OGH 1Ob215/98v

OGH1Ob215/98v27.10.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Hüsamettin Ö*****, vertreten durch Dr. Walter Simma, Rechtsanwalt in Bregenz, wider die beklagte Partei Rahime Ö*****, vertreten durch Dr. Fritz Schuler, Rechtsanwalt in Bregenz, wegen Ehescheidung infolge ordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Berufungsgerichts vom 14. April 1998, GZ 1 R 179/98a-78, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Bezirksgerichts Bregenz vom 21. Jänner 1998, GZ 1 C 140/95s-63, abgeändert wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Kosten des Verfahrens erster Instanz

Text

Begründung

Die Streitteile sind türkische Staatsangehörige. Sie schlossen am 9. Juni 1990 vor dem Standesamt Lauterach die Ehe, der bisher die Kinder Metehan, geboren am 3. Juni 1991, und Jahja, geboren am 7. Mai 1993, entsprossen. Der letzte gemeinsame Wohnsitz der Ehegatten befand sich in Lauterach. Die Eheschließung wurde vom Vater des Klägers vermittelt. Streitigkeiten zwischen den Ehegatten begannen nach der Geburt des zweiten Kindes. Nicht feststellbar ist, wer damit „vorzüglich begonnen hat“. Schon mehr als zwei Jahre streiten die Parteien „heftigst“ und „harmonieren in keiner Weise mehr“. Die Beklagte verfluchte den Kläger immer wieder. Fragte der Kläger morgens um das Essen, erhielt er zur Antwort: „Steh auf und mach es selber, du Hund!“ Während der Kläger abends speiste, äußerte die Beklagte: „Das ist Scheiße!“ Beim Verhandlungstermin am 4. April 1997 beschimpfte sie den Kläger als „Hurenschwein“. Auf solches Verhalten reagierte der Kläger selbst mit „Schimpfwörtern“. Seit Zustellung des Ersturteils im ersten Rechtsgang (21. Mai 1997) wurden ihre Streitigkeiten „noch heftiger“. Die Beklagte drohte, der Kläger solle „aufpassen“. Dieser fühlte sich deshalb „in seinem Leben bedroht“. Er verließ wegen des Ehestreits Ende 1997 die Ehewohnung und achtete darauf, daß seine derzeitige Unterkunft „nicht bekannt wird“. Vorher verbrachte er „seine Freizeit, insbesondere Wochenenden,“ infolge der ehelichen Streitigkeiten „außer Haus“. Er holt jetzt an den Wochenenden seine Kinder ab. Die Beklagte hat „nichts dagegen“, versucht jedoch immer, ihn zu provozieren. So hält sie etwa vor der Tür die Schnalle, wenn der Kläger die Wohnung wieder verlassen will. Dann „schubst“ der Kläger seine Ehegattin zur Seite, bemüht sich jedoch, „Ruhe zu bewahren“. Er ist zur Wiederaufnahme der Ehegemeinschaft nicht bereit.

Die Beklagte lebt nach türkischer Sitte, wogegen sich der Kläger den Lebensverhältnissen in Österreich anpaßte. Er will „von den türkischen Sitten und Bräuchen nichts wissen“. Das sorgte für Reibungsflächen zwischen den Ehegatten sowie im Verhältnis des Klägers zu seinen Eltern. Die Beklagte versucht weiterhin, den Kläger zu provozieren. Sie beschimpft ihn „mehr oder weniger dauernd“ und spricht mit ihm in „verächtlicher Weise“. Sie öffnet die Briefe an den Kläger trotz eines ausdrücklichen Verbots. Dabei kann sie die Post an den Kläger als Analphabetin gar nicht lesen, sondern läßt sie sich von ihr nahestehenden Personen vorlesen. Der Kläger steht der Beklagten jetzt „ohne jegliches Interesse“ gegenüber und will die Ehe jedenfalls nicht mehr fortsetzen. Das macht die Beklagte „umso aggressiver“, die einen wesentlichen Grund für ihren weiteren Ehewillen darin sieht, daß sie den Scheidungswunsch des Klägers und den Umstand, daß er sie verließ, „als Erniedrigung empfindet“.

Der Streit der Ehegatten enzündete sich auch an finanziellen Fragen. Nach Ansicht des Klägers kann die Beklagte „mit Geld nicht umgehen“. Er gibt ihr deshalb „kein Geld in die Hand“. Die Beklagte wiederum meint, der Kläger trage „zu wenig zum Unterhalt der Familie“ bei. Dieser verdient 13.848,10 S monatlich zuzüglich Sonderzahlungen, besorgt die Lebensmittel für die Familie und finanziert die erforderlichen Anschaffungen für die Kinder. Er wendet dafür durchschnittlich 5.500 S monatlich auf. Zwecks Tilgung eines Bankkredits, der zur Deckung der Hochzeitskosten sowie zur Finanzierung von Einrichtungsgegenständen und Urlauben aufgenommen wurde, leistet er 5.600 S monatlich. An Prämien für eine Unfallversicherung der Kinder, eine Haushalts- und eine Lebensversicherung bezahlt er 354 S monatlich. Die Miete und die Stromkosten für die Ehewohnung bezahlt sein Vater. Die Beklagte muß ihre persönlichen Bedürfnisse „aus dem Kindergeld (Familiengeld) bestreiten“, das sie direkt bezieht.

Der Kläger begehrte in seiner Protokollarklage vom 26. September 1995 die Ehescheidung aus dem Verschulden der Beklagten, weil diese mit ihm seit Jahren streite. Sie sei Analphabetin, weigere sich, die deutsche Sprache zu erlernen, und einer Arbeit nachzugehen. Sie öffne seine Post trotz eines ausdrücklichen Verbots, was eine schwere Beleidigung darstelle, und provoziere ihn ständig. Sie habe ihn auch schon bedroht und stelle sich ihm in den Weg. Er vernachlässige seine Unterhaltspflichten nicht.

Die Beklagte wendete ein, sich unter keinen Umständen scheiden lassen zu wollen. Sie streite nicht ständig, der Kläger gehe vielmehr ständig außer Haus, kümmere sich nicht um seine Familie, verschweige sein Einkommen und erfülle seine Unterhaltspflichten nicht. Sie habe keine Scheidungsgründe verwirklicht und erhebe gegen das Klagebegehren Widerspruch gemäß § 134 Abs 2 des türkischen Zivilgesetzbuchs (im folgenden tZGB). Wegen ihres Ehewillens und des Wohls der beiden minderjährigen ehelichen Kinder bestehe nach wie vor ein schutzwürdiges Interesse an der Aufrechterhaltung der Ehegemeinschaft.

Das Erstgericht gab dem Scheidungsbegehren - im zweiten Rechtsgang - neuerlich statt. Nach seiner Ansicht ist das Klagebegehren nach türkischem Recht zu beurteilen, weil die Streitteile türkische Staatsangehörige sind. Das türkische Recht sehe keinen Verschuldensausspruch im Scheidungsurteil vor. Es fehle auch an einer § 49 EheG vergleichbaren Rechtsgrundlage für eine umfassende Verschuldensabwägung. Es seien vielmehr nur bestimmte Scheidungsgründe als Verschuldenstatbestände (Art 129 bis 132 tZGB) geregelt. Die Scheidung könne gemäß Art 134 tZGB jedoch auch wegen schwerer Ehezerrüttung ausgesprochen werden. Der Kläger habe sein Begehren auf Art 130 tZGB (schwere Beleidigung) und auf eine unheilbare Ehezerrüttung im Sinne des Art 134 tZGB gestützt. Dessen Beschimpfungen durch die Beklagte verwirklichten den Verschuldenstatbestand gemäß Art 130 tZGB „in reichem Maße“. Sie hätten die Ehegemeinschaft der Streitteile im Sinne des Art 134 Abs 1 tZGB „in ihrem Fundament“ zerrüttet, weshalb dem Kläger deren Fortsetzung nicht mehr zumutbar sei. Ein überwiegendes Zerrüttungsverschulden des Klägers wegen seiner Beschimpfungen der Beklagten als Reaktionshandlungen sei zu verneinen. Demgemäß stehe der Beklagten gegen das Scheidungsbegehren kein „Einspruchsrecht“ gemäß Art 134 Abs 2 tZGB zu, wenngleich das Verhalten des Klägers zur Ehezerrüttung auch „in hohem Maße beigetragen“ habe. Wessen Verhalten jedoch als primäre Zerrüttungsursache anzusehen sei, habe nicht aufgeklärt werden können.

Das Berufungsgericht wies das Scheidungsbegehren ab und sprach aus, daß die ordentliche Revision zulässig sei. Es erwog in rechtlicher Hinsicht, neben der Scheidung wegen Ehezerrüttung gemäß Art 134 Abs 1 tZGB seien in den Art 129 bis 132 tZGB auch Scheidungsgründe geregelt, denen das Verschulden eines Ehegatten zugrundeliege. Es handle sich dabei um absolute Scheidungsgründe. Sie bezögen sich auf Ehebruch, versuchten Mord, Mißhandlung und Ehrenkränkung, Verbrechensbegehung, unehrenhaften Lebenswandel und Trennung. Hier sei Art 130 Abs 1 tZGB maßgeblich. Danach könne jeder Ehegatte wegen eines Anschlags auf sein Leben, wegen Mißhandlungen oder wegen schwerer Beleidigungen durch den anderen Ehegatten auf Scheidung klagen. Beleidigungen müsse ein erhebliches Gewicht zukommen, „um wertungsmäßig Mißhandlungen oder Anschlägen auf das Leben des Partners gleichgesetzt werden zu können“. Die Beklagte habe diesen Scheidungsgrund nicht verwirklicht. Das Erstgericht habe nicht festgestellt, die Beklagte habe den Kläger „grundlos oder aus reiner Boshaftigkeit“ beschimpft. Wer mit den Streitereien begonnen habe, sei offen geblieben. Das Verhalten der Beklagten „anläßlich des Abholens der Kinder zu Besuchszwecken“ sei weder eine Mißhandlung noch eine schwere Beleidigung im Sinne des Art 130 Abs 1 tZGB. „Sonstige, vitalen Interessen des Klägers zuwiderlaufende Eheverfehlungen“ seien der Beklagten nicht vorwerfbar, weshalb der Ehescheidungsklage wegen des Verschuldenstatbestands gemäß Art 130 Abs 1 tZGB kein Erfolg beschieden sein könne. Gemäß Art 134 Abs 1 tZGB sei eine Ehe jedoch auch dann zu scheiden, wenn dem Kläger die Fortsetzung der Ehegemeinschaft wegen deren fundamentalen Zerrüttung nicht mehr zumutbar sei. Weil dem Kläger das überwiegende Verschulden an der Ehezerrüttung vorzuwerfen sei, habe die Beklagte gegen die Scheidungsklage gemäß Art 134 Abs 2 tZGB berechtigt Widerspruch erhoben. Der Kläger habe die Beklagte - wenngleich jeweils nur als Reaktionshandlung - beschimpft, habe sie - nach seiner Parteiaussage - vor Jahren auch geohrfeigt, seine Freizeit - besonders an Wochenenden - außer Haus verbracht, der Beklagten das Haushaltsgeld „entzogen“, ihr überhaupt keinen Unterhalt bezahlt und die Ehewohnung ohne Mitteilung seines Aufenthalts verlassen. Das „gewachsene Desinteresse des Klägers an der Familie“ und der Umstand, daß er die Beklagte mit zwei kleinen Kindern verlassen und sich „einer anderen Lebensweise zugewendet“ habe, wiege daher zusammen mit seinen anderen Eheverfehlungen schwerer als die Eheverfehlungen der Beklagten. Der Widerspruch des beklagten Ehegatten gemäß § 134 Abs 2 tZGB sei nur dann unbeachtlich, wenn er kein schutzwürdiges Interesse an der Aufrechterhaltung der Ehe habe. Dafür seien die Umstände des Einzelfalls bedeutsam, so die Dauer der Ehe, das Alter der Ehegatten, deren Gesundheitszustand und die Wirkung einer allfälligen Scheidung auf gemeinsame Kinder. Nach diesen Gesichtspunkten stelle die Inanspruchnahme des Einspruchsrechts durch die Beklagte auch keinen Rechtsmißbrauch dar. Sie sei 27 Jahre alt, lebe nach türkischen Verhältnissen und sei „angesichts ihrer Sprachprobleme und ihrer schulischen Ausbildung auf besonderen Schutz angewiesen“. Wesentlich sei vor allem auch, daß sie eine Ehescheidung als Erniedrigung empfände. Der Ehe seien überdies zwei noch kleine Kinder entsprossen. Der erstmalige Widerspruch gegen ein Scheidungsbegehren dürfe nach türkischem Recht nur in Ausnahmefällen als rechtsmißbräuchlich angesehen werden. Ein solcher Rechtsmißbrauch sei hier nicht anzunehmen, weshalb der Kläger auf Art 134 Abs 4 tZGB zu verweisen sei. Danach könne jeder Ehegatten nach einer „dreijährigen tatsächlichen Trennung“ die Scheidung verlangen, wenn überdies die rechtskräftige Abweisung einer bereits einmal erhobenen Scheidungsklage schon drei Jahre zurückliege. Dem anderen Ehegatten stehe dann kein Widerspruchsrecht mehr zu. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil es an einer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fehle, „unter welchen Voraussetzungen ein Widerspruch gegen das Scheidungsbegehren nach Art 134 Abs 2 tZGB zulässig“ sei und welche Art von Beschimpfungen den Scheidungsgrund gemäß Art 130 tZGB erst verwirklichten.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist, wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt, zulässig. Sie ist im Rahmen ihres Aufhebungsbegehrens auch berechtigt.

Die Vorinstanzen beurteilten die Voraussetzungen der Ehescheidung gemäß § 20 IPRG zutreffend nach türkischem Recht. Das stimmt mit der Rechtslage nach den türkischen Kollisionsnormen überein (Türk. Kassationshof 22. 9. 1997 und 29. 9. 1997 FamRZ 1998, 1119). Gemäß § 3 IPRG ist fremdes Recht von Amts wegen und wie in seinem urspünglichen Geltungsbereich anzuwenden. Der Mangel einer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zum anzuwendenden ausländischen Sachrecht - hier zum türkischen Recht - begründet allerdings keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO (1 Ob 18/98y; 3 Ob 116/97y = ZfRV 1997, 244 mwN). In diesem Zusammenhang ist - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts - auch der Anteil türkischer Staatsangehöriger an der Gesamtbevölkerung Österreichs nicht von Bedeutung, ist doch der Oberste Gerichtshof nicht dazu berufen, für die Einheitlichkeit oder gar die Fortbildung fremden Rechts Sorge zu tragen. Diese Aufgabe fällt bei Anwendung türkischen Rechts vornehmlich dem Türkischen Kassationshof zu (1 Ob 18/98y).

Aus der gemäß § 3 IPRG gebotenen Bedachtnahme auf die Anwendung fremden Rechts in seinem ursprünglichen Geltungsbereich folgt aber, daß es der Rechtssicherheit widerspräche, würde bei der Entscheidung des Rechtsstreits durch die inländischen Gerichte eine im ursprünglichen Geltungsbereich des maßgeblichen fremden Rechts in Rechtsprechung und Lehre gefestigte Ansicht hintangesetzt (1 Ob 18/98y; ZfRV 1997, 244; ZVR 1992/13, EvBl 1985/172). Dabei kommt es in erster Linie auf die Anwendungspraxis des ausländischen Rechts durch die herrschende (höchstgerichtliche) Rechtsprechung an. Nur wenn dieser Lösungsansatz keine eindeutige Anwort ergibt, ist der herrschenden fremden Lehre zu folgen (SZ 70/45; WBl 1997, 435; ÖBA 1997, 201; ÖBA 1996, 396; SZ 67/147; ZfRV 1987, 68; Schwimann in Rummel aaO Rz 3 zu § 3 IPRG).

Die vom Kläger geltend gemachte Aktenwidrigkeit und Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegen nicht vor, was gemäß § 510 Abs 3 ZPO keiner weiteren Begründung bedarf. Die bereits im Berufungsverfahren gerügten Feststellungsmängel (ON 48 S. 3) betreffend angebliche weitere Beleidigungen des Klägers durch die Beklagte könnten jedoch - je nach den Ergebnissen noch zu erörternder Entscheidungsvoraussetzungen - Bedeutung erlangen.

In seiner Rechtsrüge behauptet der Kläger eine fehlerhafte Anwendung des türkischen Scheidungsrechts. Die Ehrenkränkung als Scheidungsgrund gemäß Art 130 Abs 1 tZGB könne - engegen der Ansicht des Berufungsgerichts - niemals „einem Anschlag auf das Leben des anderen Ehepartners gleichgesetzt werden“. Selbst die schwerste Beleidigung sei mit einem Mordversuch nicht vergleichbar. Die Beleidigung des Klägers durch die Beschimpfungen der Beklagten, die gar nicht schwerer sein könne, rechtfertige daher für sich eine Scheidung aus Verschulden. Der Scheidungsgrund gemäß Art 130 Abs 1 tZGB sei ein absoluter, weshalb es als Scheidungsvoraussetzung nicht mehr einer ehezerrütenden Wirkung der Ehrenkränkung bedürfe. Sei aber die Ehescheidung bereits nach Art 130 Abs 1 tZGB auszusprechen, bleibe kein Raum für eine Anwendung des Art 134 tZGB. Aber selbst wenn die zerrüttete Ehe der Streitteile nach Art 134 tZGB zu scheiden wäre, sei der Widerspruch der Beklagten als Rechtsmißbrauch zu qualifizieren. Dem Kläger könne das Verlassen der Ehewohnung jedenfalls nicht als Zerrüttungsverschulden angelastet werden, weil er nach Erhebung der Scheidungsklage gemäß Art 162 Abs 2 tZGB berechtigt gewesen sei, die eheliche Lebensgemeinschaft aufzuheben.

Gemäß Art 130 Abs 1 tZGB kann jeder Ehegatte unter anderem dann auf Scheidung klagen, wenn ihn der andere Ehegatte mißhandelt oder schwer beleidigt. Eine Mißhandlung ist jedes Verhalten gegen die körperliche Unversehrtheit bzw Gesundheit des Ehegatten (Öztan in Hohloch, Internationales Scheidungs- und Scheidungsfolgenrecht [1998] 6 B Rz 28). Die Ehrenkränkung als vorsätzlicher und gezielter Angriff eines Ehegatten auf die Selbstachtung bzw den Ruf des anderen gilt als eine Mißhandlungsart. Ob die Ehrenkränkung als besondere Mißhandlungsart einen absoluten oder relativen Scheidungsgrund darstellt, ist im türkischen Schrifttum umstritten (Öztan in Hohloch aaO 6 B Rz 31 f mwN). Jedenfalls ist nur eine schwerwiegende Ehrenkränkung ein Scheidungsgrund (Öztan in Hohloch aaO 6 B Rz 31), für deren ehezerrüttende Wirkung, handelte es sich um einen bloß relativen Scheidungsgrund, auch der Bildungsgrad, die Charaktereigenschaften und die Lebensart des beleidigten Ehegatten sowie die im jeweiligen sozialen Umfeld geltenden gesellschaftlichen Vorstellungen von Sitte, Moral, Ehre und Würde ausschlaggebend wären. Diese Vorstellungen unterscheiden sich je nach dem, ob die Ehrenkränkung in der Stadt oder auf dem Land geschieht, sie sind aber auch nach der jeweils betroffenen sozialen Schicht verschieden (Öztan in Hohloch aaO 6 B Rz 30).

Ohne Kenntnis der Praxis türkischer Gerichte - und hier in erster Linie des Kassationshofs - ist nicht verläßlich beurteilbar, wie jene Grundsätze in der Herausbildung realer Fallgruppen umgesetzt wurden. Dabei ist hier für die Klärung der Verwirklichung des Scheidungsgrunds gemäß Art 130 Abs 1 tZGB vor allem maßgeblich,

1) ob die festgestellten verbalen Beleidigungen des Klägers durch die Beklagte - unter Berücksichtigung ihrer unablässigen Wiederholung - in Verbindung mit deren weiterem Verhalten an sich als schwerwiegend gelten,

2) ob eine „schwere Beleidigung“ als Scheidungsgrund voraussetzt, daß sie nicht vom Kläger durch einleitende Eheverfehlungen selbst verursacht wurde,

3) ob die mangelnde Bereitschaft des Klägers, den Willen seiner des Lesens und Schreibens unkundigen, jedoch noch jungen Ehegattin zur Pflege einer traditionell rein türkischen Lebensart im Ausland zu akzeptieren, die Beurteilung reaktiver Ehrenkränkungen als schwerwiegend beeinflussen kann, wenn die Bevorzugung der österreichischen Lebensart durch den Kläger und dessen gerade dadurch mitverursachte Abwendung von der Beklagten in Betracht gezogen wird,

4) ob die Ehrenkränkung nach der aktuellen Rechtsprechung des Türkischen Kassationshofs oder - mangels einer solchen - sonst maßgeblicher türkischer Gerichte einen absoluten oder bloß relativen Scheidungsgrund darstellt und

5) ob, falls die Ehrenkränkung als bloß relativer Scheidungsgrund zu qualifizieren ist, die festgestellten unablässigen verbalen Beleidigungen des Klägers durch die Beklagte in Verbindung mit deren weiterem Verhalten - auch unter Berücksichtigung der Reaktion des Klägers, des Kulturkreises, dem die Streitteile angehören, ihrer sozialen Herkunft und ihren tatsächlichen Lebensumständen im Ausland - als objektiv ehezerrüttend zu beurteilen sind.

Der Kläger stützt sein Scheidungsbegehren primär auf Art 130 Abs 1 tZGB. Dabei wird die Beantwortung der oben zu 2) formulierten Frage klären, wessen Prozeßstandpunkt die Tatsache zur Last fällt, daß ungeklärt blieb, welcher der Ehegatten die primäre Streitursache setzte, hat doch der Kläger „alle materiellen Tatsachen“, die sein Scheidungsbegehren stützen, vorzutragen und auch zu beweisen (Türk. Kassationshof 25. 9. 1997 FamRZ 1998, 1117).

Nur dann, wenn die Beklagte den Scheidungsgrund der schwerwiegenden Ehrenkränkung des Klägers nicht verwirklicht hätte, sind die Feststellungen auch nach Art 134 Abs 1 und 2 tZGB zu beurteilen. Dabei ist zu beachten, daß Art 134 Abs 2 tZGB nach Ansicht des Türkischen Kassationshofs eine Verschuldensabwägung erfordert, weil der Ehegatte, der die Ehezerrüttung allein verschuldete, nicht erfolgversprechend auf Scheidung klagen kann. Das Scheidungsbegehren läßt sich vielmehr nur dann durchsetzen, wenn dem klagenden Ehegatten entweder gar kein oder nur ein geringeres Verschulden an einer unheilbaren Ehezerrüttung anzulasten ist (FamRZ 1993, 1208 [Rumpf]; idS auch OLG München FamRZ 1995, 935; OLG Hamm FamRZ 1996, 1148 und FamRZ 1995, 934 [je unter Berufung auf die vorher zitierte Entscheidung des Türk. Kassationshofs]; OLG Köln FamRZ 1996, 1149 [unter Berufung auf die eingangs zitierte Glosse Rumpfs]). Die zur Scheidung aus Verschulden gemäß Art 130 Abs 1 tZGB entsprechend den einleitenden Ausführungen maßgebliche, noch zu erhebende Rechtslage wird also auch für die Beurteilung der Berechtigung des Scheidungsbegehrens gemäß Art 134 Abs 1 und 2 tZGB von Bedeutung sein.

Eine tiefgreifende Ehezerrüttung liegt dann vor, wenn der Konflikt der Ehegatten - nach objektiven Gesichtspunkten - eine dauerhafte und schwerwiegende Störung des Eheverhältnisses verursachte und dieser Zustand für zumindest einen Ehegatten subjektiv unerträglich wurde (Rumpf, FamRZ 1993, 1209 in Besprechung der oben zitierten Entscheidung des Türk. Kassationshofs; OLG Köln FamRZ 1996, 1149 [unter Berufung auf die zitierte Glosse Rumpfs]).

Die Beachtlichkeit des Widerspruchs der Beklagten gemäß Art 134 Abs 2 tZGB hat das überwiegende Verschulden des Klägers an der Ehezerrüttung zur Voraussetzung. Dessen Auszug aus der ehelichen Wohnung während des Scheidungsprozesses hat allerdings bei der Verschuldensabwägung außer Betracht zu bleiben, weil der Kläger soweit, wie in der Revision zutreffend dargelegt wird, nur von einem Recht gemäß § 162 Abs 2 tZGB Gebrauch machte (Öztan in Hohloch aaO 6 B Rz 108).

Eine mißbräuchliche und daher unbeachtliche Inanspruchnahme des Widerspruchsrechts durch die Beklagte wäre nur dann anzunehmen, wenn für die Aufrechterhaltung der Ehe weder ein schutzwürdiges Interesse der Beklagten noch ein solches der gemeinsamen Kinder der Ehegatten spräche (Türk. Kassationshof 5. 6. 1997 FamRZ 1998, 1116 [Rumpf]; Öztan in Hohloch aaO 6 B Rz 88). Drei Jahre nach Abweisung einer Scheidungsklage könnte die Beklagte die Ehescheidung gemäß Art 134 Abs 4 tZGB jedenfalls nicht mehr verhindern, wenn seither die Ehegemeinschaft nicht wieder augenommen worden wäre (Türk. Kassationshof 25. 9. 1997 FamRZ 1998, 1117 [Rumpf] - ausführlich zu diesem Scheidungsgrund]). Daß nach türkischem Recht in den Spruch eines Scheidungsurteils kein Ausspruch über das Verschulden des Klägers an der Ehezerrüttung aufzunehmen ist, wurde vom Obersten Gerichtshof schon im einzelnen dargelegt (6 Ob 581/95 = EFSlg 78.991; dem folgend 4 Ob 156/97p).

Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren die Anwendungsvoraussetzungen des Art 130 Abs 1 tZGB im hier bedeutsamen Umfang nach den einleitenden Ausführungen gemäß § 4 Abs 1 IPRG von Amts wegen zu ermitteln haben. Das ist zur Gewährleistung der Rechtssicherheit im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO unerläßlich. Erst dann wird eine abschließende rechtliche Beurteilung des Scheidungsbegehrens des Klägers möglich sein.

Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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