OGH 2Ob2341/96w

OGH2Ob2341/96w15.10.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Angst als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Graf, Dr. Schinko, Dr. Tittel und Dr. Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Hannelore G*****, vertreten durch Mag. Dr. Edwin Mächler, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagten Parteien 1. Josef G*****, und 2. D*****, beide vertreten durch Rechtsanwaltssozietät Eisenberger- Herzog-Nierhaus-Forcher & Partner in Graz, wegen S 95.115 sA, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Berufungsgericht vom 11. Juli 1996, GZ 5 R 98/96k-39, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Bezirksgerichtes Leibnitz vom 6. Dezember 1995, GZ 5 C 161/94v-30, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidung des Berufungsgerichtes wird dahin abgeändert, daß das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit S 16.704,29 (darin S 2.232,37 Umsatzsteuer und S 3.310 Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 12. 7. 1994 ereignete sich gegen 19,30 Uhr auf der Pyhrn-Autobahn A 9 auf der Richtungsfahrbahn von Spielfeld nach Graz ein Verkehrsunfall, an welchem der von der Klägerin gehaltene, von einem Dritten gelenkte PKW Honda Civic und der vom Erstbeklagten gelenkte und gehaltene und bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherte PKW Opel Kadett beteiligt waren. Die Pyhrn-Autobahn verläuft im Unfallsbereich auf einer Strecke von rund 800 m annähernd gerade in Nord-Süd-Richtung. Die von beiden Fahrzeugen benützte östliche (Autobahn-) Fahrbahnhälfte ist als Richtungsfahrbahn in Richtung Norden im Unfallsbereich mit einer 11,6 m breiten Betondecke befestigt, die in Richtung Norden ein Gefälle von 1 % aufweist. An den westlichen Betonrand schließt ein Bankettstreifen an, auf dem eine Metall-Leitschiene errichtet ist, die 1,4 m vom Betonrand entfernt ist und die Sicherung gegenüber der westlichen (Gegen-)Richtungsfahrbahn bildet. Die östliche Begrenzung der Betonfahrbahn bildet im Unfallsbereich eine etwa 80 cm hohe Betongleitwand. Durch Randlinien, deren westliche 1,3 m und deren östliche 3,1 m vom jeweiligen Betonrand entfernt verlaufen, besteht eine markierte Fahrbahnbreite von 7,2 m; in Fahrbahnmitte ist eine gelbe Leitlinie markiert, sodaß die Richtungsfahrbahn zwei je 3,6 m breite Fahrstreifen aufweist. Besondere Geschwindigkeitsbeschränkungen waren im Unfallszeitpunkt nicht verfügt, die Fahrbahn war trocken, es herrschte Tageslicht. Am Unfallstag fuhr die Lenkerin des Klagsfahrzeugs (KF) auf dem zweiten (linken) Fahrstreifen mit einer Geschwindigkeit von etwa 120 km/h in Richtung Graz (Norden). In gleicher Richtung vor ihr fuhr der Erstbeklagte mit dem Beklagtenfahrzeug (BF), an welchem (vier) neun Jahre alte Winterreifen montiert waren, auf dem ersten (rechten) Fahrstreifen mit einer Geschwindigkeit von etwa 110 km/h. Plötzlich trat am linken Hinterreifen des BF ein Reifenplatzer auf. Dadurch wurde dieser Hinterreifen entlüftet und gelangte das BF nach links auf den zweiten Fahrstreifen bis in den Bereich der westlichen Randlinie, womit der gesamte zweite Fahrstreifen für das KF blockiert wurde. Als dies die Lenkerin des KF, das in diesem Moment in einem Tiefenabstand von 8 bis 20 m vom BF entfernt fuhr, bemerkte, faßte sie einen Brems- und (Links-)Auslenkentschluß, um ein - sonst unvermeidliches - Auffahren auf das BF zu verhindern. Durch dieses Fahrmanöver geriet das KF in eine Schleuderbewegung, in deren Verlauf die Heckpartie entgegen dem Uhrzeigersinn nach rechts ausbrach. Sodann stieß es mit einer Anstoßgeschwindigkeit im Bereich von 100 km/h in einer Querstellung in Form eines rechten Winkels zur Fahrbahnlängsachse mit der Front gegen die Mittelleitschiene und streifte mit der gesamten Frontpartie entlang der Leitschiene. Nach einer Auslaufstrecke von rund 50 m kam das KF schließlich am Pannenstreifen zum Stillstand. Das BF hingegen berührte die Mittelleitschiene nicht, prallte jedoch in der Folge - nach Überquerung des ersten Fahrstreifens - gegen die Betongleitwand und kam ebenfalls auf dem Pannenstreifen zum Stehen. Zwischen den Fahrzeugen der Streitteile kam es zu keiner Berührung. Eine Reaktionsverspätung in bezug auf die Fahrtrichtungsänderung des BF kann der Klägerin (wohl: Lenkerin des KF) nicht nachgewiesen werden. Am KF entstand der geltend gemachte, der Höhe und Fälligkeit nach nicht strittige Schaden.

Die Klägerin begehrte den vollen Ersatz ihres Schadens von S 95.115,-

sA, weil den Erstbeklagten wegen der Verwendung neun Jahre alter Winterreifen im Hochsommer und der ihm angesichts der eingehaltenen Fahrgeschwindigkeit anzulastenden Vorhersehbarkeit eines Reifenplatzers das Alleinverschulden am Unfall treffe und die beklagten Parteien auch aufgrund der Gefährdungshaftung zur Ersatzleistung verpflichtet seien.

Die beklagten Parteien beantragten - im derzeitigen Verfahrensstadium nur noch - die Abweisung des über den berufungsgerichtlichen Zuspruch hinausgehenden Klagebegehrens und wandten ein, die Lenkerin des KF habe auf den eingetretenen Reifenplatzer eine unnötige Fehlreaktion gesetzt, aufgrund welcher überdies vom KF auch eine (mit-)haftungsbegründende außergewöhnliche Betriebsgefahr ausgegangen sei.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren zur Gänze statt. In rechtlicher Hinsicht führte es aus, beiden Fahrzeuglenkern könne ein Verschulden am Zustandekommen des Unfalls nicht angelastet werden. Die Lenkerin des KF habe durch das Brems- und Auslenkmanöver ein Auffahren auf das BF verhindert und damit eine unfallverhütende Maßnahme gesetzt, zu der sie aufgrund der unmittelbaren Nähe zum BF gezwungen gewesen sei. Selbst wenn sie aber in dieser Situation eine Fehlreaktion gesetzt hätte, träfe sie kein Verschulden, weil sie durch die plötzlich auftretende Gefahr, die das BF ohne Zweifel dargestellt habe, zu schnellem Handeln gezwungen gewesen sei. Im zu entscheidenden Fall sei bei beiden Fahrzeugen außergewöhnliche Betriebsgefahr vorgelegen, weshalb eine Abwägung zu treffen sei, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Beteiligten verursacht worden sei. Der Schaden am KF sei allein aufgrund des Versagens der Verrichtungen am BF verursacht worden, zumal das KF nur deshalb ins Schleudern geraten sei, weil dessen Lenkerin durch das Ausbrechen des BF zur festgestellten Reaktion gezwungen gewesen sei. Dabei sei zu beachten, daß die Klägerin als Halterin im Zeitpunkt des Eintritts der außergewöhnlichen Betriebsgefahr beim BF nur die gewöhnliche Betriebsgefahr (des KF) zu vertreten gehabt habe. Erst in der Folge habe sich diese gewöhnliche Betriebsgefahr durch das Schleudern in eine außergewöhnliche gewandelt.

Das Gericht zweiter Instanz sprach der Klägerin in teilweiser Stattgebung der Berufung der beklagten Parteien nur die Hälfte des geltend gemachten Schadens zu, wies das Mehrbegehren ab und sprach aus, daß die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Ausgehend von den für richtig und ausreichend befundenen erstgerichtlichen Feststellungen vertrat es folgende Rechtsansicht:

Das Verreißen eines Fahrzeuges, welches zu einem nicht mehr unter Kontrolle zu bringenden Schleudern führe und das Abkommen von der Fahrbahn bewirke, sei nach ständiger Rechtsprechung als außergewöhnliche Betriebsgefahr zu beurteilen. Unerheblich sei, warum das KF ins Schleudern geraten sei, weshalb auch keine Abwägung dahin vorgenommen werden müsse, wieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Beteiligten verursacht worden sei. Da bei beiden Fahrzeugen außergewöhnliche Betriebsgefahr vorgelegen sei, führe dies zu einer gleichteiligen Schadensteilung. Die Lenkerin des KF habe allerdings einen Schaden keinesfalls verhindern können, sondern nur die Wahl gehabt, entweder zu bremsen und unweigerlich auf das BF aufzufahren, oder zu bremsen und auszulenken und damit unweigerlich ins Schleudern zu kommen, weshalb auch zu prüfen sei, ob im vorliegenden Fall nicht höhere Gewalt gegeben gewesen sei, weshalb für sie dennoch ein unabwendbares Ereignis vorgelegen wäre. Sei jedoch eine außergewöhnliche Betriebsgefahr mitkausal für Unfall und Schaden, dann entspreche es den Wertungen des § 9 Abs 2 EKHG, den Halter haften zu lassen, weil es nicht nur aus der Sicht des Beschädigten, sondern auch aus der des Ersatzpflichtigen keinen Unterschied mache, ob die außergewöhnliche Betriebsgefahr durch einen Dritten, ein Tier, höhere Gewalt oder durch ein sonstiges unabwendbares Ereignis ausgelöst worden sei.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen das zweitinstanzliche Urteil gerichtete außerordentliche Revision der Klägerin ist entgegen dem - gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden - Ausspruch des Berufungsgerichtes im Interesse der Rechtsentwicklung zulässig, weil die vorhandene Rechtsprechung einer Überprüfung bedarf; sie ist auch berechtigt.

Dem Berufungsgericht ist einzuräumen, daß seine Entscheidung der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes ZVR 1983/1 entspricht, der ein mit dem hier zu beurteilenden vergleichbarer Sachverhalt zugrunde lag. In dieser Entscheidung wurde die Meinung vertreten, daß der Halter eines Fahrzeuges, das durch das Verhalten des Lenkers eines anderen Fahrzeugs ins Schleudern gerät, wegen der damit verbundenen außergewöhnlichen Betriebsgefahr und wegen der Rangordnung, die im § 11 Abs 1 EKHG für die Beurteilung der gegenseitigen Ansprüche aufgestellt wird, einen Teil seines Schadens selbst tragen muß.

Demgegenüber vertritt Schauer (in Schwimann2 § 11 EKHG Rz 26) die Meinung, daß beim Schadensausgleich nach § 11 EKHG die außergewöhnliche Betriebsgefahr des Fahrzeuges des Geschädigten demjenigen Unfallbeteiligten gegenüber außer Betracht bleibt, der sie durch ein verkehrswidriges Verhalten verursacht hat. Dies wurde vom Obersten Gerichtshof bisher zwar nur für ein schuldhaft verkehrswidriges Verhalten gesagt (s die auch bei Schauer [aaO] zitierten Entscheidungen ZVR 1982/282; ZVR 1993/125). Der erkennende Senat ist jedoch der Ansicht, daß es auf das Verschulden nicht entscheidend ankommen kann, zumal auch ein schuldlos verkehrswidriges Verhalten beim anderen Verkehrsteilnehmer oft zur gleichen oder sogar zu einer noch folgenschwereren Reaktion wie ein schuldhaftes Verhalten zwingt. Er hält es - entgegen der in der Entscheidung ZVR 1983/1 zum Ausdruck kommenden Auffassung - nicht für sachgerecht und den in § 11 Abs 1 EKHG für den Ausgleichsanspruch der Unfallbeteiligten festgelegten Wertungen nicht entsprechend, daß jemand auch dann zum Ausgleich, und sei es auch nur in Form der Kürzung seiner Ansprüche, herangezogen wird, wenn die außergewöhnliche Betriebsgefahr, die den Schaden verursacht hat, auf den anderen Unfallsbeteiligten oder dessen Fahrzeug zurückgeht. Daß ein anderes Ergebnis nicht sachgerecht wäre, zeigt gerade der hier zu entscheidende Fall. Die Klägerin könnte nämlich den Ersatz dieses Schadens jedenfalls begehren, wenn die Lenkerin ihres Fahrzeuges dieses nicht verrissen hätte, weil ihr dann nur die gegenüber der außergewöhnlichen Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Erstbeklagten völlig in den Hintergrund tretende gewöhnliche Betriebsgefahr zugerechnet werden könnte. Dieses Ergebnis kann aber nicht als sachgerecht angesehen werden, weil das Verreißen des Fahrzeugs nicht nur den Umständen des Falles entsprach, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit einen größeren Schaden verhinderte.

Wendet man das Gesagte auf den hier zu entscheidenden Fall an, so wurde der Schaden am Fahrzeug der Klägerin zwar durch dessen außergewöhnliche Betriebsgefahr verursacht, weil eine solche Gefahr bei einem ins Schleudern geratenen Fahrzeug gegeben ist (ZVR 1984/242; ZVR 1989/78; ZVR 1991/40 ua). Die Klägerin hat aber Anspruch auf Ersatz des gesamten ihr hiedurch verursachten Schadens, weil für die außergewöhnliche Betriebsgefahr ihres Fahrzeuges ausschlaggebend war, daß das Fahrzeug des Erstbeklagten auf den vom Fahrzeug der Klägerin benützten Fahrstreifen geriet, und weil dies einem verkehrswidrigen Verhalten des Fahrzeuglenkers gleichzuhalten ist. Das Urteil des Erstgerichtes war somit wiederherzustellen.

Der Ausspruch über die Kosten der Rechtsmittelverfahren beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.

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