OGH 10ObS374/01z

OGH10ObS374/01z30.4.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Zeitler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Herbert Stegmüller (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Hildegard P*****, Pensionistin, ***** vertreten durch Dr. Manfred Aschmann, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Bundespensionsamt, Barichgasse 38, 1031 Wien, vertreten durch die Finanzprokuratur, Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. Juni 2001, GZ 7 Rs 118/01d-13, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 29. Jänner 2001, GZ 24 Cgs 264/00d-7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen. Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die am 11. 9. 1924 geborene Klägerin bewohnte zum Zeitpunkt der Pflegegeldantragstellung im Juni 2000 eine im zweiten Stock eines Hauses gelegene Wohnung, die mangels Lift nur über Treppen erreicht werden konnte. Seit 27. 10. 2000 lebt sie in einer Wohneinheit im Erdgeschoß eines Seniorenzentrums.

Die Klägerin leidet insbesondere an einer ausgeprägten Herzschwäche und Belastungsdyspnoe, Bluthochdruck, Coxarthrose rechts, Stammvaricosis, Osteoporose und an einem Schlafapnoesyndrom. Zum längeren Stehen benötigt sie zwei Stützkrücken, zum Gehen im Wohungsverband einen Stock und außerhalb einen Rollator, den sie auch zum Erreichen des Speisesaales im Seniorenzentrum verwendet. Sie kann keine Stiegen steigen. Während der Nacht erhält sie Sauerstoff über eine Maske. Das Sauerstoffgerät, das ein Laie nach Einschulung selbst bedienen kann, muss für die Klägerin betätigt werden, wofür ein täglicher Zeitaufwand von fünf Minuten erforderlich ist. Die Klägerin benötigt jedenfalls Hilfe bei der täglichen Körperpflege, beim An- und Ausziehen von Kleidungsstücken, die über Zehen und Beine gezogen werden müssen, beim Anziehen von Stützstrümpfen, bei der Mahlzeitenzubereitung, der Herbeischaffung von Bedarfsgütern, der Wohnungsreinigung, der Wäschepflege und der Mobilitätshilfe im weiteren Sinn.

Mit Bescheid vom 30. 10. 2000 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 16. 6. 2000 auf Gewährung von Pflegegeld mit der Begründung ab, dass nur ein Pflegebedarf von 40 Stunden monatlich vorliege.

Das Erstgericht sprach der Klägerin Pflegegeld der Stufe 3 in der monatlichen Höhe von S 5.690,-- ab 1. 7. 2000 zu. Nach dem Ersturteil benötigt die Klägerin auch Hilfe beim Vorrichten der Medikamente und Mobilitätshilfe im engeren Sinn, weil sie keine Stiegen steigen kann und teilweise auch Hilfe beim Aufstehen benötigt. Bei der Untersuchung durch die medizinische Sachverständige klagte die Klägerin über eine Schwindelattacke, weshalb ihr ins Bett geholfen werden musste.

In seiner rechtlichen Beurteilung ging das Erstgericht von folgendem pflegegeldrelevanten Bedarf an Betreuung und Hilfe aus:

Tägliche Körperpflege

25 Stunden/Monat

Hilfestellung beim An- und Ausziehen von Kleidungsstücken,

die über Zehen und Beine gezogen werden müssen

10 Stunden/Monat

Hilfestellung beim Anziehen von Stützstrümpfen

10 Stunden/Monat

Zubereitung von Mahlzeiten

30 Stunden/Monat

Vorrichten der Medikamente

3 Stunden/Monat

Betätigung des Sauerstoffgeräts

2,5 Stunden/Monat

Mobilitätshilfe im engeren Sinn

mindestens 10 Stunden/Monat

Hilfe bei der Herbeischaffung von Bedarfsgütern

10 Stunden/Monat

Hilfe bei der Wohnungsreinigung

10 Stunden/Monat

Hilfe bei der Wäschepflege

10 Stunden/Monat

Mobilitätshilfe im weiteren Sinn

10 Stunden/Monat

130,5 Stunden/Monat

Das Berufungsgericht gab der - nur hinsichtlich des Zuspruchs eines über Stufe 2 hinausgehenden Pflegegelds erhobenen - Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Es übernahm den vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt und bestätigte die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass der Klägerin Pflegegeld der Stufe 3 zustehe. Unstrittig sei seit Antragstellung ein Pflegebedarf von zumindest 117,5 Stunden monatlich (= 130,5 Stunden abzüglich 3 Stunden für das Vorrichten der Medikamente und 10 Stunden für Mobilitätshilfe im engeren Sinn). Über diesen Wert hinaus sei jedenfalls Hilfe bei der Medikamenteneinnahme im Ausmaß von 6 Minuten täglich (3 Stunden monatlich) erforderlich, sodass ein Pflegebedarf gegeben sei, der das zeitliche Mindestausmaß von 120 Stunden für Pflegegeld der Stufe 3 erreiche.

Die Einstufungsverordnung zum BPGG normiere in § 1 Abs 3 für die Hilfe bei der Medikamenteneinnahme einen auf den Tag bezogenen Richtwert von 6 Minuten. Nur wesentliche Abweichungen von dem Richtwert seien zu berücksichtigen. Unter Hilfestellung bei der Einnahme von Medikamenten verstehe man die sachgerechte Vorbereitung der Medikamente entsprechend der vorgeschriebenen Darreichungsform (zB das Auflösen von Löstabletten oder Granulaten) und die Verabreichung durch die Pflegeperson selbst. Auch das Erinnern an die zeitgerechte und regelmäßige Einnahme sei zu dieser Betreuungsverrichtung zu zählen. Bei mangelnder Krankheitseinsicht sei auch eine genaue Überwachung der Einnahme notwendig. Das Verfahren habe nicht ergeben, dass die Medikamente, die der Klägerin vorgegeben werden müssten, in einer Wochendosierbox vorgegeben würden oder werden könnten. Aus dem Gutachten der Gerichtssachverständigen ergebe sich, dass die Klägerin täglich neun Medikamente einnehmen müsse, davon eines zweimal. Weiters seien die Medikamente nicht nur vorzugeben, sondern es sei auch die Einnahme zu kontrollieren. Damit bestünden aber keine Hinweise darauf, dass der vorgesehene Richtwert von sechs Minuten täglich bei der Klägerin massiv unterschritten werde, weshalb der volle Richtwert für die Medikamenteneinnahme von drei Stunden monatlich anzusetzen sei. Durch den sich daraus ergebenden monatlichen Pflegebedarf von 120,5 Stunden seien die Voraussetzungen für die Pflegegeldstufe 3 erfüllt; die Frage, ob die Klägerin auch Mobilitätshilfe im engeren Sinn benötige, könne dahin gestellt bleiben.

Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Partei aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens (wegen eines sekundären Feststellungsmangels) und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Abweisung des über die Stufe 2 hinausgehenden Pflegegelds abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Strittig ist im vorliegenden Fall zum einen, ob die Notwendigkeit der Vorrichtung von Medikamenten für die Klägerin den von § 1 Abs 3 EinstV für das "Einnahmen von Medikamenten" vorgesehenen Richtwert von 6 Minuten täglich (3 Stunden monatlich) rechtfertigt. Zum anderen steht in Frage, ob bei der Klägerin eine Notwendigkeit für Mobilitätshilfe im engeren Sinn besteht.

In der Revision wird dazu der Standpunkt vertreten, dass im Hinblick auf die fehlende Notwendigkeit der Verabreichung der Medikamente nur ein Zeitaufwand von zwei Minuten pro Tag (eine Stunde pro Monat) anzusetzen sei. Mobilitätshilfe im engeren Sinn sei nicht notwendig, weil der Klägerin ein selbständiger Ortswechsel mit Hilfe von Stützkrücken und eines Rollators möglich sei. Damit liege nur ein Pflegeaufwand von insgesamt 118,5 Stunden pro Monat vor, sodass der Klägerin Pflegegeld der Stufe 2 gebühre.

1. Zur Verabreichung von Medikamenten:

Der Gesetzgeber ermächtigt den Bundesminister für Arbeit und Soziales in § 4 Abs 4 BPGG ua (Z 2), Richtwerte für den zeitlichen Betreuungsaufwand festzulegen. Die seit 1. 2. 1999 in Kraft stehende, in BGBl II 1999/37 verlautbarte Einstufungsverordnung zum BPGG (EinstV) sieht in § 1 Abs 3 für das "Einnehmen von Medikamenten" einen auf den Tag bezogenen Richtwert von 6 Minuten vor. Nach ständiger Rechtsprechung sollen die in § 1 Abs 3 EinstV zum BPGG bei der Feststellung des zeitlichen Betreuungsaufwandes auf einen Tag bezogenen Richtwerte im Wesentlichen nur als Orientierungshilfe für die Rechtsanwendung dienen und können daher im Einzelfall auch unterschritten oder überschritten werden (SSV-NF 10/97 mwN, zuletzt etwa 10 ObS 172/01v; RIS-Justiz RS0053147). Es handelt sich bei diesen Richtwerten jedoch um auf der Arbeit einer Expertengruppe, der unter anderem Pflegepersonal, ärztliche Sachverständige und Behindertenvertreter angehörten, beruhende zeitliche Vorgaben für jene "durchschnittliche" Zeit, die für die betreffende Verrichtung im Regelfall aufzuwenden ist (vgl Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge [1994] 183; Pfeil, Bundespflegegeldgesetz 84 mwH). Abweichungen von diesen Durchschnittswerten bedürfen daher einer Begründung. Wie bereits das Berufungsgericht dargestellt hat, verstehen die Erläuterungen zur Einstufungsverordnung zum BPGG unter der Hilfestellung bei der Einnahme von Medikamenten die "sachgerechte Vorbereitung der Medikamente entsprechend der vorgeschriebenen Darreichungsform ... und die Verabreichung durch die Pflegeperson selbst. Auch das Erinnern an die zeitgerechte Einnahme ist zu dieser Betreuungsverrichtung zu zählen." (Fürstl-Grasser/Pallinger, Die neue Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz samt Erläuterungen, SozSi 1999, 282 [285]).

Nach den erstgerichtlichen Feststellungen kann die Klägerin das "Vorrichten der Medikamente" nicht ohne fremde Hilfe durchführen Weitere Feststellungen über den erforderlichen zeitlichen Aufwand im Zusammenhang mit der Verabreichung der Medikamente fehlen. Das Berufungsgericht hat zwar aus dem vom Erstgericht eingeholten Sachverständigengutachten ergänzt, dass die Klägerin täglich neun Medikamente einnehmen muss, davon eines zweimal, weiters dass ihr Medikamente vorgegeben werden und dass die Einnahme der Medikamente kontrolliert wird.

Damit ist jedoch nicht klargestellt, welcher zeitliche Aufwand im Zusammenhang mit der Verabreichung der Medikamente tatsächlich notwendig ist. Insbesondere fehlt es an Feststellungen, auf welchen Zeitraum hinaus ein "Vorrichten" möglich ist und wie sich die Verabreichung bzw eine allenfalls erforderliche Anleitung zur Einnahme sowie die Kontrolle der Einnahme gestalten. Abzustellen ist dabei auf den im konkreten Fall notwendigen Aufwand. Erst wenn dieser Aufwand fest steht kann beurteilt werden, ob ein Abweichen vom Richtwert gerechtfertigt ist oder nicht.

2. Zum Erfordernis der Mobilitätshilfe im engeren Sinn:

Die Mobilitätshilfe im engeren Sinn (§ 1 Abs 2 EinstV) umfasst die Hilfe beim Aufstehen, Zubettgehen, Umlagern, Gehen, Stehen und Treppensteigen, also bei allen gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Ortswechseln im häuslichen Bereich sowie bei allen im Ablauf des täglichen Lebens vorkommenden Lagewechseln, weiters beim An- und Ablegen von Körperersatzstücken, die der Förderung der Mobilität dienen (SSV-NF 12/23 mwN ua, zuletzt etwa 10 ObS 277/00h; RIS-Justiz RS0107538). Die EinstV zum BPGG (BGBl II 1999/37) sieht dafür in § 1 Abs 3 einen Richtwert von 30 Minuten pro Tag (= 15 Stunden pro Monat) vor (10 ObS 254/99x mwN). Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass solche Richtwerte im Wesentlichen nur Durchschnittswerte angeben, die als Orientierungshilfe für die Rechtsanwendung dienen sollen und daher unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls sowohl über- als auch unterschritten werden können.

Auch hier fehlt es an ausreichenden Feststellungen über das konkrete Erfordernis für eine ständige Mobilitätshilfe im engeren Sinn ab 1. 7. 2000. So hat das Erstgericht zwar festgestellt, dass die Klägerin beim Gehen einen Stock verwendet und dass sie sich außerhalb des Wohnungsverbandes nicht selbständig mit Stützkrücken fortbewegen kann, sondern in diesem Fall einen Rollator verwendet. Innerhalb eines Gebäudes kann sie Stiegen ohne Hilfe nicht bewältigen. Weiters wird im Rahmen der rechtlichen Beurteilung darauf hingewiesen, dass der Klägerin im Zusammenhang mit einer Schwindelattacke im Zuge der Untersuchung ins Bett geholfen werden musste. Bei der weiteren "Feststellung" des Erstgerichts, die Klägerin könne - unter anderem - Mobilitätshilfe im engeren Sinn "nicht ohne fremde Hilfe durchführen", handelt es sich um die Umschreibung eines rechtlichen Begriffes, dessen Vorliegen jedoch mangels eindeutiger Tatsachenfeststellungen nicht überprüft werden kann. Das Verfahren erweist sich daher zu beiden Punkten - Betreuungsbedarf bei der Verabreichung von Medikamenten und bei der Mobilität im häuslichen Bereich - als ergänzungsbedürftig. Im fortzusetzenden Verfahren ist zu klären, ob und gegebenenfalls für welche konkreten Verrichtungen - mit welchem zeitlichen Ausmaß - die Klägerin ab 1. 7. 2000 fremde Hilfe benötigte bzw benötigt, um beurteilen zu können, ob die Richtwerte angesetzt werden oder davon (nach unten) abgewichen wird.

Wegen der dargelegten Feststellungsmängel sind die Urteile beider Vorinstanzen aufzuheben. Die Rechtssache ist zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO. Zu beachten ist, dass der Kläger im Hinblick auf die rechtskräftige Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 2 als im gerichtlichen Verfahren obsiegend anzusehen ist (§ 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG).

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