OGH 1Ob17/98a

OGH1Ob17/98a9.6.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr.Schlosser als Vorsitzenden durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr.Schiemer, Dr.Gerstenecker, Dr.Rohrer und Dr.Zechner als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dkfm.Ing.Josef V*****, vertreten durch Dr.Robert Hyrohs, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur, Wien 1, Singerstraße 17-19, wegen S 66.256,12 sA infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 28.Oktober 1997, GZ 14 R 164/97h-9, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 23.Mai 1997, GZ 32 Cg 39/96g-5, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß das Ersturteil einschließlich seiner Kostenentscheidung wieder hergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 15.549,92 (darin S 1.488,32 Umsatzsteuer und S 6.620,- Barauslagen) bestimmten Kosten der Verfahren zweiter und dritter Instanz binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger ist Eigentümer eines Miethauses in Wien. Er brachte gegen einen Mieter beim zuständigen Bezirksgericht die Klage über einen Betrag von S 37.020,50 an Mietzinsrückstand für den Zeitraum Oktober 1994 bis März 1995 sowie ein auf § 1118 ABGB gestütztes Räumungsbegehren ein. Auf Grund des rechtskräftigen Versäumungsurteils vom 8.5.1995 wurde mit Beschluß vom 23.6.1995 die zwangsweise Räumung bewilligt und der Räumungstermin für 29.9.1995 angesetzt. Am 21.8.1995 beantragte der Mieter beim Bezirksgericht den Aufschub der zwangsweisen Räumung. Das jüngste seiner vier Kinder, die am 7.5.1995 geborenen Tochter, leide an Symptomen des sogenannten plötzlichen Kindestods. Sie müsse 24 Stunden an einen Atmungsüberwachungsmonitor "angeschlossen" sein. Der Mieter beteuerte, alles zu versuchen, die ausständige Miete zu bezahlten und legte die sein Vorbringen bescheinigenden Befunde des Kinderspitals vor. In einer ergänzenden Vernehmung brachte er vor, im Falle der Räumung von Obdachlosigkeit bedroht zu sein, weil er erst Ende des Jahres bei der Gemeinde Wien einen Antrag auf Zuweisung einer Wohnung stellen könne.

Mit Beschluß vom 5.9.1995 bewilligte das Bezirksgericht dem Mieter einen Räumungsaufschub von drei Monaten. Gemäß § 35 MRG könne die Räumungsexekution aufgeschoben werden, wenn dem rechtskräftig gekündigten Mieter im Falle der zwangsweisen Räumung Obdachlosigkeit drohe und die Aufschiebung dem betreibenden Vermieter nach Lage der Verhältnisse zugemutet werden könne. Die bescheinigte Krankheit des Kindes des Mieters in Verbindung mit der drohenden Obdachlosigkeit überwiege jedenfalls die finanziellen Interessen des Vermieters. Dem dagegen erhobenen Rekurs des Vermieters gab das Gericht zweiter Instanz Folge und änderte den angefochtenen Beschluß dahin ab, daß der Antrag auf Gewährung eines Räumungsaufschubs abgewiesen wurde. Werde nicht einmal der laufende Mietzins bezahlt, so sei nach ständiger Rechtsprechung jede Gewährung eines Räumungsaufschubs dem Vermieter nicht zumutbar, würde man ihn dadurch doch zwingen, tatenlos zuzusehen, wie monatlich zusätzliche Rückstände eines zahlungsunfähigen oder -unwilligen Mieters auflaufen.

Die zwangsweise Räumung der Wohnung fand am 4.6.1996 statt. Eine sofortige Vermietung der Wohnung im Juni 1996 war nicht möglich, weil der Bestandgegenstand devastiert war und renoviert werden mußte. Durch die Aufschiebung des Räumungstermins entgingen dem Vermieter Mietzinse für die Zeit vom Oktober 1995 bis einschließlich Juni 1996 im Gesamtbetrag von S 63.547,-. Die Kosten für den Rekurs des Vermieters gegen den den Räumungsaufschub bewilligenden Beschluß betrugen einschließlich Einheitssatz und Umsatzsteuer S 2.709,12.

Mit seiner am 27.9.1996 beim Erstgericht eingelangten Klage begehrte der Vermieter den Mietzinsentgang sowie die Rekurskosten aus dem Titel der Amtshaftung. Der zuständige Richter des Bezirksgerichts habe dem Kläger schuldhaft einen Vermögensschaden dadurch zugefügt, daß er entgegen der Rechtsprechung zu § 35 MRG eine Interessenabwägung vorgenommen und den Räumungsaufschub bewilligt habe, obwohl bei Nichtbezahlung des Mietzinses ein Aufschub für den Vermieter jedenfalls unzumutbar sei. Der Kläger habe gegen den Mieter wegen des Mietzinsrückstands bis einschließlich März 1995 im Gesamtbetrag von S 37.020,- erfolglos Exekution geführt.

Die Beklagte wendete dagegen ein, bei Aufrechterhaltung des Räumungstermins hätte eine unmittelbare Gefahr für das Leben des Kindes bestanden. In einem Obdachlosenasyl wäre die Überwachung der Atmungsfunktion mit dem Heimmonitor nicht in der Form, wie in der gewohnten Umgebung gewährleistet gewesen. Auch hätte der Umzug für das Kind eine außergewöhnliche lebensbedrohende Streßsituation mit sich gebracht. Wegen der möglichen Bedrohung eines Menschenlebens sei eine Notstandssituation vorgelegen. Zwar schließe die Rechtsprechung im allgemeinen eine Interessenabwägung bei Beurteilung des Gesuchs um Räumungsaufschub aus, dies ergebe sich jedoch nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des § 35 MRG. Die nach Artikel 2 EMRK über den Schutz des menschlichen Lebens gebotene verfassungskonforme Interpretation des § 35 MRG habe in diesem besonderen Fall die Interessenabwägung geboten. Selbst eine unrichtige Rechtsauffassung sei unter diesen Gesichtspunkt vertretbar. Auch sei aus dem Vorakt nicht ersichtlich gewesen, daß der Mieter ab Beginn des Mietverhältnisses keinen Mietzins bezahlt habe. Der Kläger habe zudem nicht den Nachweis erbracht, daß ihm tatsächlich ein Schaden erwachsen sei. Es stehe ihm gegen den ehemaligen Mieter Anspruch auf Benützungsentgelt zu. Im Hinblick auf § 2 Abs 2 AHG wäre der Kläger verhalten gewesen, diese Forderung gegenüber dem Mieter geltend zu machen. Auch die erfolglose frühere Exekutionsführung habe ihn von dieser Pflicht nicht entbinden können.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es traf die eingangs wiedergegebenen Feststellungen und führte zur rechtlichen Beurteilung aus, daß der den Räumungsaufschub bewilligende Beschluß des Bezirksgerichts als rechtswidrig zu beurteilen sei. Nach herrschender und einhelliger Rechtsprechung sei ein Aufschub der Räumungsexekution jedenfalls dann für den betreibenden Vermieter unzumutbar, wenn ein Mietzinsrückstand nicht bezahlt werde. Nach dem hier maßgeblichen Sachverhalt habe der Mieter jedoch nicht einmal behauptet, er würde nunmehr den Mietzins bezahlen, sondern bloß für die Zukunft vage versprochen, "alles zu versuchen, die ausständige Miete zu begleichen". Die Unkenntnis der einhelligen und ausreichend veröffentlichten Rechtsprechung sei dem Organ subjektiv vorwerfbar.

Das Gericht zweiter Instanz änderte mit dem angefochtenen Urteil diese Entscheidung dahin ab, daß es das Klagebegehren abwies. Ausgehend von den erstgerichtlichen Feststellungen folgerte es rechtlich, daß der Beschluß des Bezirksgerichts zwar von der ständigen Rechtsprechung abgewichen, die Gewährung des Räumungsaufschubs ohne Nachweis der Mietzinszahlung jedoch wegen der lebensbedrohenden Erkrankung des Kindes, deren Besserung mit fortschreitendem Lebensalter zu erwarten gewesen sei, vertretbar gewesen sei. In dem zu beurteilenden Beschluß sei letztlich nur die Rechtsmeinung vertreten worden, daß ein vorübergehender lebensbedrohender und das Leben durch eine Delogierung zusätzlich gefährdender Zustand eines Säuglings unabhängig von finanziellen Erwägungen eine Aufschiebung der Delogierung für den Vermieter nach Lage der Verhältnisse zumutbar mache. Ein schuldhaftes Fehlverhalten des Organes liege daher nicht vor.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen erhobene Revision des Klägers ist berechtigt.

Nach nunmehr ständiger, durch die Entscheidung SZ 52/119 eingeleiteter Rechtsprechung des erkennenden Senats hieße es den Rechtsmittelbegriff des § 2 Abs 2 AHG überdehnen, wollte man dem Amtshaftungskläger auch noch Maßnahmen zur Einleitung neuer selbständiger Verfahren, die den drohenden Schaden abwenden sollen, aufbürden. Eine solche Forderung hieße nichts weniger, als daß der Betroffene vorerst noch ein weiteres (zusätzliches) Verfahren einleiten, dessen Beendigung abwarten und nicht bloß die Rechtsbehelfe im Anlaßverfahren ausschöpfen müßte, ehe er den Amtshaftungsweg mit Aussicht auf Erfolg beschreiten könnte. Unter "Rechtsmittel" im Sinn des § 2 Abs 2 AHG sind daher nur prozessuale Rechtsbehelfe zur Abhilfe gegen gerichtliche oder sonstige behördliche Entscheidungen, nicht aber die Verfolgung materieller Rechtsansprüche, wie insbesondere Klageführungen gegen Dritte (SZ 69/15; SZ 69/145), zu verstehen. Die unterlassene Klageführung steht daher dem Ersatzanspruch nicht im Sinne des § 2 Abs 2 AHG entgegen. Ob sie allenfalls unter dem Gesichtspunkt des § 1304 ABGB Relevanz erlangen könnte, muß hier nicht abschließend geprüft werden, weil Voraussetzung für die Berücksichtigung eines derartigen Einwands die für den Schadenseintritt kausale Sorglosigkeit gegenüber den eigenen Rechtsgütern wäre (SZ 54/85; SZ 64/126; SZ 67/126 u.a.). Davon kann aber im vorliegenden Fall nicht die Rede sein, ist doch unbestritten, daß der Kläger wegen der Mietzinsrückstände bis einschließlich März 1995 gegen den Mieter erfolglos Exekution geführt hat. Ihn bei dieser offenbar unverändert tristen finanziellen Situation des Mieters vorerst zu einer neuerlichen Klage (und Exekutionsführung) zur Hereinbringung von Benützungsentgelt zwingen zu wollen, hieße die Sorgfaltspflicht bei weitem zu überspannen.

Wie auch die Beklagte nicht bestreitet, ist es einheitliche gesicherte Rechtsprechung, daß Voraussetzungen für die Gewährung eines Räumungsaufschubs einerseits die drohende Obdachlosigkeit bzw sonstige besonders berücksichtigungswürdige Gründe und andererseits die Zumutbarkeit für den Vermieter sind; beide Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen, ohne daß eine Interessenabwägung stattzufinden hätte (MietSlg 33.782, 34.331, 36.473, 37.483, 45.461; Würth in Rummel ABGB2 § 35 MRG Rz 6; Würth/Zingher, Miet- und Wohnrecht20 § 35 MRG Rz 6). Schon zu Artikel 6 der Schutzverordnung wurde judiziert, daß ein Räumungsaufschub jedenfalls dann nicht zu bewilligen sei, wenn das Benützungsentgelt für die laufende Weiterbenützung des Bestandobjekts bis zur Räumung nicht geleistet wird (MietSlg 32.847 mwH). Diese Judikatur wurde unter der Geltung des § 35 MRG konsequent und ausnahmslos von den Rekursgerichten fortgeführt (MietSlg 39.493, 40.494, 43.293 u.a.; Würth aaO Rz 6; Würth/Zingher aaO Rz 8).

Da im Geltungsbereich des AHG nach den Bestimmungen des bürgerlichen Rechts zu haften ist, umfaßt die Haftungsverpflichtung des Rechtsträgers grundsätzlich nicht nur grobes, sondern auch leichtes Verschulden des Organs (SZ 53/83; SZ 62/162; SZ 65/2; SZ 68/191; SZ 69/147 u.a.). Auch ein Abweichen von einer ständigen Rechtsprechung zieht dann, wenn es unvertretbar ist und keine sorgfältige Überlegung erkennen läßt oder gar auf Unkenntnis der Judikatur beruht, Amtshaftungsansprüche nach sich (SZ 52/56; SZ 60/177; SZ 62/6; SZ 65/63; SZ 68/133; SZ 69/147 u.a.). Dem zuständigen Richter des Bezirksgerichts ist ebenso wie dem Berufungsgericht zuzubilligen, daß der Vorrang des Schutzes des Lebens unzweifelhaft feststeht. Diese Tatsache darf allerdings nicht den Blick darauf verstellen, daß durch die Vorgangsweise des Bezirksgerichts dem Vermieter Opfer abverlangt werden, die primär die Eltern des Kindes und subsidiär die Allgemeinheit zu tragen hätten. Selbst wenn man die von der Beklagten ins Treffen geführte Notstandssituation unterstellen wollte, kann diese zumindest so lange nicht zu einer (partiellen), im Gesetz nicht begründeten entschädigungslosen Enteignung des einzelnen führen, als eine entsprechendes soziales Netz zur Milderung gerade dieses Notstands besteht. Es wären die Eltern, aber auch das zuständige Bezirksgericht aufgerufen gewesen, im Rahmen pflegschaftsbehördlicher Maßnahmen die Unterbringung des Kindes etwa in einem Spital oder einer geeigneten Heimstätte zu veranlassen. Ob in einem derartigen Fall als flakierende Maßnahme eine kurzfristige Verschiebung des Räumungstermins gerechtfertigt gewesen sein könnte, muß hier nicht entschieden werden.

Die ausschließlich auf die Tatsache der Krankheit des Kindes abstellende Begründung des bezirksgerichtlichen Beschlusses reicht daher nicht aus, um das Abgehen von einer gesicherten Rechtsprechung als vertretbar erscheinen zu lassen, zumal diese Judikaturlinie aus den dargestellten Überlegungen dem Zweck des Gesetzes durchaus gerecht wird.

Die Beklagte hat in ihrer Berufung die Feststellung des Erstgerichts, dem Kläger sei der von ihm begehrte Mietzins tatsächlich entgangen, nur insoweit bekämpft als sie vermeinte, das Entgelt für den Monat Juni 1996 stehe nur aliquot bis zum Zeitpunkt der tatsächlichen Räumung zu. Diesem Vorbringen ist - wie bereits zum Benützungsentgelt mehrfach ausgesprochen wurde (MietSlg 15.035, 18.193, 33.129; SZ 59/203; JBl 1992, 456) - entgegenzuhalten, daß auch der nach den Regeln des Schadenersatzes begehrte entgangene Mietzins grundsätzlich nicht nach Tagen, sondern mangels Nachweises abweichender Vereinbarungen nach den ortsüblichen Zinsperioden zu bemessen ist.

Der Revision ist daher Folge zu geben und das Ersturteil wieder herzustellen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 50, 41 ZPO.

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