OGH 1Ob87/98w

OGH1Ob87/98w30.6.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr.Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr.Schiemer, Dr.Gerstenecker, Dr.Rohrer und Dr.Zechner als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A*****aktiengesellschaft, *****, vertreten durch Mag.Harald Schuh und Mag.Christian Atzwanger, Rechtsanwälte in Linz, wider die beklagte Partei Christian M*****, vertreten durch Dr.Frischenschlager & Dr.Gallistl, Rechtsanwälte in Linz, wegen 280.612,02 S sA infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgerichts vom 14.Jänner 1998, GZ 1 R 260/97d-15, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Linz vom 5.Juli 1997, GZ 1 C 242/96w-8, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben und die angefochtene Entscheidung dahin abgeändert, daß das Ersturteil wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 49.845,80 S (darin 6.099,30 Umsatzsteuer und 13.250 S Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu bezahlen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die klagende Partei gewährte einem Bruder des Beklagten am 2.Dezember 1994 einen Kredit von 65.000 S, der am 4.Jänner 1995 auf 290.000 S ausgeweitet wurde. Seine Rückzahlung sollte nach den Vereinbarungen in 84 Monatsraten von je 5.000 S, beginnend ab 1.Februar 1995, erfolgen. An Kreditzinsen wurden 11,5 % p.a., an Verzugszinsen 3 % p.a. vereinbart. Die Zinsenbeträge sind jeweils zum Quartalsende zu kapitalisieren. Die gesamte Kreditbelastung hätte inklusive Zinsen 416.071 S betragen. Der Beklagte und ein weiterer Bruder des Kreditnehmers haften für die Kredittilgung als Bürgen und Zahler. Der Kreditnehmer zahlte vorerst nur "schleppend" und stellte die "Ratenzahlungen" schließlich gänzlich ein, was zum Terminsverlust führte. Daraufhin stellte die klagende Partei den gesamten aushaftenden Kreditbetrag am 25.Juli 1996 zum 8.August 1996 vertragsgemäß fällig und forderte den Hauptschuldner sowie die Bürgen und Zahler zur Leistung auf. Zahlungen unterblieben, sodaß zum Stichtag 17.September 1996 280.612,02 S (einschließlich Zinsen) unberichtigt aushafteten. Der Hauptschuldner sowie einer der Bürgen und Zahler wurden mittels Versäumungsurteils vom 4.März 1997 rechtskräftig schuldig erkannt, 280.612,02 S sA zu bezahlen.

Die klagende Partei beurteilte die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Kreditnehmers sowie der Bürgen und Zahler aufgrund einer unterfertigten "Selbstauskunft" vom 4.Jänner 1995, in der letztere die Richtigkeit und Vollständigkeit ihrer Angaben bestätigten. Danach verfügte der Kreditnehmer (geboren am 27.September 1970) als Lagerarbeiter über ein monatliches Nettoeinkommen von 21.000 S. Er war ledig und hatte für ein Kind zu sorgen. Einer seiner Brüder (geboren am 19.April 1975) hatte als Bauschlosser ein monatliches Nettoeinkommen von 13.000 S. Er war ledig und hatte keine Sorgepflichten. Der unverheiratete und kinderlose Beklagte (geboren am 26.Februar 1973) verdiente als Lagerarbeiter 12.000 S monatlich netto. Diese "Selbstauskunft" läßt eine Berücksichtigung von Sonderzahlungen nicht erkennen.

Der Kreditsachbearbeiter der klagenden Partei verfaßte am 4.Jänner 1995 einen Aktenvermerk, der unter anderem folgenden Wortlaut enthält:

"1.) ... (Kreditnehmer) ...: Herrn ... bleiben nach Abzug der Fixkosten (incl. Kreditrate) 5.000 S 'zum Leben'.

2.) ... (Bruder des Kreditnehmers) ...: Herr ... wohnt bei der Mutter, die auch für die Fixkosten wie Miete, Strom, aufkommt.

3.) ... (Beklagter) ...: Herr ... wohnt bei seiner Lebensgefährtin. Es werden die monatlichen Fixkosten geteilt.

Die beiden Bürgen wurden über ihre Pflichten informiert.

KSV-Mitteilungen:

... (Kreditnehmer) ...: 84.000 S auf 83 Mo 1/95 - Bürge!

... (Bruder des Kreditnehmers) ...: Ablehnung 25.10.1994.

... (Beklagter) ...: 105.000 S auf 60 Mo 8/92.

Sicherheiten: Verpfändung der Gehaltsansprüche in stiller Form. Bürge. Vinkulierung einer Lebensversicherung lt.separatem Vinkulierungsantrag."

Der Beklagte hatte seine eigene Kreditbelastung von 105.000 S ab August 1992 in 60 Monatsraten von etwa 2.500 S zu tilgen. Seine monatlichen Wohnungskosten betragen ungefähr 3.700 S.

Die klagende Partei begehrte unter Berufung auf die Stellung des Beklagten als Bürgen und Zahlers den Zuspruch von 280.612,02 S sA. Sie brachte vor, daß der Einwand der Sittenwidrigkeit der Bürgschaft unzutreffend sei. Der Beklagte habe "falsche Angaben" vor Vertragsabschluß zugestanden und ein um 500 S höheres monatliches Nettoeinkommen als im Prozeß und "sehr geringe" monatliche "Lebenshaltungskosten" von 2.500 S behauptet. Danach sei anzunehmen gewesen, er werde "seine eigenen Verbindlichkeiten spätestens" bis Juni 1997 tilgen. Nach dem Bezug des Hauptschuldners von 21.000 S monatlich netto sei mit termingerechten Kreditrückzahlungen zu rechnen gewesen. Der Beklagte sei über seine Bürgschaftsverpflichtung "umfassend" belehrt worden.

Der Beklagte wendete ein, seine Bürgschaft sei sittenwidrig. Der Kredit habe der Finanzierung des Kaufs von Kraftfahrzeugen für seine Brüder gedient. Der Hauptschuldner habe ein Moped, der andere Bürge einen PKW erwerben wollen. Der Hauptschuldner sei deshalb als Kreditnehmer aufgetreten, weil er 25.000 S monatlich netto verdient habe. Dagegen habe jener Bürge, dem die Kreditvaluta zum Erwerb eines PKWs überwiegend zugekommen sei, lediglich 12.000 S und er selbst bloß 11.500 S monatlich netto verdient. Die eigene Kreditbelastung und die darauf entfallenden monatlichen Tilgungsraten von 2.500 S sowie seine Wohnungskosten von 3.500 S monatlich habe er gegenüber der klagenden Partei vor Vertragsabschluß offengelegt und die Bürgschaft nur im Interesse seiner Brüder, wegen seiner "gefühlsmäßigen Bindung an den Hauptschuldner" und aus wirtschaftlicher Unerfahrenheit übernommen, ohne aus der Kreditaufnahme selbst einen wirtschaftlichen Vorteil gezogen zu haben. Der Sachbearbeiter der klagenden Partei habe die Kreditgewährung unmißverständlich von der Beibringung eines Bürgen abhängig gemacht. Die klagende Partei hätte aus den offengelegten Einkommens- und Vermögensverhältnissen erkennen können und müssen, daß die übernommene Haftung seine Finanzierungsmöglichkeiten bei weitem übersteige. Sie habe daher mit einer vertragsgemäßen Anspruchserfüllung durch ihn nicht rechnen dürfen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt und legte dar, daß die Voraussetzungen für die Sittenwidrigkeit einer Bürgschaft nach der Entscheidung 1 Ob 544/95 nicht erfüllt seien. Die klagende Partei habe "die Grenzen zulässiger Rechtsausübung" nicht überschritten. Es fehle schon an einem groben Mißverhältnis zwischen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Beklagten und der Höhe der Kreditverbindlichkeit. Es mangle ferner an der Erfüllung der subjektiven Voraussetzungen einer sittenwidrigen Bürgschaft. Der Beklagte, der vorher schon selbst Kredit erhalten habe, sei geschäftlich nicht unerfahren. Eine Verharmlosung der Tragweite und des Risikos der Bürgenhaftung bzw eine Überrumpelung durch den Sachbearbeiter der klagenden Partei sei nicht einmal behauptet worden. Der Beklagte habe seinen Brüdern den Erwerb von Kraftfahrzeugen ermöglichen wollen. Er habe daher die Bürgschaft wohl "ohne wesentliches Eigeninteresse" an der Kreditgewährung übernommen, habe sich jedoch nicht in einer "seelischen Zwangslage" befunden. Selbst nach seinen eigenen Prozeßbehauptungen sei kein unerträgliches "Ungleichgewicht der beiderseitigen Interessenlagen" erkennbar.

Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren ab und sprach aus, daß die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Es erwog in rechtlicher Hinsicht, die Sittenwidrigkeit einer Bürgschaft erfordere in abstrahierender Zusammenfassung der in der Entscheidung 1 Ob 544/95 ausgesprochenen Beurteilungskriterien die "inhaltliche Mißbilligung des Bürgschaftsvertrags", die "Mißbilligung der Umstände seine Zustandekommens in Form verdünnter Entscheidungsfreiheit" sowie die "Kenntnis bzw fahrlässige Unkenntnis dieser beiden Faktoren durch den Kreditgeber". Maßgeblich seien daher die Übernahme einer Haftung, die im groben Mißverhältnis zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Bürgen stehe, das Abdingen bürgschaftsrechtlicher Schutzvorschriften, fehlende Haftungsbegrenzungen, eine hoffnungslose Überschuldung des Hauptschuldners und ein mangelndes wirtschaftliches Eigeninteresse des Bürgen. Die Kreditlast, für die der Beklagte als Bürge und Zahler einzustehen hätte, betrage samt Zinsen 416.071 S. Demgegenüber verfüge der Beklagte "zur Bestreitung des Lebensunterhalts einschließlich des Wohnungsaufwands" nach Abzug der Tilgungsraten für seine eigene Kreditverbindlichkeit nur über 9.500 S monatlich. Da der Hauptschuldner nach den Aufzeichnungen der klagenden Partei nur 5.000 S monatlich "zum Leben" habe, sei die Inanspruchnahme des Beklagten "vorweg ... äußerst wahrscheinlich" gewesen. Wenngleich eine seelische Zwangslage des Beklagten nicht bestanden haben möge, sei diesem - nach den Umständen des Einzelfalls - doch "zumindest eine verdünnte Entscheidungsfreiheit" in Form einer "partiellen Einschränkung seiner Willensfreiheit" zuzubilligen, weshalb seine Bürgschaftserklärung, die nicht der Verfolgung eigenwirtschaftlicher Interessen gedient habe, - "auch und gerade im Lichte der jüngsten Novelle zum Konsumentenschutzgesetz, BGBl 1997/6 (§§ 25b ff KSchG)" - sittenwidrig sei.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision ist, wie sich aus den nachstehenden Ausführungen ergeben wird, zulässig; sie ist auch berechtigt.

Vorerst ist hervorzuheben, daß die §§ 25b ff KSchG idF BGBl I 1997/6 hier noch nicht maßgeblich sind, weil diese Regelungen gemäß § 41a Abs 4 Z 2 KSchG nicht auf Verträge anzuwenden sind, die - wie der vorliegende - vor dem 1.Jänner 1997 geschlossen wurden.

Der Oberste Gerichtshof befaßte sich mit der Frage der Sittenwidrigkeit riskanter Bürgschaften erstmals in der Entscheidung des erkennenden Senats 1 Ob 544/95 (= SZ 68/64 = JBl 1995, 651 [Mader] = ÖBA 1995, 804 [Graf, ÖBA, 1995, 776]). Danach sind die Wertungen der deutschen Rechtsprechung bei der Prüfung der Sittenwidrigkeit rechtsgeschäftlicher Haftungserklärungen volljähriger Familienangehöriger "ohne jedes oder jedenfalls ohne zulängliches Einkommen und Vermögen" auch für den österreichischen Rechtsbereich von Bedeutung, weil das Prinzip der Privatautonomie, das jedermann auch risikoreiche, nur unter besonders günstigen Bedingungen erfüllbare Geschäfte erlaubt, durch die Bestimmung des § 879 ABGB begrenzt wird. Erst die Verbindung der strukturell ungleich größeren Verhandlungsstärke der Gläubigerbank gegenüber einem dem Hauptschuldner gutstehenden Angehörigen, dessen Verpflichtung seine gegenwärtigen und in absehbarer Zukunft zu erwartenden Einkommens- und Vermögensverhältnisse bei weitem übersteigt, mit weiteren, in der Person des gutstehenden Angehörigen liegenden, seine Entscheidungsfreiheit weitgehend beeinträchtigenden und der Gläubigerbank zurechenbaren Umständen kann in sinngemäßer Anwendung der Grundsätze des Wucherverbots - in Ausnahmefällen - die Sittenwidrigkeit und damit die Nichtigkeit des Verpflichtungsgeschäfts wegen Vorliegens eines Ausbeutungstatbestands begründen. Dabei sind demonstrativ folgende, für die Sittenwidrigkeitsfrage beachtliche Gesichtspunkte, deren Gesamtwürdigung auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abzustellen ist, maßgeblich:

Grobes Mißverhältnis zwischen der Leistungsfähigkeit des Bürgen und seiner Mithaftung, deren konkrete vertragliche Ausgestaltung, hoffnungslose Überschuldung des Hauptschuldners, Verharmlosung des Risikos oder der Tragweite der Verpflichtung durch einen Bankmitarbeiter, Überrumpelung des Angehörigen durch die Bank, Ausnutzung seiner seelischen Zwangslage infolge seiner gefühlsmäßigen Bindung an den Kreditnehmer oder seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit von diesem, geschäftliche Unerfahrenheit des Bürgen, Fehlen dessen wesentlichen Eigeninteresses am Zustandekommen des Vertrags, Sinnlosigkeit der Bürgschaft für die Bank, Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis der Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit des Haftenden auf seiten des Kreditgebers.

Die Lehre stimmt dieser Entscheidung im wesentlichen zu (P.Bydlinski, Die Sittenwidrigkeit von Haftungsverpflichtungen, ZIK 1995, 135 [136 ff]; Graf, Verbesserter Schutz vor riskanten Bürgschaften, ÖBA 1995, 776; Mader, JBl 1995, 655 f [Glosse]; Rabl, Sittenwidrige Bürgschaften vermögensschwacher Angehöriger, ecolex 1998, 8; Rehbein, Bürgschaften mittelloser Angehöriger, ÖBA 1996, 25 [33]), der Rechtsprechung dient sie seither als Richtschnur zur Beurteilung der jeweiligen Einzelfälle (JBl 1998, 36; ecolex 1998, 396; 1 Ob 240/97v; 3 Ob 214/97k; ÖBA 1997, 1027; 9 Ob 48/97t). Im Schrifttum wird jedoch bemängelt, daß die maßgeblichen Umstände der Inhaltskontrolle in dieser Grundsatzentscheidung keine "weitere Strukturierung und Systematisierung" erfahren hätten (Rehbein, ÖBA 1996, 33), "Manches ...etwas durcheinander" gehe, die "Pointierung der Sittenwidrigkeit ... nicht gut gelungen" und die Mithaftung vermögensloser Angehöriger nicht sinnlos sei, weil der Haftende künftig Vermögen erlangen könnte, die Interzession Vermögensverschiebungen zu Lasten des Gläubigers von vornherein unterbinde und der Mithaftende seinen ganzen Einfluß für die vertragsgemäße Kreditrückzahlung geltend machen werde. Ferner sei allein die "Sinnlosigkeit (einer Gutstehung durch Vermögenslose) ... kein Nichtigkeitsgrund" (P.Bydlinski, ZIK 1995, 137 f). Die wesentlichen Beurteilungsgrundsätze seien zwar aufgezählt, es fehle jedoch eine "konkrete Anwendung ... auf die Vermögenssituation des betroffenen Interzedenten" (Rabl, ecolex 1998, 9), sodaß das Urteil insgesamt daran kranke, "zu wenig präzise herausgearbeitet" zu haben, "worin denn nun eigentlich die Sittenwidrigkeitskontrolle von Bürgschaftsverträgen" liege (Graf, ÖBA 1995, 777).

Daß bloß die "Sinnlosigkeit" einer Interzession deren Nichtigkeit begründen könnte, ist der Entscheidung 1 Ob 544/95 nicht zu entnehmen. Statt dessen wird betont, daß eine für die Gläubigerbank bei realistischer Betrachtungsweise sinnlose Gutstehung nur in Verbindung mit bestimmten, in der Person des Interzedenten liegenden subjektiven Umständen als Sittenwidrigkeitselement von Bedeutung ist, es aber im allgemeinen "grundsätzlich jedermann unbenommen bleiben muß, auch risikoreiche Geschäfte abzuschließen und sich zu Leistungen zu verpflichten, die er nur unter besonders günstigen Bedingungen erbringen kann". Der Gesichtspunkt, die Mithaftung eines Familienangehörigen sei geeignet, eine (allenfalls sonst beabsichtigte) Vermögensverschiebung zu Lasten des Kreditgebers von vornherein zu verhindern, trifft zwar zu, das kann jedoch der Bejahung einer Sittwidrigkeit dann nicht entgegenstehen, wenn die Umstände des Einzelfalls - nach den Kriterien der Entscheidung 1 Ob 544/95 - eine solche rechtliche Beurteilung tragen. Das steht im Einklang mit der Rechtsprechung des deutschen Bundesgerichtshofs (BGHZ 120, 272; NJW 1991, 923 [Grün]; dazu Odersky, Ruinöse Bürgschaften - Rechtsethik und Zivilrecht, ZGR 1998, 169 [176 f]). Dagegen ist die ungewisse Aussicht, daß der Mithaftende durch eine glückliche Fügung seiner Lebensumstände künftig Vermögen bzw ein höheres Einkommen erlangen könnte, für das auf wirtschaftlichen Erwägungen beruhende Geschäftsinteresse eines Kreditgebers, das sich nur an den im großen und ganzen vorhersehbaren und daher kalkulierbaren Entwicklungen orientieren wird, überhaupt nicht von Belang (Odersky, ZGR 1998, 176). Für das Ergebnis der Inhaltskontrolle unwesentlich ist aber auch die Möglichkeit einer Einflußnahme des Mithaftenden auf den Hauptschuldner, damit letzterer seinen Verbindlichkeiten nachkomme, weil ein solches Gläubigerinteresse die inhaltliche Mißbilligung eines Rechtsgeschäfts und seines Zustandekommens, die eine so tiefgreifende Benachteilung der Rechtsposition des Interzedenten voraussetzt, wie sie in der Entscheidung 1 Ob 544/95 erörtert wurde, nicht verdrängen kann. Unzutreffend ist überdies der Hinweis, der erkennende Senat habe die Anwendung der dargestellten Grundsätze auf die Vermögenssituation "des betroffenen Interzedenten" unterlassen, wurde doch der Revision des dort Beklagten deshalb nicht stattgegeben, weil einer Garantieverpflichtung von höchstens 5 Mio S ein monatliches Nettoeinkommen des Interzedenten von 20.000 S und ein Liegenschaftsvermögen im Gesamtwert von 10 Mio S gegenüberstanden. Damit fehlte es aber schon an einem krassen Mißverhältnis zwischen dem Umfang der Garantieverpflichtung und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Garanten.

Nicht beizutreten ist ferner der Kritik, die Entscheidung 1 Ob 544/95 lasse mangels "Strukturierung und Systematisierung" letztlich nicht erkennen, "worin denn nun eigentlich die Sittenwidrigkeitskontrolle von Bürgschaftsverträgen" liege, gelingt es doch Graf (ÖBA 1995, 776 [778 ff]) - nach dessen Diktion - selbst, "in die Menge der vom OGH genannten Kriterien eine gewisse Ordnung" zu bringen, auf deren Grundlage zu abstrahieren und systematisch zusammenzufassen. Danach setzt ein Sittenwidrigkeitsurteil die inhaltliche Mißbilligung des Interzessionsvertrags, die Mißbilligung der Umstände seines Zustandekommens infolge verdünnter Entscheidungsfreiheit des Interzedenten und die Kenntnis bzw fahrlässige Unkenntnis dieser Faktoren durch den Kreditgeber voraus.

Dabei wird von Graf (ÖBA 1995, 780 f) zutreffend erkannt, daß die Erfüllung aller drei Voraussetzungen erforderlich ist, um eine in manchen Grundsätzen dem Wucherverbot nachgebildete Sittenwidrigkeit bejahen zu können. Das eine weitere Inhaltskontrolle auslösende Element ist immer ein krasses Mißverhältnis des Haftungsumfangs und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Interzedenten (JBl 1998, 36). Steht ein solches Mißverhältnis einmal fest, bilden die für die Inhaltskontrolle sonst rechtserheblichen, in der Entscheidung 1 Ob 544/95 demonstrativ aufgezählten und von Graf abstrahierend gruppierten Gesichtspunkte ein bewegliches Beurteilungssystem, dessen Anwendung ein Sittenwidrigkeitsurteil dann erlaubt, wenn entsprechende Indikatoren im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses in allen drei Systemelementen verwirklicht waren und diesen in der Gesamtschau - je nach den Umständen des Einzelfalls - erhebliches Gewicht beizumessen ist.

Rabl (ecolex 1998, 9 f) widerspricht im Ergebnis einer Anlehnung an den Wuchertatbestand und führt dessen mangelnde Flexibilität für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit von Interzessionsgeschäften ins Treffen. Dabei wird zu wenig beachtet, daß der erkennende Senat in der Ausgangsentscheidung ohnehin nur von einer "sinngemäßen Anwendung der Grundsätze des Wucherverbots wegen Vorliegens eines Ausbeutungstatbestands" spricht und dort gerade das betont wird, was Rabl (aaO) in der auf deren dogmatischen Grundlage ergangenen Entscheidung 2 Ob 156/97y (= JBl 1998, 36) offenbar vermißt, nämlich das Erfordernis einer "Gesamtwürdigung aller objektiven und subjektiven Umstände" als Voraussetzung eines Sittenwidrigkeitsurteils. Der Oberste Gerichtshof legte sich damit gerade nicht "auf einen Teilaspekt der durch die Rechtsordnung vorgesehenen Inhaltskontrolle von Verträgen" (Rabl aaO) fest, weil er nicht einer schematischen Anwendung des Wuchertatbestands das Wort redet, sondern mit den erörterten Beurteilungskriterien durchaus "auf einen Wandel der Wertungsprinzipien adäquat zu reagieren" (Rabl aaO) vermag. Rabl (aaO) betont jedoch zu Recht, daß die Sittenwidrigkeit von Interzessionsgeschäften einer näheren und konkreten Abgrenzung durch das "Herausbilden von einschlägigen Fallgruppen" bedarf. Hier werfen die maßgeblichen Tatumstände tatsächlich eine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO auf und geben Anlaß zur Weiterentwicklung der vom erkennenden Senat eingeleiteten Rechtsprechung.

Das Gericht zweiter Instanz folgte der Berechnung des Beklagten, wonach diesem unter Abzug der Leistungspflichten aufgrund des Eigenkredits, der Bürgschaft und der Wohnungskosten bloß 800 S monatlich zur Deckung seines sonstigen Lebensaufwands übrig blieben. Den Feststellungen ist nicht zu entnehmen, ob das monatliche Nettoeinkommen des Beklagten von 12.000 S bereits unter Anrechnung des 13. und 14.Monatsbezugs errechnet wurde. Wäre das zu verneinen, hätte der Beklagten unter Zugrundelegung seiner eigenen Berechnung bereits 2.800 S monatlich zur freien Verfügung. Die Krediteinräumung erfolgte im Dezember 1992. Die Eigenkreditbelastung des Beklagten bezieht sich auf 60 Monatsraten zu je 2.500 S ab August 1992. Die klagende Partei durfte daher mit einem Wegfall dieser Beschränkung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Beklagten während der Kreditlaufzeit von 84 Monaten rechnen. Das monatliche Nettoeinkommen des Hauptschuldners von 5.000 S nach Abzug fixer Leistungspflichten inklusive der Kreditrückzahlung und die Tatsache eines weiteren Bürgen, der weder Sorgepflichten noch Wohnungskosten und ein monatliches Nettoeinkommen von 13.000 S hatte, legten keine baldige Inanspruchnahme der Mithaftung des Beklagten nahe. Nach diesen Prämissen läßt auch der Gesamtverpflichtungsumfang von 416.071 S noch nicht jenes krasse Mißverhältnis zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Hauptschuldners und der Interzedenten erkennen, das eine Kreditrückzahlung erst in ferner Zukunft erwarten ließe. Die Gläubigerbank mußte daher - entsprechend den Ausführungen in der Entscheidung 1 Ob 544/95 - nicht am Sinn einer Mithaftung des Beklagten zweifeln. Das gälte umso mehr dann, wenn auch zu den festgestellten Einkommen des Hauptschuldners und des weiteren Bürgen noch der 13. und der 14.Monatsbezug zu addieren wären.

Die klagende Partei behauptete im Verfahren erster Instanz, die Angaben des Beklagten zu seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit seien tatsachenwidrig gewesen. Träfe das zu, könnte der Beklagten damit nur bezweckt haben, als Bürge - trotz der festgestellten Belehrung über Rechtspflichten - akzeptiert zu werden, um die Krediteinräumung an seinen Bruder unter allen Umständen zu ermöglichen. Dafür spricht sein Prozeßvorbringen, als Kreditnehmer sei derjenige aufgetreten, der über das höchste monatliche Nettoeinkommen verfügt habe, obgleich die Kreditvaluta überwiegend dem anderen Bürgen zur Anschaffung eines PKWs zufließen habe sollen. Die gegenteilige Behauptung des Beklagten in der Revisionsbeantwortung, er sei im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch davon ausgegangen, den Kreditbetrag werde nur der Hauptschuldner verwenden, ist als Neuerung unbeachtlich. Anhaltspunkte für eine wirtschaftliche Unerfahrenheit des Beklagten im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses sind den Feststellungen, wie im hier erörterten Zusammenhang hervorzuheben ist, ebenfalls nicht zu entnehmen.

Die nach den bisherigen Erörterungen unaufgeklärt gebliebenen Tatsachen stehen einer Sachentscheidung jedoch auch aus folgenden Gründen nicht entgegen:

Die Rechtsausführungen der Entscheidung 1 Ob 544/95 beziehen sich allgemein auf Interzessionsgeschäfte von Familienangehörigen. Auf deren Grundlage war konkret die Übernahme einer Garantie durch den Sohn der Hauptschuldnerin zu beurteilen, der von dieser beruflich abhängig war. Jene Grundsätze, die im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern einerseits und Lebenspartnern - gleichviel, ob als Ehegatten oder Lebensgefährten - andererseits gelten, lassen sich nicht ohne weiteres auf die Beziehungen erwachsener Geschwister übertragen. Wohnen solche Geschwister - wie hier - räumlich getrennt in voneinander unabhängigen familiären und beruflichen Lebensbereichen, wird eine solche Gestaltung der Lebensumstände gewöhnlich von einer Lockerung persönlicher Kontakte und emotionaler Bindungen begleitet. Deshalb fallen erwachsenen Geschwistern rationale wirtschaftliche Entscheidungen viel leichter als Lebenspartnern, aber auch Kindern, die sich dem Einflußbereich ihrer Eltern noch nicht durch eine Verselbständigung ihrer familiären und beruflichen Existenz entzogen haben. In derartigen Fällen mangelt es demzufolge an einer beruflichen Abhängigkeit des Interzedenten vom Kreditnehmer und regelmäßig auch an einer solchen engen gefühlsmäßigen Bindung an letzteren, die erst die zur Verdünnung der Entscheidungsfreiheit führende seelische Zwangslage schaffen kann. Träfe das einmal nicht zu, hätte der Interzedent jene besonderen Umstände, die trotz der Verselbständigung seiner familiären und beruflichen Lebensbereiche nach wie vor eine Situation verdünnter Entscheidungsfreiheit verständlich machen könnten, zu behaupten und zu beweisen. Dieser Ansatz ist auch für die Rechtsprechung des deutschen Bundesgerichtshofs bestimmend (ZIP 1998, 196). Der Beklagte erstattete jedoch kein solches Prozeßvorbringen. Hier widerlegen im übrigen bereits die maßgeblichen Feststellungen eine seelische Zwangslage. Allein im Verlangen der Gläubigerbank, einen Kredit nur gegen Übernahme von Bürgschaften zu gewähren, liegt noch keine zu mißbilligende Einflußnahme (BGH ZIP 1997, 409; BGH WM 1996, 519; Odersky, ZGR 1998, 175). Eine Verdünnung der Entscheidungsfreiheit des Beklagten kann sich auch nicht aus dem Verwendungszweck des Kredits ergeben haben. Die Anschaffung von Kraftfahrzeugen ist meist keine existentielle Frage. Gewöhnlich läßt sich auch ohne solche leben, steht doch ein dichtes öffentliches Verkehrsnetz zur Verfügung. Daß hier aus besonderen Gründen Gegenteiliges anzunehmen wäre, wurde nicht behauptet. Der Beklagte wurde über die Rechtspflichten eines Bürgen aufgeklärt. Von einer Verharmlosung des Risikos seiner Mithaftung durch einen Bankmitarbeiter oder gar einer Überrumpelung kann nach dem Sachverhalt keine Rede sein. Die Brüder schoben vielmehr - nach dem so zu verstehenden Prozeßvorbringen des Beklagten - jenen von ihnen mit dem höchsten Monatseinkommen als Kreditnehmer vor, obgleich diesem nur der geringere Teil des Kreditbetrags zufließen sollte, um die Kreditgewährung keinesfalls zu gefährden. Ein solches Verhalten ist kein Indiz für geschäftliche Unerfahrenheit, sondern zeugt von einem im Interesse der angestrebten Zweckerfüllung berechnenden und abwägenden wirtschaftlichen Verhalten.

Daraus ergibt sich zusammenfassend, daß der Beklagte an seiner Verpflichtung als Bürge und Zahler festzuhalten ist, weil er im Rahmen seiner Vertragsfreiheit ein risikoreiches Rechtsgeschäft abschloß, das ihm zwar persönlich keinen wirtschaftlichen Vorteil verschaffte, jedoch wegen der erörterten Gründe nicht sittenwidrig ist.

Erstmals in der Revisionsbeantwortung erblickt der Beklagte einen tauglichen Klageabweisungsgrund in der Bestimmung des § 1374 ABGB. Diese Regelung bezieht sich jedoch auf die Eignung einer Person als Kautionsbürgen für einen aus materiellrechtlichen Gründen zur Sicherstellung Verpflichteten (Mader in Schwimann, ABGB2 Rz 4 zu §§ 1373, 1374). Unter welchen Voraussetzungen ein Sicherstellungsberechtigter einen Kautionsbürgen zu akzeptieren hat, betrifft andere Rechtsfragen als die Sittenwidrigkeit einer freiwilligen Interzession zur Besicherung eines Kredits.

Der Revision ist daher Folge zu geben und das Ersturteil, das dem Klagebegehren zutreffend stattgab, in Abänderung der angefochtenen Entscheidung wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 41 und 50 Abs 1 ZPO.

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