OGH 12Os126/03 (12Os127/03, 12Os128/03, 12Os129/03)

OGH12Os126/03 (12Os127/03, 12Os128/03, 12Os129/03)15.1.2004

Der Oberste Gerichtshof hat am 15. Jänner 2004 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schindler als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Holzweber, Dr. Philipp, Dr. Danek und Dr. Schwab als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Kainz als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Rudolf T***** wegen des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 und Abs 2 erster Fall StGB, AZ 1 b E Vr 714/89 des Jugendgerichtshofes Wien, über die vom Generalprokurator gegen den Beschluss dieses Gerichtes vom 19. Oktober 1989, GZ 1 b E Vr 714/89-16, sowie einen Vorgang und weitere Beschlüsse dieses Gerichtshofes erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Plöchl, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Das Gesetz wurde verletzt

I./ im Verfahren des Jugendgerichtshofes Wien, AZ 1 b E Vr 714/89, 1./ durch den gemeinsam mit dem Abwesenheitsurteil gefassten Beschluss vom 19. Oktober 1989 (ON 16), mit welchem die Rudolf T***** jeweils vom Jugendgerichtshof Wien mit Beschluss vom 19. Dezember 1988, GZ 23 BE 2148/88-6, gewährte bedingte Entlassung sowie die mit Urteilen vom 7. Jänner 1988, GZ 1 b E Vr 1227/87-9 und vom 3. November 1988, GZ 1 b E Vr 771/88-12, ausgesprochenen bedingten Strafnachsichten widerrufen wurden, in der Bestimmung des § 494a Abs 3 erster und zweiter Satz StPO;

2./ in der Bestimmung des § 494a Abs 8 StPO idF BGBl 1989/242 (nunmehr Abs 7) durch den Vorgang, dass der Einzelrichter des Jugendgerichtshofes Wien von dem in I./1./ bezeichneten Widerrufsbeschluss nicht unverzüglich die Abteilungen 23 BE und 1 b desselben Gerichtes verständigte;

II./ durch die Beschlüsse des Jugendgerichtshofes Wien vom 12. Februar 1992, GZ 23 BE 2148/88-12, und jeweils vom 17. Juli 1998, GZ 1 b E Vr 1227/87-32 sowie GZ 1 b E Vr 771/88-24, in den Bestimmungen der §§ 43 Abs 2, 48 Abs 3 erster SatzStGB.

Die zu I./1./ und II./ bezeichneten Beschlüsse und die darauf beruhenden Verfügungen werden aufgehoben.

Die den zu II./ genannten Beschlüssen zu Grunde liegenden Anträge der Staatsanwaltschaft werden zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Mit dem - infolge Unzustellbarkeit an den Angeklagten nicht rechtskräftigen - Abwesenheitsurteil (§ 427 Abs 1 StPO) des Jugendgerichtshofes Wien vom 19. Oktober 1989, GZ 1 b E Vr 714/89-17, wurde über Rudolf T***** wegen des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 und Abs 2 (erster Fall) StGB eine Freiheitsstrafe verhängt. Gleichzeitig widerrief der Einzelrichter - entgegen § 494a Abs 4 zweiter Satz StPO mit getrennt ausgefertigten Beschlüssen - gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO über Antrag des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft (S 61) die vom Jugendgerichtshof Wien mit Beschluss vom 19. Dezember 1988, GZ 23 BE 2148/88-6, mit Wirkung vom 6. Jänner 1989 gewährte bedingte Entlassung aus einem Freiheitsstrafenrest von einem Monat und zwanzig Tagen sowie die mit Urteilen desselben Gerichtes vom 7. Jänner 1988, GZ 1 b E Vr 1227/87-9 und 3. November 1988, GZ 1 b E Vr 771/88-12 ausgesprochene bedingte Nachsicht von Freiheitsstrafen in der Dauer von vier bzw sechs Monaten (ON 19, 20, 21).

Die in § 494a Abs 8 StPO idF BGBl 1989/242 (nunmehr Abs 7) angeordnete unverzügliche (und daher gegebenenfalls vor Rechtskraft erforderliche) Verständigung der Abteilungen 23 BE und 1 b des Jugendgerichtshofes Wien von den bezeichneten Widerrufsentscheidungen unterblieb.

In deren Unkenntnis sah der Jugendgerichtshof Wien jeweils über Antrag der Staatsanwaltschaft mit Beschlüssen vom 12. Februar 1992, GZ 23 BE 2148/88-12, sowie vom 17. Juli 1998, GZ 1 b E Vr 1227/87-32, und GZ 1 b E Vr 771/88-24, die bereits erwähnte(n) bedingte(n) Entlassung und Strafnachsichten endgültig nach. In den beiden letztgenannten Verfahren ergingen diese Strafnachsichten trotz der aktenkundigen Tatsache, dass gegen Rudolf T***** vor Ablauf der Probezeiten neben dem eingangs erwähnten Strafverfahren zu AZ 25a Vr 7544/89 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien und AZ 12 b Vr 65/90 des Jugendgerichtshofes Wien weitere Strafverfahren anhängig waren (ON 21 in AZ 1 b E Vr 1227/87; S 90 und ON 19 und AZ 1 b E Vr 771/88).

Rechtliche Beurteilung

Diese Beschlüsse des Jugendgerichtshofes Wien und der erwähnte Vorgang stehen - wie der Generalprokurator in seiner deshalb zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt - mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Gemäß § 494a Abs 3 erster Satz StPO hat das Gericht vor der Entscheidung über den Widerruf einer bedingten Strafnachsicht ua den Angeklagten zu hören. Infolge Durchführung der Hauptverhandlung und Fällung des Urteils am 19. Oktober 1989 in Abwesenheit des (nach der Aktenlage niemals zu einem allfälligen Widerruf befragten oder zu einer diesbezüglichen Äußerung aufgeforderten) Rudolf T***** ist dessen Anhörung unterblieben. Davon kann nach § 494a Abs 3 zweiter Satz StPO bei Fällung eines Abwesenheitsurteils nur dann abgesehen werden, wenn ein Ausspruch nach § 494a Abs 1 Z 1 oder 2 StPO erfolgt, also wenn bei Ausbleiben des Angeklagten von einem Widerruf aus Anlass der neuen Verurteilung Abstand genommen wird. Ist aber das Gericht - wie im vorliegenden Fall - zur Anhörung nicht in der Lage und fällt es ein Abwesenheitsurteil, dann kommt die Kompetenz nach § 494a Abs 1 Z 3 oder 4 StPO - entgegen vereinzelt gebliebenen Entscheidungen, zuletzt RZ 1999/14 - dem sonst nach § 495 Abs 1 StPO zuständigen Gericht zu (Jerabek, WK-StPO § 494a Rz 10; SSt 60/17; EvBl 1999/153 ua). Diese Gesetzesverletzung kann dem Angeklagten bei Rechtskraft des Abwesenheitsurteils zum Nachteil gereichen. Im Verfahren AZ 1 b E Vr 714/89 des Jugendgerichtshofes Wien hat es der Einzelrichter zudem unter Missachtung der Vorschrift des § 494a Abs 8 StPO idF BGBl 1989/242 (nunmehr Abs 7) unterlassen, die Abteilungen 23 BE und 1 b desselben Gerichtes von den erwähnten Widerrufsentscheidungen unverzüglich und somit ohne Rücksicht auf deren Rechtskraft (EvBl 1989/64 = JBl 1989, 400 uva) zu verständigen. Begriffliche Voraussetzung für die endgültige Entlassung/Strafnachsicht ist das Unterbleiben ihres Widerrufs (§§ 48 Abs 3 erster Satz, 43 Abs 2 StGB). Diese Bedingung war in den Verfahren 23 BE 2148/88, 1 b E Vr 1227/87 und 1 b E Vr 771/88 des Jugendgerichtshofes Wien nicht erfüllt, weil zuvor bereits auf Widerruf erkannt worden war. Der im Verfahren 1 b E Vr 714/89 des Jugendgerichtshofes Wien erfolgte Widerrufsbeschluss vom 19. Oktober 1989 entfaltete nämlich mit seiner Verkündung Bindungswirkung, derzufolge ohne seine vorangegangene Aufhebung kein Gericht berechtigt war, über den Entscheidungsgegenstand neuerlich abzusprechen. Mit den obgenannten Beschlüssen auf endgültige Entlassung/Strafnachsicht wurde daher eine Entscheidungskompetenz rechtswidrig in Anspruch genommen.

Diese Feststellungsentscheidungen konnten weder den schon vorher beschlossenen Widerruf der bedingten Entlassung/Strafnachsichten beseitigen noch sonst eine Rechtsfolge hervorrufen; der konstitutive Gehalt des ab seiner Verkündung wirksamen Widerrufsbeschlusses blieb vielmehr hiedurch unberührt (Jerabek in WK2 § 53 Rz 28; EvBl 1989/64 = JBl 1989, 400; 14 Os 7/97; 12 Os 91/99; 11 Os 119/01 uva). Die verfehlten Beschlüsse auf endgültige Entlassung/Strafnachsichten waren zur Klarstellung zu beseitigen (Ratz, WK-StPO § 292 Rz 46; 12 Os 91/99 ua) und die ihnen zu Grunde liegenden Anträge der Staatsanwaltschaft - im Gegensatz zum prozessordnungsgemäß zu I./1./ gestellten Antrag - zurückzuweisen (14 Os 7/97; 11 Os 44/99). In Ansehung der in den Verfahren 1 b E Vr 1227/87 und 1 b E Vr 771/88 des Jugendgerichtshofes Wien gefassten Beschlüsse vom 17. Juli 1998 auf endgültige Strafnachsicht ist ergänzend zu bemerken, dass gegen Rudolf T***** bei Ablauf der in den genannten Verfahren gesetzten Probezeiten Strafverfahren zu AZ 25 a Vr 7544/89 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien sowie zu AZ 1 b E Vr 714/89 und 12 b Vr 65/90 (welches am 6. August 1990 als ON 9 in AZ 25 a Vr 7544/89 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien einbezogen wurde) des Jugendgerichtshofes Wien wegen (teilweise auch) in den offenen Probezeiten begangenen Betrugstaten und Unterhaltsverletzungen anhängig waren, wodurch die Möglichkeit eines Widerrufs auch noch innerhalb von sechs Monaten nach Beendigung dieser Verfahren eröffnet wurde (§ 56 letzter Fall StGB). Ein Zuwarten mit dem Ausspruch der endgültigen Nachsicht wäre unter diesem Gesichtspunkt geboten gewesen (Jerabek, WK-StPO § 497 Rz 3).

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