OGH 10ObS277/00h

OGH10ObS277/00h24.10.2000

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Fellinger sowie die fachkundigen Laienrichter MR DI Gustav Poinstingl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir Winfried Kmenta (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Hilda J*****, Pensionistin, *****, vertreten durch Dr. Günther Hummer, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. Juni 2000, GZ 9 Rs 54/00b-29, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 23. November 1999, GZ 10 Cgs 202/97m-23, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die Klägerin bezieht von der beklagten Partei ein Pflegegeld der Stufe 2. Mit Bescheid vom 21. 11. 1997 wurde ihr Antrag auf Erhöhung des Pflegegeldes abgelehnt.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene, auf Gewährung eines Pflegegeldes der Stufe 3 ab 1. 10. 1997 gerichtete Klagebegehren ab. Nach seinen Ausführungen bedürfe die Klägerin sowohl vor dem am 18. 3. 1998 erlittenen Unfall als auch danach fremder Hilfe für das An- und Auskleiden, die tägliche Körperpflege, die Zubereitung von Mahlzeiten, die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Bedarfsgütern des täglichen Lebens, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, die Pflege der Leib- und Bettwäsche sowie Mobilitätshilfe im weiteren Sinn. Der Pflegebedarf der Klägerin betrage demnach nicht mehr als 120 Stunden monatlich, weshalb kein Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 3 gebühre.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Der zeitliche Pflegebedarf sei anhand der in der EinstV zum BPGG für die einzelnen Hilfsverrichtungen festgelegten Richt-, Mindest- und Fixwerte und nicht auf Grund des konkreten Pflegeaufwandes der Betreuungsperson zu ermitteln. Für die Annahme einer Erhöhung des für die Hilfe beim An- und Auskleiden vorgesehenen Richtwertes und des für die tägliche Körperpflege vorgesehenen Mindestwertes lägen keine Anhaltspunkte vor.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung vorrangig mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Die Revision ist im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Unter den genannten Rechtsmittelgründen bekämpft die Klägerin die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, dass keine Anhaltspunkte für eine Erhöhung des in § 1 Abs 3 EinstV für die Hilfe beim An- und Auskleiden vorgesehenen Richtwertes von zweimal 20 Minuten täglich (= 20 Stunden monatlich) und des in § 1 Abs 4 EinstV für die tägliche Körperpflege vorgesehenen Mindestwertes von zweimal 25 Minuten täglich (= 25 Stunden monatlich) vorlägen. Die Vorinstanzen hätten Feststellungen darüber treffen müssen, welcher Zeitraum von der Betreuungsperson der Klägerin für diese beiden Betreuungsmaßnahmen tatsächlich aufgewendet werden müsse.

Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden.

Soweit von der Klägerin das Fehlen von Feststellungen über das zeitliche Ausmaß der erforderlichen Hilfsleistungen geltend gemacht wird, handelt es sich inhaltlich um eine Rechtsrüge (10 ObS 2080/96x). Es trifft zwar zu, dass nach ständiger Rechtsprechung die in § 1 Abs 3 EinstV zum BPGG bei der Feststellung des zeitlichen Betreuungsaufwandes auf einen Tag bezogenen Richtwerte - beispielsweise für das An- und Auskleiden - im Wesentlichen nur als Orientierungshilfe für die Rechtsanwendung dienen sollen und daher im Einzelfall auch unterschritten oder überschritten werden können (SSV-NF 10/97 mwN ua; RIS-Justiz RS0053147). Es handelt sich bei diesen Richtwerten jedoch um auf der Arbeit einer Expertengruppe, der unter anderem Pflegepersonal, ärztliche Sachverständige und Behindertenvertreter angehörten, beruhende zeitliche Vorgaben für jene "durchschnittliche" Zeit, die für die betreffende Verrichtung im Regelfall aufzuwenden ist (vgl Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge 183). Die Feststellungen des Erstgerichtes sowie die übrigen Verfahrensergebnisse bieten keinen Anhaltspunkt dafür, dass bei der Klägerin ein höherer Betreuungsaufwand für die Hilfe beim An- und Auskleiden erforderlich wäre als der dafür vorgesehene Richtwert von zweimal 20 Minuten täglich.

Für die notwendige Hilfe bei der täglichen Körperpflege ist in § 1 Abs 4 EinstV ein auf einen Tag bezogener zeitlicher Mindestwert von zweimal 25 Minuten vorgesehen. Abweichungen von diesen Zeitwert sind nur dann zu berücksichtigen, wenn der tatsächliche Betreuungsaufwand diesen Mindestwert erheblich überschreitet. Dies ist nur dann der Fall, wenn die Überschreitung um annähernd die Hälfte erfolgt (SSV-NF 11/17; 9/47 ua; RIS-Justiz RS0058292). Für eine solche Annahme bietet jedoch der Akteninhalt, wie bereits das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat, ebenfalls keine Anhaltspunkte. Auch die Klägerin vermag in ihren Revisionsausführungen keine Gründe dafür zu nennen, warum in ihrem Fall ein so erheblich erhöhter Betreuungsaufwand für die notwendige Hilfe bei der täglichen Körperpflege erforderlich sein soll.

Es ist daher mit den Vorinstanzen von einem Pflegeaufwand der Klägerin von (zunächst) 115 Stunden monatlich (20 Stunden für das An- und Auskleiden, 25 Stunden für die tägliche Körperpflege, 30 Stunden für die Zubereitung von Mahlzeiten sowie jeweils 10 Stunden für die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Bedarfsgütern des täglichen Lebens, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, die Pflege der Leib- und Bettwäsche sowie für die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn) auszugehen. Auch die Anwendung der am 1. 1. 1999 in Kraft getretenen Novelle zum BPGG BGBl I 1998/111 und der mit 1. 2. 1999 in Kraft getretenen neuen EinstV BGBl II 1999/37 führt zu keinem anderen Ergebnis, weil die Rechtslage insoweit unverändert blieb.

Strittig ist jedoch noch, ob die Klägerin auch der Mobilitätshilfe im engeren Sinn bedarf. Mobilitätshilfe im engeren Sinn (§ 1 Abs 2 EinstV) umfasst die Hilfe beim Aufstehen, Zubettgehen, Umlagern, Gehen, Stehen und Treppen steigen, also bei allen gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Ortswechseln im häuslichen Bereich sowie bei allen im Ablauf des täglichen Lebens vorkommenden Lagewechseln, weiters beim An- und Ablegen von Körperersatzstücken, die der Förderung der Mobilität dienen (SSV-NF 12/23 mwN ua; RIS-Justiz RS0107538). Während für die vor dem Inkrafttreten der neuen EinstV zum BPGG (BGBl II 1999/37) mit 1. 2. 1999 liegenden Zeiträume der mit der Mobilitätshilfe im engeren Sinn verbundene Bedarf im konkreten Einzelfall festzustellen ist, ist nach § 1 Abs 3 der neuen EinstV von einem - auf einen Tagbezogenen - Richtwert von 30 Minuten auszugehen (10 ObS 254/99x mwN). Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass solche Richtwerte im Wesentlichen nur Durchschnittswerte angeben, die als Orientierungshilfe für die Rechtsanwendung dienen sollen und daher unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls sowohl über- als auch unterschritten werden können. Bei der "Feststellung" des Erstgerichtes, die Klägerin habe vor dem am 18. 3. 1998 erlittenen Unfall keine Mobilitätshilfe im engeren Sinn benötigt, handelt es sich um die Umschreibung eines rechtlichen Begriffes, dessen Vorliegen jedoch mangels eindeutiger Tatsachenfeststellungen nicht überprüft werden kann. So hat das Erstgericht zwar festgestellt, der Klägerin sei das Gehen in der Wohnung mit Hilfe einer Krücke bzw durch Festhalten an Möbelstücken noch möglich. Es liegt jedoch ein Widerspruch in den Feststellungen des Erstgerichtes insofern vor, als einerseits festgestellt wurde, dass die Klägerin fremde Hilfe beim Aufstehen und Niederlegen benötige (US 6), während andererseits festgestellt wurde, dass der Klägerin das Aufstehen mit großer Mühe allein noch möglich sei (US 5). Diesbezüglich erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig.

Das Erstgericht wird daher im fortzusetzenden Verfahren zu klären haben, ob und gegebenenfalls für welche konkreten der oben angeführten und der Mobilitätshilfe im engeren Sinn zuzurechnenden Verrichtungen die Klägerin fremde Hilfe benötigt. Erst danach wird beurteilt werden können, ob und gegebenenfalls in welchem zeitlichen Ausmaß die Klägerin Mobilitätshilfe im engeren Sinn benötigt und ob der Pflegebedarf dadurch den für die Stufe 3 erforderlichen Pflegeaufwand von durchschnittlich mehr als 120 Stunden monatlich erreicht.

Wegen der dargelegten Feststellungsmängel sind die Urteile beider Vorinstanzen aufzuheben. Die Rechtssache ist zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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