European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1999:E55180
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Beide Revisionen werden zurückgewiesen.
Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.
Begründung:
Am 28. 5. 1995 gegen 10.30 Uhr ereignete sich in V* ein Verkehrsunfall, an welchem der Sohn des Beklagten, Gökhan S*, der zum Unfallszeitpunkt etwa 7 1/2 Jahre alt war, als Lenker eines Kinderfahrrades und der Kläger als Lenker und Halter eines Motorrades beteiligt waren.
Der Kläger begehrte Schadenersatz in der Höhe von 95.928,40 S sA sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für sämtliche zukünftigen Schäden aus dem gegenständlichen Unfall. Der Beklagte habe seine Aufsichtspflicht in Ansehung seines Sohnes verletzt.
Der Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Das alleinige Verschulden am gegenständlichen Unfall treffe den Kläger.
Das Erstgericht verpflichtete den Beklagten zur Zahlung von 85.928,40 S sA, gab dem Feststellungsbegehren vollinhaltlich statt und wies das Mehrbegehren auf Zahlung weiterer 10.000 S sA (Teil des Schmerzengeldes) - rechtskräftig - ab.
Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil dahin ab, dass es den Beklagten zur Zahlung von 57.285,60 S sA verpflichtete, die Haftung des Beklagten für 2/3 aller künftigen Schäden des Klägers aus dem gegenständlichen Unfall feststellte und das Mehrbegehren auf Zahlung weiterer 38.642,80 S sA sowie das Feststellungsmehrbegehren abwies.
Ausgehend von den erstgerichtlichen Feststellungen erörterte das Berufungsgericht rechtlich, dass der zum Unfallszeitpunkt rund 7 1/2 Jahre alte Sohn des Beklagten ca 100 m von dessen Haus entfernt mit dem Fahrrad unterwegs gewesen sei. Die Kinder des Beklagten hätten jederzeit auf die Straße gelangen können und der Sohn und die Tochter des Beklagten seien auch schon vor dem Unfall radfahrend auf der Straße angetroffen worden. Wenngleich der Beklagte auch vom Fahrradfahren seines Sohnes auf der Straße positiv nicht gewusst habe, spreche das bereits vor dem Unfall erfolgte Fahrradfahren (auf der Straße) nicht dafür, dass der Sohn des Beklagten - gerade wenn ein dahingehendes Verbot ausgesprochen worden sei - als besonders folgsam gelten habe können. Schließlich habe er sich zum Unfallszeitpunkt mit dem Fahrrad bis zu ca 100 m vom Haus entfernt. Auch sei das Haus nicht eingezäunt gewesen, weshalb der Beklagte schon deshalb damit rechnen habe müssen, dass das Kind - wie bereits vor dem Vorfall - die Straße dazu benutzen werde, um mit dem ihm zur Verfügung gestellten Fahrrad dort zu fahren. Es sei daher nicht genügend, dem Kind nur zu sagen, dass es nicht auf die Straße fahren dürfe, sondern hätte der Beklagte weitere Maßnahmen ergreifen müssen, die es dem Kind tatsächlich nicht erlaubt hätten, sich alleine vom Anwesen des Beklagten auf der Straße mit dem Rad zu entfernen. Dass der Beklagte am Sonntag‑Vormittag geschlafen habe, sei ihm unbenommen, könne ihn aber nicht entlasten, weil seine Ehegattin neben Haushaltstätigkeiten auf drei Kinder aufzupassen gehabt habe und weder behauptet noch bewiesen worden sei, dass sich der Vater aus guten Gründen auf eine effektive Beaufsichtigung seines Sohnes durch die Mutter verlassen habe können. An sich habe die Aufsichtspflicht beide Elternteile getroffen. Der Beklagte könne sich durch die von ihm zur Unfallszeit verrichtete Tätigkeit (des Schlafens) nicht entlasten und auch nicht damit, dass er mit guten Gründen davon ausgehen hätte dürfen, dass seine Ehefrau die Beaufsichtigung alleine durchzuführen imstande gewesen wäre. Da es zu verlangen und zumutbar gewesen wäre, dem Kind das Rad für jene Zeiten, in denen eine Beaufsichtigung aus bestimmten Gründen nicht möglich gewesen sei, faktisch zu entziehen, und auch mit der Gefährdung dann zu rechnen gewesen sei, wenn sich dieses - wie bereits vor dem Unfallgeschehen - dem Verbot der Eltern widersetzt habe, sei dem Beklagten der Beweis nicht gelungen, dass er nicht dennoch schuldhaft dazu beigetragen habe, dass sich sein Sohn alleine auf der Straße mit dem Rad vom Haus entfernt habe.
Da die Sicht auf 24 bis 25 m eingeschränkt, die Fahrbahn nur 4 m breit und der Kurvenverlauf zu berücksichtigen gewesen sei, habe sich die Bremsausgangsgeschwindigkeit des Klägers von 39 km/h, die ihm ein sicheres rechtzeitiges Anhalten vor einem Hindernis oder ein Umfahren desselben nicht (jedenfalls nicht mit Sicherheit) ermöglicht habe, als überhöht erwiesen. Der Kläger habe damit rechnen müssen, dass das Auftauchen anderer Verkehrsteilnehmer eine Gefahrenlage bewirken werde; dies hätte er bei der Wahl seiner Geschwindigkeit in Rechnung stellen müssen. Den Kläger treffe daher ein Mitverschulden, welches zur Anspruchskürzung von einem Drittel führe. Schließlich habe der Kläger auch die von seinem Motorrad ausgehende Betriebsgefahr selbst zu vertreten.
Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision deshalb für zulässig, weil der Entscheidung im Hinblick auf das Maß der Aufsichtspflicht und den vom Beklagten ins Treffen geführten Entlastungsbeweis eine erhebliche Bedeutung auch über den vorliegenden Einzelfall hinaus zukomme und näheren grundsätzlichen Ausführungen des Höchstgerichtes zur Mitverschuldensabwägung eines Geschädigten gegenüber einer Aufsichtspflichtverletzung eines Obsorgepflichtigen für eine Vielzahl ähnlicher Fälle rechtserhebliche Bedeutung beizumessen sei.
Rechtliche Beurteilung
Gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichtes richten sich die Revisionen beider Parteien, die unzulässig sind, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO abhängt. Bei dieser Zulässigkeitsprüfung ist der Oberste Gerichtshof gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht an den diesbezüglichen Ausspruch des Berufungsgerichtes gebunden (2 Ob 217/98w ua). Sind ordentliche Revisionen - wie hier - wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO unzulässig und daher zurückzuweisen, kann sich der Oberste Gerichtshof auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 letzter Satz ZPO):
1. Zur Revision des Beklagten:
Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes kommt es bei der Beantwortung der Frage, ob der Aufsichtspflichtige seiner Obsorgepflicht im Sinne des § 1309 ABGB genügt hat, auf das Alter, die Entwicklung und die Eigenart des Kindes, auf die Voraussehbarkeit eines schädigenden Verhaltens des zu Beaufsichtigenden, auf das Maß der von diesem ausgehenden, dritten Personen drohenden Gefahr sowie darauf an, was den Aufsichtspflichtigen in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann. Entscheidend ist, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen im konkreten Fall unternehmen müssen, um die Schädigung Dritter durch ihre Kinder zu verhindern, und welchen konkreten Anlass sie zu bestimmten Aufsichtsmaßnahmen hatten. Der Aufsichtspflichtige haftet nur bei Verschulden. Dem Geschädigten obliegt der Nachweis der Vernachlässigung der Obsorge. Der Aufsichtspflichtige hat seine Schuldlosigkeit zu beweisen (SZ 44/8; ZVR 1984/324; ZVR 1989/153; ZVR 1997/35; 2 Ob 110/98k ua; Reischauer in Rummel2 Rz 4 zu § 1309 ABGB). Grundsätzlich sind an die Erfüllung der elterlichen Aufsichtspflicht strenge Anforderungen zu stellen. Bloße Verbote genügen daher nicht; es muss vielmehr eine ausreichende und zumutbare Überwachung des Kindes hinzutreten. Wenn es jedoch mit den Verkehrsverhältnissen nur irgendwie vereinbar ist, muss Kindern die Möglichkeit zum Aufenthalt und Spielen im Freien erhalten bleiben, sodass eine ständige Beobachtung bzw eine Überwachung auf Schritt und Tritt in der Regel nicht verlangt werden kann (EvBl 1978/52; ZVR 1982/109 ua). Gemäß § 65 Abs 1 StVO muss der Lenker eines Fahrrades, mit dem eine öffentliche Straße befahren wird, mindestens zwölf Jahre alt sein. Kinder unter zwölf Jahren dürfen ein Fahrrad nur unter Aufsicht einer Person, die das sechzehnte Lebensjahr vollendet hat, oder mit - hier aufgrund des Alters des Sohnes des Beklagten nicht vorliegender - behördlicher Bewilligung lenken. Diese Vorschrift des § 65 StVO, bei dem es sich um eine Schutzvorschrift iSd § 1311 ABGB handelt (ZVR 1983/206 mwN; ZVR 1989/153), richtet sich hinsichtlich radfahrender Kinder an die Eltern oder sonstigen aufsichtspflichtigen Personen, deren Sache es ist, den ihrer Aufsicht und Erziehung anvertrauten Kindern das Lenken eines Fahrrades zu ermöglichen oder zu verbieten (ZVR 1972/189; ZVR 1973/28; ZVR 1984/203 ua). Das Verschulden der aufsichtspflichtigen Personen muss sich dabei nicht auf die Zufügung des Schadens, sondern auf die Übertretung der Schutznorm beziehen. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes macht jedoch nicht schon die objektive Übertretung einer Schutznorm haftbar, sondern es muss die Übertretung verschuldet sein, wobei den Beweis für die Schuldlosigkeit der Schädiger (Übertreter) zu erbringen hat (ZVR 1976/292; ZVR 1983/206 ua). Ob sich ein Elternteil auf die Beaufsichtigung durch den anderen verlassen kann, hängt von der konkreten Situation ab, insbesondere davon, ob der andere die Pflicht zeitlich ausüben kann (EvBl 1978/52 = EFSlg 29.396; Reischauer in Rummel2 Rz 6 zu § 1309 ABGB).
Diesen in Lehre und Rechtsprechung vertretenen Grundsätzen entspricht aber die Entscheidung des Berufungsgerichtes, sodass von einem Überschreiten des Entscheidungsspielraumes durch das Gericht zweiter Instanz bei Bejahung der Verletzung der Aufsichtspflicht des Beklagten über seinen Sohn - welche Beurteilung im übrigen auch von den Umständen des Einzelfalles abhängt - nicht die Rede sein. Die Frage der Angemessenheit der vom Gericht zweiter Instanz vorgenommene Verschuldensteilung hängt ebenfalls von den Umständen des Einzelfalles ab und ist daher - vom hier nicht vorliegenden Fall krasser Fehlbeurteilung abgesehen - keine erhebliche Rechtsfrage.
2. Zur Revision des Klägers:
Der nach § 1309 ABGB belangte Aufsichtspflichtige kann nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes das Mitverschulden des von seinem Schützling Geschädigten einwenden (SZ 26/65 = JBl 1953, 549; EvBl 1956/5 ua; Reischauer in Rummel2 Rz 10 zu § 1309 ABGB), was vom Kläger in der Revision auch nicht mehr in Frage gestellt wird. Ob den Kläger ein Mitverschulden am gegenständlichen Unfall trifft, hängt ebenso wie die Frage der Angemessenheit der vom Gericht zweiter Instanz vorgenommenen Verschuldensteilung von den Umständen des Einzelfalles ab und ist sohin grundsätzlich keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO. Dass dem Berufungsgericht bei der Beurteilung dieser Fragen eine krasse Fehlbeurteilung unterlaufen wäre, ist nicht ersichtlich.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Ersatz der Kosten seiner Revisionsbeantwortung, weil darin auf die Unzulässigkeit der Revision des Beklagten nicht hingewiesen wurde.
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