wohnsitzes der Mutter mit dem unterhaltsvorschussberechtigten Kind von Österreich in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft an der Berechtigung zum Bezug des Unterhaltsvorschusses nach den Bestimmungen des UVG nichts ändert. In diesem Fall war der als Grundvoraussetzung für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu fordernde Gemeinschaftsbezug durch die gemeinsame Übersiedlung der obsorgeberechtigten Mutter mit ihrer Tochter in einen anderen Mitgliedstaat verwirklicht worden, sodass es nicht schadete, dass der Vater als Österreicher nur in Österreich erwerbstätig war und daher von seinem Recht auf Freizügigkeit nach dem EG-Vertrag niemals Gebrauch gemacht hatte (10 Ob 60/03a mwN).

Eine weitere wesentliche Voraussetzung für die Anwendung der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 ist das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts, das heißt, eine Anwendung der Vorschriften über die Koordination von Leistungen der sozialen Sicherheit kommt nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte in Betracht. Normzweck des Art 42 EGV (früher Art 51) und der auf Grund dieser Bestimmung ergangenen Verordnung (EWG) Nr 1408/71 ist nämlich nur die Koordinierung, nicht die Harmonisierung der verschiedenen sozialrechtlichen Systeme der Mitgliedstaaten für Personen mit grenzüberschreitendem Berufsverlauf. Es soll eben nicht ein einheitliches gemeinschaftsweit gültiges Sozialversicherungssystem geschaffen, sondern durch Koordinierung nationaler Regeln die Freizügigkeit sichergestellt werden (4 Ob 260/02t = ÖA 2003, 69; 7 Ob 295/02m = ÖA 2003, 279; 10 Ob 60/03a). Der danach als Grundvoraussetzung für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu fordernde Gemeinschaftsbezug setzt somit voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Diese Umstände sind in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, dem Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, vormaliger Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnliche Merkmale zu sehen (Eichenhofer in Fuchs, Komm z Europäischen Sozialrecht3 Art 2 VO 1408/71 Rz 6 und 14 mwN). Es entspricht daher der Rsp des EuGH, dass Art 51 (nunmehr Art 42) EGV und die Verordnung (EWG) Nr 1408/71, insbesondere ihr Art 3, nicht für Sachverhalte gelten, die mit keinem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen. Dies ist auch der Fall, wenn die Situation eines Arbeitnehmers lediglich Bezüge zu einem Drittland und einem einzigen Mitgliedstaat aufweist (EuGH, 11. Oktober 2001, Rs C-95/99 ua - Khalil ua, Slg 2001, I-7413 mwN). Es muss daher auch für die Gewährung von Unterhaltsvorschussleistungen als Familienleistung nach Art 4 Abs 1 lit h der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 ein grenzüberschreitender Bezug gegeben sein (vgl Neumayr, Das Unterhaltsvorschussrecht nach den EuGH-Entscheidungen, in ÖA 2002, 53 f; Kirschbaum, Unterhaltssicherung in der EU, in ÖA 2003, 243 ff). Der Oberste Gerichtshof hat daher im Fall einer Minderjährigen mit philippinischer Staatsangehörigkeit, die mit ihrer (obsorgeberechtigten) Mutter ebenso in Österreich lebt wie ihr unehelicher Vater, die Voraussetzung nach § 2 Abs 1 UVG für die Gewährung von Unterhaltsvorschuss im Hinblick auf die philippinische Staatsangehörigkeit (Drittstaat) sowie die mangelnde Wanderarbeitnehmereigenschaft ihres unterhaltspflichtigen Vaters verneint (10 Ob 60/03a).

Die am 1. Juni 2003 in Kraft getretene Verordnung (EG) Nr 859/2003 des Rates vom 15. Mai 2003 zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnungen (EWG) Nr 1408/71 und Nr 574/72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen, ändert an dieser Rechtslage nichts. Art 1 dieser Verordnung normiert ausdrücklich, dass die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr 574/72 nur auf Drittstaatsangehörige Anwendung finden, wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben und ihre Situation mit einem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist (s auch Erwägungsgrund 12, der diesen Grundsatz wiederholt; Keul/Krapf, infas 2004, 3).

Das Argument der Revisionsrekurswerber, das Ergebnis der Anwendung der Bestimmungen der hier maßgeblichen Verordnungen, nämlich, dass der Unterhaltsvorschuss nicht gewährt werden könne, weil sich der Unterhaltspflichtige im selben Mitgliedstaat wie die Minderjährigen aufhalte, was im Gegensatz zur Absicht der Verordnung (EG) Nr 859/2003 stehe, welche eine soziale Diskriminierung beseitigen wolle, versagt angesichts des klaren Wortlauts des Art 1 dieser Verordnung und dem (iS dieses Wortlauts) zum Ausdruck gebrachten Willen des europäischen Verordnungsgebers (Erwägungsgrund 12). Unbefriedigende Gesetzesbestimmungen zu ändern, ist nicht Sache der Rsp, sondern der Gesetzgebung (3 Ob 86/72 = SZ 45/90 = EvBl 1973/299 uva; RIS-Justiz RS0009099, RS0008880).

Dem Revisionsrekurs muss daher ein Erfolg versagt bleiben.

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