Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Die am 23. 6. 1992 geborene Klägerin bezieht aufgrund des Bescheides vom 28. 5. 1998 von der beklagten Partei (Land Wien) Pflegegeld in Höhe der Stufe 5 nach § 4 Abs 2 WPGG. Sie bezieht die erhöhte Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder. Am 17. 5. 2001 stellte sie den Antrag auf Erhöhung des Pflegegeldes.
Die Klägerin leidet an einem perinatalen hypoxischen Cerebralschaden. Dadurch bedingt bestehen eine psychisch schwere psychomotorische Retardation, eine intellektuelle Mangelbegabung, eine Verhaltensstörung sowie eine Sprachentwicklungsstörung. Neurologisch besteht eine spastische Cerebralparese (Tetrasymptomatik) mit choreoathetischer Bewegungsstörung, selten auftretenden epileptischen Anfällen und einer erheblichen Dysarthrie. Weiters besteht ein Zustand nach Korrekturoperationen an den Beinen.
Die Klägerin bewohnt gemeinsam mit der sie pflegenden Mutter eine behindertengerecht adaptierte Wohnung, die mit Zentralheizung und Bad mit Badhilfe ausgestattet ist. Sie trägt orthopädisches Schuhwerk mit Schienen. Ein Rollstuhl mit Bruststütze und ein WC sind vorhanden.
Bei der Klägerin besteht dauernde Inkontinenz für Harn und für Stuhl; die Ausscheidung und die Reinigung können allein nicht vorgenommen werden. Ebenso wenig ist die Klägerin imstande, die Körperreinigung, das An- und Auskleiden sowie die Einnahme von Mahlzeiten und Medikamenten durchzuführen. Es ist eine Mobilitätshilfe auch im engeren Sinn erforderlich. Hilfe wird ebenfalls für den Transfer benötigt. Wegen der erheblichen Störung im Verhalten und auch im Bewegungsbereich muss sich stets eine Pflegeperson im Wohnungsbereich aufhalten. Die dauernde Anwesenheit direkt bei der Klägerin ist nicht erforderlich.
Eine selbständige Bewegung der oberen Extremitäten ist nur in sehr eingeschränktem Umfang möglich, da dies von der emotionalen Situation der Klägerin abhängig ist. Während eines Aufregungszustandes ist sie überhaupt nicht imstande, gezielte Bewegungen zu machen. Diese Zustände treten zumindest zwei- bis dreimal täglich bis zu 30 Minuten auf. In ruhigen Phasen ist sie imstande, mit den Händen den Bereich des Gesichtes und der Brust zu erreichen. Sie ist aber niemals imstande, Gegenstände zu fassen, ein Glas zu halten oder regelmäßig eine Rufeinrichtung zu bedienen.
Im Übrigen benötigt die Klägerin Hilfe für die Reinigung der Wohnung und der Gebrauchsgegenstände, die Pflege der Leib- und Bettwäsche, das Herbeischaffen von Lebensmitteln und Bedarfsgütern des täglichen Lebens sowie von Medikamenten. Die Zubereitung von Mahlzeiten ist ausgeschlossen.
Mit einer wesentlichen Besserung des Zustands ist nicht zu rechnen.
Mit Bescheid vom 24. 7. 2002 hat die beklagte Partei den Antrag auf Erhöhung des Pflegegelds abgewiesen.
Das Erstgericht hat dem auf Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 7 gerichteten Klagebegehren ab 1. 6. 2001 stattgegeben. In seiner rechtlichen Beurteilung führte es aus, dass bei der Klägerin die aktive Durchführung willentlich geplanter (zweckdienlicher) Bewegungen nicht möglich sei, sodass praktische Bewegungsunfähigkeit vorliege. Der Umstand, dass sie höchstens fallweise eine Rufeinrichtung bedienen könne, verwirkliche nicht die Fähigkeit, zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung durchführen zu können.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei teilweise Folge und sprach der Klägerin ab 1. 6. 2001 Pflegegeld der Stufe 6 unter Anrechnung des halben Erhöhungsbetrages der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder von 60 EUR zu; das Mehrbegehren wurde abgewiesen.
Nach ständiger Rechtsprechung sei Anspruchsvoraussetzung für Pflegegeld der Stufe 7 ein Zustand, der in den funktionellen Auswirkungen einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit gleichkomme, wobei es auf zielgerichtete Bewegungen der vier Extremitäten ankomme. Eine "praktische Bewegungsunfähigkeit" oder ein dieser gleichzuachtender Zustand liege nur dann vor, wenn einer hievon betroffenen Person keinerlei willentliche Steuerung von Bewegungen mehr möglich sei, die zu einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen und eingesetzt werden können und mit denen dieser Zweck auch erreicht werden könne. Die Rechtsprechung habe Pflegegeld der Stufe 7 etwa in den Fällen verneint, in denen jemand noch in der Lage sei, zB mit einer Hand Essen oder eine Trinkflüssigkeit (und sei es auch nur unter Zuhilfenahme des Hilfsmittels einer Schnabeltasse) zum Mund zu führen, ein Buch etc zum Lesen umzublättern, eine Rufglocke oder ein Mobiltelefon (Handy) zu ergreifen und (sei es auch bloß etwa mittels Kurzwahltaste) einen Rufkontakt herzustellen, eine Fernbedienung zu benützen oder einen elektrischen Rollstuhl derart zu steuern, dass er auf willentliche Einflüsse zu reagieren vermöge. Hingegen sei der Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 bejaht worden, wenn dem Betroffenen nur sogenannte "Massebewegungen" möglich seien, also primitive frühkindliche Reflexe, die nicht zielgerichtet seien und nur zufällig ihr Ziel erreichten.
Nach den Ausführungen des im erstinstanzlichen Verfahren beigezogenen Sachverständigen könne die Klägerin eine Rufeinrichtung höchstens fallweise bedienen, sie könne sich jedoch stimmlich bemerkbar machen. Sie könne sich mit der Hand kratzen, dies allerdings abhängig von ihrer emotionalen Situation. Während emotionaler Aufregung sei die Klägerin nicht zu gezielten Bewegungen imstande. In einer Häufigkeit von zwei bis dreimal am Tag bis zu 30 Minuten liege eine derartige emotionale Aufregung vor, die dann gezielte Bewegungen nicht zulasse. Hinzu kämen pro Woche zweimal drei Stunden Schreianfälle, während derer sich die Klägerin überhaupt nicht beruhigen lasse. Der Sachverständige habe jedoch ausgeführt, dass die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson nicht erforderlich sei. Aus dem Akt der beklagten Partei ergebe sich, dass die Klägerin täglich eine Schule für Schwerstbehinderte besuche und in der Lage sei, mit der linken Faust eine spezielle Tastatur des Computers zu bedienen. Daraus ergebe sich, dass zielgerichtete Bewegungen von der Klägerin durchgeführt werden könnten. Dies stehe auch mit dem Gutachten des Sachverständigen im Einklang, der einen Zustand der Unfähigkeit zielgerichteter Bewegungen aller vier Gliedmaßen verneine. Damit lägen die Voraussetzungen für Pflegegeld der Stufe 7 bei der Klägerin nicht vor; sie habe nur Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 6, zumal die emotionalen Anfälle der Klägerin offensichtlich nicht vorhersehbar seien und erkennbar für deren Dauer die Anwesenheit einer Pflegeperson erfordern, weil die Klägerin während der emotionalen Beeinträchtigung nicht in der Lage sei, eine zielgerichtete Bewegung durchzuführen. Damit lägen zeitlich unkoordinierbare Pflegemaßnahmen vor, die wegen ihrer Regelmäßigkeit und Häufigkeit Pflegegeld der Stufe 6 rechtfertigen.
Die ordentliche Revision sei zulässig, weil zur Frage des Pflegegeldes eines Pflegebedürftigen für vorübergehende, jedoch regelmäßig wiederkehrende Zustände, während derer keine willentliche Steuerung von Bewegungen möglich sei, eine Rechtsprechung fehle.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung des angefochtenen Urteils dahin, dass der Klägerin ab 1. 6. 2001 Pflegegeld der Stufe 7 unter Anrechnung des halben Erhöhungsbetrages der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder zuerkannt werde.
Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig und im Sinn der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.
Die Klägerin macht geltend, dass sie nicht zur Verrichtung zielgerichteter Bewegungen und sinnvoller Tätigkeiten fähig sei. Ihre Fähigkeiten seien minimal und für ihr Leben unbedeutend; in wesentlichen Teilen des Tages seien sie gänzlich außer Kraft gesetzt. Insgesamt sei von einer Unfähigkeit der Verwendung auch nur einer der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung auszugehen.
Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 besteht nach § 4 Abs 2 WPGG für Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn 1. keine zielgerichteten Bewegungen der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung möglich sind oder 2. ein gleichzuachtender Zustand vorliegt. Bis 31. 12. 1998 wurden in § 4 Abs 2 Stufe 7 WPGG die Worte "wenn praktische Bewegungsunfähigkeit oder ein gleichzuachtender Zustand vorliegt" verwendet. Die Änderung des WPGG (LGBl 1999/44) erfolgte parallel zur entsprechenden Novellierung des § 4 Abs 2 BPGG (BPGG-Nov 1998, BGBl I 1998/111). Die Änderung der Rechtslage führte jedoch zu keinen neuen Ergebnissen, weil die nunmehrige gesetzliche Definition in Anlehnung an die Judikatur des OGH erfolgte (RV 1168 BlgNR 20. GP 11; SSV-NF 13/19, SSV-NF 15/50): Anstelle des Kriteriums "praktische Bewegungsunfähigkeit" wurden die dem nach der höchstgerichtlichen Judikatur entsprechenden Begriffe "zielgerichtete Bewegungen" und "funktionelle Umsetzung" in das Gesetz aufgenommen.
Nach den Gesetzesmaterialien des BPGG, dessen Änderung zur entsprechenden Novellierung des WPGG führte, ist in den Fällen der Ziffer 1 ("zielgerichtete Bewegungen") eine funktionelle Umsetzung, das heißt aktive Durchführung willentlich geplanter Bewegungen keiner der vier Extremitäten möglich. Kann der Pflegebedürftige beispielsweise durch den Einsatz von hochtechnischen Geräten mit dem Mund oder den Augen eine willentlich geplante Aktion durchführen - zB langsamst am PC Worte schreiben -, ist er trotzdem in die Stufe 7 einzuordnen, da für nahezu alle Alltagsverrichtungen und Tätigkeiten die Hilfe einer anderen Person notwendig ist. Bei diesen Personen ist etwa auch die Hilfestellung beim Trinken in Form vom Führen des Glases und die richtige Lagerung dazu erforderlich. Dieser Pflegeeinsatz muss rund um die Uhr geleistet werden und erfordert auch ein hohes Maß an praktischem Wissen der Pflegeperson (RV 1168 BlgNR 20. GP 11). Ein "gleichzuachtender Zustand" liegt nach den Gesetzesmaterialien etwa dann vor, wenn der pflegebedürftige Mensch an sich noch über eine gewisse Mobilität verfügt, diese aber insbesondere aufgrund des Angewiesen-Seins auf bestimmte lebenserhaltende technische Geräte nicht nützen kann und dadurch für alle Alltagsverrichtungen auf die Hilfe einer Pflegeperson angewiesen ist (RV aaO 11).
Nach der Rechtsprechung setzt die Annahme praktischer Bewegungsunfähigkeit entsprechend Z 1 ("keine zielgerichteten Bewegungen der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung möglich") voraus, dass der betroffenen Person keinerlei willentliche Steuerung von Bewegungen mehr möglich ist, die zu einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen und mit denen dieser Zweck auch erreicht werden kann (SSV-NF 13/19). Ob die zielgerichteten Bewegungen noch zur Vornahme der im Pflegegeldrecht maßgebenden Betreuungs- und Hilfsverrichtungen eingesetzt werden können ist nicht entscheidend (SSV-NF 12/90; 10 ObS 415/02f = RIS-Justiz RS0106363 [T17]). Auf der anderen Seite erfordert der Begriff der praktischen Bewegungsunfähigkeit keine vollständige Bewegungsunfähigkeit (10 ObS 2466/96m; 10 ObS 385/97h = SSV-NF 11/152).
Das Erstgericht hat festgestellt, dass die Klägerin in den "ruhigen" Phasen imstande ist, mit den Händen den Bereich des Gesichtes und der Brust zu erreichen; sie sei aber niemals imstande, Gegenstände zu fassen, ein Glas zu halten oder regelmäßig eine Rufeinrichtung zu bedienen. Andererseits wird in der rechtlichen Beurteilung ausgeführt, dass die Klägerin in der Lage sei, fallweise eine Rufeinrichtung zu bedienen.
Gerade die Möglichkeit, mit einer oberen Extremität eine Rufeinrichtung zu bedienen, hat der Oberste Gerichtshof in mehreren Entscheidungen als eine den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 hindernde Eigenschaft angesehen (vgl SSV-NF 11/152; RIS-Justiz RS0106363 [T5]). Aus dem Zusammenhang zwischen Feststellungen und rechtlicher Beurteilung des Erstgerichts geht aber nicht klar hervor, ob und inwieweit die Klägerin außerhalb der Phasen eines Aufregungszustandes in der Lage ist, zB eine Rufeinrichtung zu bedienen. Die dazu allenfalls gegebene Fähigkeit wird von den vom Berufungsgericht zusätzlich getroffenen Feststellungen unterstützt, dass die Klägerin in der Lage ist, mit der linken Faust eine spezielle Tastatur des Computers zu bedienen.
Dass der Klägerin zielgerichtete zweckdienliche Bewegungen während des Andauerns der Aufregungszustände nicht möglich sind, vermag für sich allein einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 nicht zu begründen, da § 4 Abs 2 Stufe 7 WPGG offensichtlich von einem Dauerzustand ausgeht und die beschriebenen Zustände nach den erstgerichtlichen Feststellungen (zumindest) zwei- bis dreimal täglich bis zu 30 Minuten auftreten, sodass nicht durchgehend ein Zustand praktischer Bewegungsunfähigkeit besteht.
Es erweist sich daher als notwendig, ergänzende Feststellungen zur Frage des Ausmaßes der Fähigkeit der Klägerin zur Ausführung zielgerichteter zweckdienlicher Bewegungen außerhalb der "Aufregungszustände" zu treffen. Allerdings müssen die den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 hindernden Bewegungen von einer Qualität sein, dass sie zu einer funktionellen Umsetzung führen. So würde das (zwar willentliche) Bedienen einer Tastatur allein zum Zweck der Übung keine darüber hinausgehende Funktionalität bewirken, die zB die Lebensführung der Klägerin oder die ihrer Betreuungspersonen erleichtert. Dies zeigt auch der Vergleich mit der Entscheidung 10 ObS 2468/96f (SSV-NF 11/9), in der es darum ging, dass der Betroffene in der Lage war, einen elektrischen Rollstuhl zu bedienen und sich auf diese Weise in der Wohnung zu bewegen. Entscheidend für das Fehlen praktischer Bewegungsunfähigkeit war hier die Möglichkeit der funktionellen Umsetzung des Gebrauchs der Hände in die Richtung, dass damit die Beweglichkeit mit einem Rollstuhl erreicht werden konnte.
Abschließend ist zu bemerken, dass auf das Pflegegeld der halbe Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder anzurechnen ist (§ 6 WPGG).
Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 Abs 1 ZPO.
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