OGH 2Ob252/03b

OGH2Ob252/03b30.10.2003

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko, Dr. Tittel, Dr. Baumann und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Mag. Renate S*****, vertreten durch Dr. Wilfried Raffaseder und Mag. Michael Raffaseder, Rechtsanwälte in Freistadt, gegen die beklagte Partei O***** AG, *****, vertreten durch Dr. Wolfgang Dartmann und Dr. Haymo Modelhart, Rechtsanwälte in Linz, wegen EUR 12.601,25 sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht vom 9. Juli 2003, GZ 4 R 118/03f-14, womit das Urteil des Landesgerichtes Linz vom 26. März 2003, GZ 30 Cg 129/02b-8, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 749,70 (darin EUR 124,95 USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin wurde am 25. 5. 2001 als Mitfahrerin auf dem bei der Beklagten haftpflichtversicherten und von ihrem Ehemann gelenkten Motorrad bei einem Verkehrsunfall mit einem auf die Fahrbahn laufenden Wildschwein schwer verletzt.

Zwischen dem Motorrad und dem von rechts die Straße querenden Wildschwein kam es zu einer "frontüberdeckten" Kollision. Der Lenker konnte vor der Kollision keine Bremsung mehr einleiten, sondern sein Motorrad nur mehr in eine Tendenz nach links (weg von der Gefahr) bringen. Dadurch verlenkte er sein Motorrad gegenüber der ursprünglichen, etwa in der Mitte des rechten Fahrstreifens gelegenen Fahrlinie bis zur Kollision um etwa 50 cm nach links. Der Lenker hat auf das quer in die Fahrbahn laufende Wildschwein nicht verspätet reagiert. Allein die Kollision mit dem Wildschwein führte zum unverzüglichen Sturz des Motorrades, welches über etwa 55 m in die Endlage schlitterte. Es gab weder vor noch nach der Kollision Schleuderbewegungen. Es hat die Kollision selbst unmittelbar den nicht kontrollierbaren Sturzvorgang eingeleitet.

Die Klägerin begehrte Schadenersatz in Höhe von insgesamt EUR 12.601,25 sA und behauptete Verschulden des Lenkers sowie Vorliegen einer außergewöhnlichen Betriebsgefahr. Die Beklagte bestritt dies.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es verneinte ein Verschulden des Motorradlenkers, bejahte aber das Vorliegen einer durch das Verhalten des Tieres ausgelösten außergewöhnlichen Betriebsgefahr.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge und führte im Wesentlichen folgendes aus:

Eine Ersatzpflicht sei nach § 9 Abs 1 EKHG ausgeschlossen, sofern der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht worden sei, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit noch auf einem Versagen der Verrichtungen des Kraftfahrzeuges beruhte. Nach § 9 Abs 2 EKHG gelte ein Ereignis insbesondere dann als unabwendbar, wenn es auf das Verhalten eines Tieres zurückzuführen sei und der Halter des Fahrzeuges jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet habe. Selbst in einem solchen Fall greife jedoch die Haftpflicht ein, wenn der Unfall unmittelbar auf die durch das Verhalten eines Tieres ausgelöste außergewöhnliche Betriebsgefahr zurückzuführen sei.

Wenn - wie im konkreten Fall - jemand Dritter geschädigt worden sei, hafte also der Halter bzw dessen Haftpflichtversicherer, wenn das Tier eine außergewöhnliche Betriebsgefahr ausgelöst habe. Dabei komme es jedoch nicht darauf an, ob das Verhalten des Tieres eine unfallskausale Handlung des Lenkers (wie zB Notbremsung, Verreißen des KFZ) bewirkt habe oder nicht. Diese Erweiterung der Haftung gründe sich nämlich darauf, dass die durch die Eigentümlichkeiten des gefährlichen Betriebes ermöglichte außergewöhnliche Gefahr ein so starkes Zurechnungsmoment bilde, dass die für den Halter unabwendbare Verursachung durch ein Tier gegenüber dem (unbeteiligten) Geschädigten nicht mehr als Befreiungsgrund ausreiche.

Außergewöhnlichkeit liege daher vor, wenn eine durch die Eigentümlichkeiten des gefährlichen Betriebes und zusätzliche Umstände (wie das Verhalten eines Tieres) verursachte besondere Gefahrensituation geschaffen werde. Die Gefahren, die regelmäßig und notwendig mit dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges verbunden seien, würden dadurch vergrößert, dass zur gewöhnlichen Betriebsgefahr besondere Gefahrenmomente hinzuträten, dh solche, welche nach dem normalen Verlauf der Dinge nicht schon dadurch gegeben seien, dass ein Fahrzeug überhaupt in Betrieb sei.

Im konkreten Fall habe gerade die "frontüberdeckte" Kollision zwischen dem Vorderrad des Motorrades und dem Wildschwein zum Sturz geführt. Entgegen der von der Rechtsmittelwerberin vertretenen Ansicht, das Tier habe lediglich den Unfall ausgelöst, nicht jedoch die außergewöhnliche Betriebsgefahr, könne die Auslösung des Unfalles nicht getrennt vom Hervorrufen einer außergewöhnlichen Betriebsgefahr betrachtet werden. Die Kollision mit dem Wildschwein stelle nämlich zugleich eine außergewöhnliche Betriebsgefahr dar, weil dadurch eine besondere Gefahrensituation für den Motorradfahrer und seine Sozia geschaffen worden sei, welche in der Folge zum Sturz geführt habe.

Für die Beurteilung des Vorliegens einer durch das Verhalten eines Tieres ausgelösten außergewöhnlichen Betriebsgefahr sei nicht entscheidend, dass zwischen diesem Verhalten und der dadurch ausgelösten außergewöhnlichen Gefahrensituation eine Handlung des Lenkers liege. Das Erstgericht habe die Haftung der Beklagten daher zu Recht bejaht.

Auf Antrag der Beklagten sprach das Berufungsgericht gemäß § 508 Abs 3 ZPO aus, dass die ordentliche Revision - wegen fehlender Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes - doch zulässig sei.

Die Beklagte macht in ihrer Revision unrichtige rechtliche Beurteilung geltend. Sie beantragt, das angefochtene Urteil im klagsabweisenden Sinne abzuändern.

Die Klägerin beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil die Rechtslage einer Klarstellung bedarf, sie ist aber nicht berechtigt.

Die Rechtsmittelwerberin führt im Wesentlichen aus, der Unfall sei auf das Verhalten eines Tieres zurückzuführen, weshalb sie gemäß § 9 EKHG haftungsfrei sei. Der Unfall habe sich darin erschöpft, dass der Motorradlenker gegen das Wildschwein gefahren sei; irgendeine durch das Verhalten des Wildschweines ausgelöste außergewöhnliche Betriebsgefahr sei hingegen nicht dazu gekommen. Der bloße Zusammenstoß mit dem Wildschwein könne nicht bereits eine außergewöhnliche Betriebsgefahr darstellen, weil es dann keinen Fall mehr gäbe, in dem es zu der in § 9 EKHG vorgesehenen Haftungsbefreiung komme, wenn der Unfall auf das Verhalten eines Tieres zurückzuführen sei.

Hiezu wurde erwogen:

In dritter Instanz ist unstrittig, dass der Unfall weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit noch auf einem Versagen der Verrichtungen des Motorrades beruhte (§ 9 Abs 1 EKHG) und dass der Motorradlenker jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet hat (§ 9 Abs 2 EKHG). Strittig ist hingegen, ob der Unfall unmittelbar auf die durch das Verhalten eines Tieres ausgelöste außergewöhnliche Betriebsgefahr zurückzuführen ist (§ 9 Abs 2 EKHG aE).

Die für § 9 Abs 2 EKHG maßgeblichen Wertungsgesichtspunkte sind die Einhaltung der gebotenen Sorgfalt und die außergewöhnliche Betriebsgefahr. Die Beschreibung der Unabwendbarkeit durch Bezugnahme "insbesondere" auf das Verhalten eines Tieres ist demgegenüber bloß beispielhaft (Schauer in Schwimann2 Band 8 § 9 EKHG Rz 3, 4). Während die Haftungsbefreiung bei Einhaltung jeder gebotenen Sorgfalt gegenüber dem Eigentümer des verletzten oder getöteten Tieres zum Tragen kommt, haftet der Halter gegenüber einem anderen Geschädigten, wenn das Tier eine außergewöhnliche Betriebsgefahr ausgelöst hat (Apathy, EKHG § 9 Rz 14, 28 mwN; Danzl, EKHG7 § 9 Anm 7c mwN; RIS-Justiz RS0058840, RS0058880). Im Verhältnis zwischen den Streitteilen ist also entscheidend, ob eine außergewöhnliche Betriebsgefahr vorliegt; deren Ursache spielt für die Schutzwürdigkeit der geschädigten Klägerin keine Rolle (2 Ob 88/77 = RS0058485). Nur die - nicht gegebene - Auslösung der außergewöhnlichen Betriebsgefahr durch die Klägerin selbst wäre der Klagsforderung schädlich (vgl Apathy aaO Rz 28 aE; Schauer aaO Rz 41; 2 Ob 25/78 = SZ 51/36; 2 Ob 50/82 = ZVR 1983/318; 2 Ob 2341/96w = SZ 71/165 = ZVR 1999/120).

Eine außergewöhnliche Betriebsgefahr ist nach ständiger Rechtsprechung anzunehmen, wenn zur gewöhnlichen Betriebsgefahr besondere Gefahrenmomente hinzutreten, die nach dem normalen Verlauf der Dinge nicht schon dadurch gegeben sind, dass ein Kraftfahrzeug überhaupt in Betrieb gesetzt wird (Apathy aaO Rz 29; Schauer aaO Rz 37; Danzl aaO E 75c; RIS-Justiz RS0058467). Wenn die Vorinstanzen das Vorliegen dieser Voraussetzung bejaht haben, weil die Kollision des Motorrades mit dem Wildschwein in der Folge zu einem vom Lenker dieses einspurigen Fahrzeuges nicht mehr kontrollierbaren, sich über 55m hinziehenden Sturzvorgang geführt hat, so ist dies nicht zu beanstanden. Es wäre nicht einzusehen, der Klägerin Ersatz für ihre Sturzverletzungen zuzubilligen, wenn sich der Sturz unter Vermeidung einer Kollision beim schleudernden Ausweichen ereignet hätte, nicht aber im vorliegenden Fall, in dem der Lenker ein Ausweichen versucht hat, die Kollision aber nicht mehr vermeiden konnte. In beiden Fällen verwirklicht sich für die Mitfahrerin die außergewöhnliche Betriebsgefahr eines mit (zulässiger) hoher Geschwindigkeit fahrenden einspurigen Kraftfahrzeuges. Das Fehlen von Schleuderbewegungen vor oder nach der Kollision ist daher unter den hier gegebenen Umständen nicht von Bedeutung. Schleuderbewegungen deuten zwar meist auf eine außergewöhnliche Betriebsgefahr hin, sie sind aber nicht deren notwendiges Merkmal (Schauer aaO Rz 37 aE mwN; 2 Ob 98/95 = SZ 69/1). Auch eine Handlung des Lenkers ist nicht Voraussetzung (2 Ob 25/78 = SZ 51/36).

Die Vorinstanzen haben die Rechtsfrage somit richtig gelöst, weshalb der Revision ein Erfolg zu versagen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.

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