OGH 15Os117/04

OGH15Os117/047.10.2004

Der Oberste Gerichtshof hat am 7. Oktober 2004 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Markel als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schmucker und Dr. Zehetner als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Finster als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Gerhard M***** wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 StGB, AZ 072 Hv 34/04b des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien vom 10. August 2004, AZ 17 Bs 205/04 (ON 69 des Hv-Aktes), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Gerhard M***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von 700 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.

Text

Gründe:

Gegen Gerhard M***** wurde beim Landesgericht für Strafsachen Wien Voruntersuchung wegen des Verdachts des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 und Abs 2 StGB geführt. Über Strafantrag der Staatsanwaltschaft vom 24. Februar 2004 wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 StGB wurde er nach Hauptverhandlungen am 21. April und 14. Juni 2004 schuldig erkannt, am 9. Jänner 2004 in Wien Lucia Maria P***** durch die Äußerung: "Ich werde dir einen Schlägertrupp schicken, ich kenne Leute, die freuen sich schon darauf, das sie dich zusammenschlagen", um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen mit einer Verletzung am Körper gefährlich bedroht und hiedurch das Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 StGB begangen zu haben. Er wurde nach dieser Gesetzesstelle zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sieben Monaten verurteilt. Gemäß § 38 Abs 1 Z 1 StGB wurde die Verwahrungs- und Untersuchungshaft vom 5. Februar bis 14. Juni 2004 auf die verhängte Freiheitsstrafe angerechnet. Unter einem wurde gemäß § 53 Abs 3 StGB iVm § 494a Abs 1 Z 2 und Abs 6 StPO vom Widerruf der mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 3. Oktober 2003, AZ 23 Hv 111/03i, gewährten bedingten Strafnachsicht (einer fünfmonatigen Freiheitsstrafe) abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert.

Das Urteil ist zufolge voller Berufung des Beschuldigten, über die noch nicht entschieden wurde, nicht in Rechtskraft erwachsen.

Gerhard M***** befand sich im bezeichneten Strafverfahren seit 8. Februar 2004 - auch zum Zeitpunkt der bekämpften Entscheidung des Oberlandesgerichtes noch - aus den Haftgründen der Tatbegehungs- und Ausführungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit b, c und d StPO in Untersuchungshaft. Am 3. September 2004 wurde er enthaftet.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Oberlandesgericht der gegen den Fortsetzungsbeschluss der Untersuchungsrichterin vom 16. Juli 2004 (ON 52) gerichteten Beschwerde nicht Folge gegeben und die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Tatbegehungs- und Ausführungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit b, c und d StPO angeordnet.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen erhobene Grundrechtsbeschwerde, mit der die Anwendung gelinderer Mittel sowie Unverhältnismäßigkeit der Haft reklamiert werden, erweist sich im Ergebnis als berechtigt.

Soweit die Beschwerde die Aufhebung der Haft unter Anwendung gelinderer Mittel begehrt, weil "der Beschuldigte keinesfalls die Absicht hat, jemals wieder in die Nähe von Frau Lucia P***** zu geraten und die Weisung, sich von seiner ehemaligen Lebensgefährtin fernzuhalten und sich psychologisch betreuen zu lassen in Verbindung mit der Anordnung einer vorläufigen Bewährungshilfe die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft unnötig machen", wiederholt sie lediglich ohne weitere Substanziierung das bisherige Vorbringen gegenüber dem Oberlandesgericht, ohne sich mit dessen ausführlicher Erörterung der erhobenen Einwände und der Argumentation zu deren Ablehnung auseinanderzusetzen. Zutreffend geht der angefochtene Beschluss bei Beurteilung der Haftgründe der Tatbegehungs- bzw Tatausführungsgefahr im Einklang mit den Grundsätzen folgerichtigen Denkens und empirischen Erkenntnissen nicht widersprechend unter Berücksichtigung des der Anklage zugrunde liegenden Beziehungskonfliktes mit der Bedrohten, dem Verhalten des Beschwerdeführers nach 14-tägiger Untersuchungshaft samt nachfolgender Verurteilung wegen einer gleich gelagerten Tat gegen dasselbe Opfer sowie seiner Aggressionsneigung begründet davon aus, dass unter den vorangeführten Gegebenheiten die bezeichneten Haftgründe weiterhin vorlagen. Auch die Behauptung, aus dem Strafakt ergäben sich "keinerlei Hinweise", der Beschuldigte werde im Fall seiner Enthaftung die angedrohte Tat ausführen, lässt die erforderliche deutliche und bestimmte Bezeichnung jener Tatumstände vermissen, welche die aufgestellte Behauptung nach dem Akteninhalt stützen könnten.

Das Beschwerdevorbringen, bei Prüfung der Verhältnismäßigkeit müsse auch die Möglichkeit einer bedingten Entlassung berücksichtigt werden, verkennt, dass die Frage, ob eine bedingte Entlassung zu erwarten wäre, kein Kriterium der Zulässigkeit der Untersuchungshaft betrifft. Nach § 180 Abs 1 letzter Satz StPO ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung anhand der Bedeutung der Sache "oder der zu erwartenden Strafe" vorzunehmen. Unter der demnach maßgeblichen "zu erwartenden Strafe" ist - nach Wortlaut und Sinn der Bestimmung - die nach den Regeln des vierten Abschnittes des Allgemeinen Teiles des StGB zu bemessende Strafe zu verstehen. Nur deren Höhe, die als Messgröße überhaupt Aussagen über das zu erwartende Strafmaß ermöglicht, ist somit Gegenstand des Vergleichs mit der Dauer der Untersuchungshaft. Kein gesetzliches Kriterium der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist hingegen - den Intentionen der Grundrechtsbeschwerde zuwider - die im fünften Abschnitt des Allgemeinen Teiles des StGB geregelte Frage, ob und unter welchen Bedingungen es zum Vollzug der - solcherart bereits ausgesprochenen, also unabhängig davon bereits existenten - Strafe kommt. Ob eine Freiheitsstrafe bedingt nachgesehen wird oder nicht und inwieweit die Voraussetzungen der bedingten Entlassung gegeben wären, kann daher für die Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 180 Abs 1 letzter Satz StPO nicht herangezogen werden (15 Os 34/04; 12 Os 39/04; 12 Os 98/04 mwN).

Dazu kommt, dass Überlegungen zur bedingten Entlassung aus einer Freiheitsstrafe prinzipiell erst im Stadium des Strafvollzuges anzustellen sind (§ 16 Abs 2 Z 12 StVG). Dieser Grundsatz wird allein im Fall der Urteilsfällung durchbrochen, weil das Gesetz dies ausdrücklich so anordnet (§ 265 StPO).

Insofern sich die Beschwerde mit ihrer einleitenden Argumentation zur Verhältnismäßigkeitsprüfung auf die in 14 Os 30/94 vertretene Meinung stützt, übersieht sie, dass diese - bereits vor der eingangs vertretenen Rechtsansicht - schon durch die ständige Judikatur des Obersten Gerichtshofs überholt war, wonach die Möglichkeit einer bedingten Entlassung unter anderem vom (weiteren) Verhalten eines Verurteilten abhängt, welches in aller Regel antizipativ nicht beurteilt werden kann (15 Os 110/00, 12 Os 93/01, 13 Os 81/01, 13 Os 130/01, 13 Os 29/02, 13 Os 176/02, 13 Os 109/02, 15 Os 160/02, 12 Os 98/04).

Die in Form von Bruchteils- und Prozentrechnungen vorgetragene (und in Teilen des Schrifttums vertretene) Argumentation der Beschwerde zur Unverhältnismäßigkeit der Dauer der Untersuchungshaft im vorliegenden Fall verkennt das Wesen des Grundrechts auf persönliche Freiheit.

Artikel 1 Abs 3 PersFrG bestimmt, dass die persönliche Freiheit nur entzogen werden darf, wenn und soweit dies nicht zum notwendigen Zweck der Maßnahme außer Verhältnis steht; § 180 Abs 1 StPO konkretisiert dies für den Fall der Untersuchungshaft durch Abstellen auf die Bedeutung der Sache und die zu erwartende Strafe.

Persönliche Freiheit ist grundsätzlich unteilbar. Sie darf nur ausnahmsweise unter den verfassungsgesetzlich bestimmten Voraussetzungen um das unbedingt notwendige Maß eingeschränkt werden. Schon daraus ergibt sich, dass, wie auch aus der ständigen Rechtsprechung des EGMR erkennbar wird, die Umstände des jeweiligen Einzelfalls genau abgewogen werden müssen. Die (grundrechtlich geforderte) im österreichischen Strafverfahrensrecht durch den Begriff der Verhältnismäßigkeit bestimmte Angemessenheit der Dauer einer Untersuchungshaft entzieht sich einer schematischen Beurteilung.

Zunächst ist es bei einer grundsätzlich erst in der Zukunft durch die Strafbemessung feststehenden absoluten Strafdauer schon begrifflich ausgeschlossen, bereits davor einen Bruchteil dieser Größe als angemessene Dauer einer Untersuchungshaft zu bestimmen. Dies gilt ebenso trotz des vom Gesetz geforderten Verhältnisses zur (erst) zu erwartenden Strafe, weil bei Prüfung der Angemessenheit der Dauer der Untersuchungshaft nicht nur auf diese, sondern (nach Lage des Falls) auch auf das Verhältnis zur Bedeutung der Sache abzustellen ist. Verhältnisgrößen der von der Beschwerde reklamierten Art sind weder aus dem Sinn noch der Systematik des Gesetzes ableitbar. Bruchteile einer Strafe können als Konsequenz einer solchen gesetzlichen Systematik prinzipiell erst dann in Überlegungen einbezogen werden, wenn die dafür erforderliche absolute Messgröße feststeht. Ebenso wie die Höhe der Strafe nach den gesetzlichen Strafdrohungen von fallbezogenen Faktoren bestimmt wird (§§ 32 ff StGB), lassen sich Voraussetzungen für die Angemessenheit der Dauer einer Untersuchungshaft, vor allem weil in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung der Sache relevant ist, nur nach den im Einzelfall vorliegenden Umständen beurteilen (Grabenwarter EMRK § 21 Rz 17). Bruchzahlen sind dafür untauglich.

Die Haft zwischen erstinstanzlichem Schuldspruch und letztinstanzlichem Urteil ist - auch aus Konnvetionsaspekten - jedenfalls Untersuchungs- und nicht Strafhaft, weil das Rechtsmittelverfahren Änderungen in der Schuldgrundlage bringen kann (Reindl Probleme der Untersuchungshaft in der jüngeren Rechtsprechung der Straßburger Organe, in Grabenwarter/Thienel Kontinuität und Wandel der EMRK, S 69). Werden in die Untersuchungshaft Ziele und Zwecke einer auf dem rechtskräftigen Schuldspruch basierenden Strafhaft projiziert, käme es zu vorhersehbaren Friktionen mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 EMRK (Reindl Untersuchungshaft und Menschenrechtskonvention, S 51, 130 f).

Nach der Judikatur zu Art 5 Abs 3 EMRK zur Angemessenheit der Dauer der Untersuchungshaft lässt sich aus dem Anspruch auf Aburteilung innerhalb angemessener Frist oder auf Haftentlassung keine nach Wochen, Monaten oder Jahren zu bemessende absolute Begrenzung (Frowein/Peukert EMRK Kommentar² Rz 122) ableiten. Vielmehr hängt die Beurteilung der Angemessenheit ihrer Dauer jeweils von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab. Der EGMR stellt in erster Linie darauf ab, ob die in den Entscheidungen der nationalen Gerichte genannten Gründe für die Notwendigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft bei Berücksichtigung des im Zeitpunkt dieser Entscheidung feststehenden Sachverhaltes und auch der vom Beschwerdeführer zur Begründung seiner Haftbeschwerde vorgetragenen und erwiesenen Umstände gerechtfertigt erscheinen (aaO Rz 123).

Im Recht erweist sich allerdings die Beschwerdeargumentation, soweit sie Aspekte der Verhältnismäßigkeit (§ 180 Abs 1 StPO; Art 1 Abs 3 PersFrG) der Untersuchungshaft unter den Konstellationen des vorliegenden Falles heranzieht, als davon der Grundsatz, dass die Untersuchungshaft ein angemessenes Maß in Bezug auf die Bedeutung der Sache nicht übersteigen darf, betroffen ist. Nach der dafür anzustellenden Überprüfung sind (neben dem hier unbestrittenen und in einem Gerichtsurteil erster Instanz auch gegründeten Tatverdacht und dem Bestehen von Haftgründen) dabei vor allem jene Umstände von Bedeutung, welche für oder gegen das Vorliegen eines echten Erfordernisses des öffentlichen Interesses an der Aufrechterhaltung der Haft sprechen und die es rechtfertigen, von der Grundregel der Achtung der persönlichen Freiheit abzuweichen. Dabei ist auf den Grundsatz der Unschuldsvermutung gebührend Bedacht zu nehmen. Nach Ablauf einer gewissen Zeit reicht die Fortdauer des begründeten Tatverdachts für die Rechtsgültigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft jedoch nicht mehr aus. Es müssen wesentliche und ausreichende Gründe vorliegen, welche die Freiheitsentziehung weiterhin rechtfertigen (vgl EGMR 26. 6. 1991, ÖJZ-MRK 1991/18; 12. 12. 1991, ÖJZ-MRK 1992/9a; siehe auch Grabenwarter aaO § 21 Rz 16).

Unter diesem Blickwinkel sind die vom Oberlandesgericht für eine Fortsetzung der Untersuchungshaft gegebenen Gründe, nämlich das Vorliegen eines schwerwiegende Aggressionspotenzials gepaart mit einer Neigung zur Gewalt, insbesondere daraufhin zu prüfen, ob die sie stützenden Umstände einem echten Erfordernis öffentlichen Interesses daran entsprechen, unter gebührender Wahrung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung von der Regel der Achtung der persönlichen Freiheit abzuweichen.

Bedenkt man, dass der Angeklagte wegen eines Delikts, das (in abstracto der Bedeutung der Sache entsprechend) mit bis zu einer höchstens einjährigen Freiheitsstrafe bedroht ist, in erster Instanz zu sieben Monaten Freiheitsstrafe verurteilt wurde, dann erweist sich die im Zeitpunkt der Entscheidung des Oberlandesgerichtes bereits über sechs Monate dauernde Untersuchungshaft unter Abwägung obiger Komponenten allerdings in concreto als nicht mehr angemessen zur Bedeutung der Sache und daher im Ergebnis als nicht verhältnismäßig. Trotz Andauerns der (schon bisher vorliegenden) Haftgründe können diese nach Lage des Falles (im Hinblick auf ihre Intensität im Vergleich zur Bedeutung der Sache) nicht als jene wesentlichen und ausreichenden Gründe angesehen werden, welche bei gebührender Beachtung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung die Freiheitsentziehung weiterhin rechtfertigen konnten.

In der rechtsirrigen Beurteilung der für die Fortsetzung der Untersuchungshaft essentiellen Voraussetzung der Angemessenheit ihrer Dauer liegt die Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit des Beschwerdeführers. Dies war, entgegen der Ansicht des Generalprokurators, festzustellen und der angefochtene Beschluss zu kassieren.

Wegen zwischenzeitiger Enthaftung kann eine Verfügung nach § 7 Abs 2 GRBG entfallen. Die Kostenersatzpflicht des Bundes ist im § 8 GRBG begründet.

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