OGH 10ObS111/98s

OGH10ObS111/98s14.4.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Hon.Prof.Dr.Danzl als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Wilhelm Koutny (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Herbert Böhm (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialsrechtssache der klagenden Partei Karl H*****, vertreten durch Dr.Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, gegen die Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen vorzeitiger Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17.Dezember 1997, GZ 9 Rs 266/97x-25, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 7.März 1997, GZ 12 Cgs 111/96t-20, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 7.2.1996 lehnte die beklagte Partei den Antrag des am 15.5.1940 geborenen Klägers auf Gewährung einer vorzeitigen Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit ab.

In seiner Klage stellte er das Begehren auf Zuerkennung einer solchen im gesetzlichen Ausmaß ab dem Stichtag 1.8.1995.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger die vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit "aufgrund seines Antrages vom 4.7.1995 und des Bescheides vom 7.2.1996" zu gewähren. Es traf hiezu folgende Feststellungen:

Der Kläger war in den letzten 15 Jahren ausschließlich als Außendienstmitarbeiter (Vertreter) auf reiner Provisionsbasis tätig und hatte kein Fixum. In der Firma gab es auch keinen Fonds, wo allfällige schlechtere oder schlechte Monate ausgeglichen worden wären. Der Kläger hat nur das verdient, was tatsächlich durch Provisionen hereingekommen ist. Als Vertreter hat der Kläger Bettwäsche, Steppdecken und auch lose Federn verkauft, hatte einen Musterkoffer im Ausmaß von 80 x 80 cm oder ähnlich mit einem Gewicht von 8 bis 10 kg. An einem durchschnittlichen Arbeitstag besuchte er zwischen 6 bis 10 Kunden; sein normaler Arbeitstag dauerte üblicherweise von etwa 7.00 Uhr früh bis 19.00 Uhr am Abend.

Diese Tätigkeit ist aus neurologisch-psychiatrischer Sicht als solche unter ständig besonderem Zeitdruck bzw ständig besonderem Leistungsdruck zu bezeichnen. Der Kläger kann diese von ihm bisher konkret ausgeübte Tätigkeit nicht mehr ausüben. Er ist nur mehr für leichte und mittelschwere Arbeiten ohne hauptsächliches Stehen geeignet; Arbeiten bei ständigem besonderem Zeitdruck scheiden aus.

Hätte der Kläger eine andere Handelsvertretertätigkeit ausgeübt, zB mit einem großen Fixum, und auf diese Weise relativ gut verdient, könnte er diesen Beruf weiter ausüben, weil der Ausschluß des ständigen besonderen Zeit- und Leistungsdruckes wegfallen würde. In diesem Fall würde nämlich maximal ein phasenhaft erhöhter Zeitdruck vorherrschen, welcher dem Kläger zumutbar wäre.

In rechtlicher Beurteilung führte das Erstgericht aus, daß der Kläger außerstande sei, durch seine bisherige Tätigkeit wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt, weshalb die Voraussetzungen des § 253d ASVG erfüllt seien.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das bekämpfte Urteil im Sinne einer Klageabweisung ab. Es führte rechtlich aus, daß es zulässig sei, den Kläger auch auf Arbeiten zu verweisen, die nur im Kernbereich mit der bisher geleisteten Tätigkeit übereinstimmen (hier: Kunden aufsuchen und Kunden betreuen). Demgemäß könne auch ein (wie der Kläger) auf Provisionsbasis entlohnter Vertreter auf eine solche Tätigkeit mit Fixum (und damit statt bisher ständigem künftig nur fallweisem Zeit- und Leistungsdruck) verwiesen werden. Da ihm diese Tätigkeit aufgrund seines Leistungskalküls zumutbar sei, lägen die Voraussetzungen des § 253d Abs 1 ASVG nicht vor.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision des Klägers mit dem Antrag, das erstgerichtliche Urteil wiederherzustellen. Die beklagte Partei hat eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist gemäß § 46 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen der in Abs 1 leg cit genannten Voraussetzung zulässig und im Sinne des jedem Abänderungsantrag immanenten Aufhebungsantrages (MGA ZPO14 E 12 zu § 467) auch berechtigt.

Anspruch auf vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit nach § 253d Abs 1 ASVG (in der hier maßgeblichen Fassung vor der Novellierung durch Art 7 des ASRÄG 1997 BGBl 139) hat der Versicherte ua dann, wenn er in mindestens der Hälfte der Beitragsmonate während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag eine gleiche oder gleichartige Tätigkeit ausgeübt hat (Z 3) und infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch diese Tätigkeit (Z 3) wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt (Z 4). Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sind gleichartige Tätigkeiten im Sinne des § 253d Abs 1 Z 3 ASVG solche, die in ihrem Kernbereich im wesentlich ähnliche physische und psychische Anforderungen ua an Intelligenz, Kenntnisse, Umsicht, Verantwortungsbewußtsein, Handfertigkeit, Körperkraft, Körperhaltung, Durchhaltevermögen und Konzentrationsfähigkeit stellen. Der Kernbereich einer Tätigkeit ergibt sich dabei aus den Umständen, die ihr Wesen ausmachen und die sie von anderen Tätigkeiten unterscheiden. Es ist demnach zulässig, einen Versicherten auf Arbeiten zu verweisen, die zwar im Kernbereich völlig mit der bisher geleisteten Tätigkeit übereinstimmen, bei denen jedoch Nebentätigkeiten wegfallen, die am Arbeitsmarkt mit der Haupttätigkeit nicht typischerweise verbunden sind (SSV-NF 3/130, 10 ObS 135/97v, 10 ObS 155/97k).

Entscheidend ist jedoch, daß der Gesetzgeber im Fall des § 253d Abs 1 Z 4 ASVG - wie schon in den früheren Fällen der §§ 255 Abs 4 und 273 Abs 3 ASVG - nicht nur von einem Berufsschutz im Sinne einer Verweisbarkeit innerhalb einer Berufsgruppe, sondern von einem Tätigkeitsschutz ausging (RV 932 BlgNR 18. GP, 49; SSV-NF 10/42, 10 ObS 30/97b, 10 ObS 135/97v, 10 ObS 155/97k, 10 ObS 230/97i, 10 ObS 289/97s).

Nach den Feststellungen war der Kläger ausschließlich als Außendienstmitarbeiter (Vertreter) ohne Fixum auf reiner Provisionsbasis mit einem Arbeitstag von rund 13 Stunden tätig und ist - aufgrund seines medizinischen Leistungskalküls - dem damit verbundenen ständigen besonderen Zeitdruck nicht mehr gewachsen, sodaß er diese von ihm konkret bisher ausgeübte Tätigkeit auch nicht mehr ausüben kann. Das vom Berufungsgericht bejahte Abstellen auf die Arbeitsfähigkeit eines Vertreters schlechthin entspricht zwar dem Begriff der Berufsunfähigkeit nach § 273 Abs 1 (§ 255 Abs 1) ASVG, nicht aber dem der geminderten Arbeitsfähigkeit im Sinne des § 253d Abs 1 Z 4 ASVG. Im Falle des Klägers ist - wie in den zitierten Vorentscheidungen - nicht ein Berufsschutz, sondern ein Tätigkeitsschutz (arg: "durch diese Tätigkeit" in § 253d Abs 1 Z 4 ASVG, wobei nur auf den Inhalt derselben abgestellt wird) ausschlaggebend. Die Auffassung des Berufungsgerichtes, der Kläger müsse sich auf einen Vertreter (schlechthin) verweisen lassen, vernachlässigt diesen Unterschied zwischen dem Berufsschutz und dem Tätigkeitsschutz im Sinne der zitierten Normen (siehe hiezu

ausführlich 10 ObS 135/97v = infas 1998 S 4, 10 ObS 155/97k = RdW

1997, 553 = infas 1997 S 59, 10 ObS 289/97s und 10 ObS 428/97g),

woraus folgt, daß im Rahmen des § 253d ASVG die Verweisung des Klägers nur auf eine Vertretertätigkeit in der bisherigen Branche beschränkt ist, grundsätzlich nicht jedoch auch einkommensbezogen beurteilt werden darf.

Weil der Begriff "diese Tätigkeit" in § 253d ASVG nur auf den Inhalt der (bisherigen) Tätigkeit abstellt, also darauf, ob diese ihrem Inhalt nach vom Versicherten weiterhin verrichtet werden kann oder ob gesundheitliche Gründe (im Rahmen des erhobenen Leistungskalküls) gegen eine Fortsetzung "dieser Tätigkeit" sprechen, es aber nicht - beispielsweise - auf Abweichungen in der Arbeitszeitgestaltung oder Erreichbarkeit des Arbeitsortes im Verweisungsberuf im Rahmen des nach § 253d ASVG zu prüfenden Kriteriums "diese Tätigkeit" ankommt, muß gleiches auch für die Frage der Entlohnung gelten (hier: Zeit- [Fixum] und Leistungslohn [Provision]; vorher Leistungslohn [Provision] allein). Die wesentliche Tätigkeit der Kundenbetreuung, Kundenacquirierung und Kundenbesuche bleibt jedoch auch im Verweisungsberuf grundsätzlich die gleiche; nur die vom Kläger bisher gehandhabte (und offenbar durch das Provisionsschema = Leistungslohn vorgegebene) Art dieser Tätigkeit (10-Stunden-Arbeitstag; bis zu 10 Kunden täglich) ist wegen des damit verbundenen Zeitdruckes nicht mehr möglich. Ist dem Kläger eine Tätigkeit als Vertreter (ausschließlich) mit Fixum in der Branche, und steht dort eine entsprechende Zahl von Arbeitsplätzen (vgl SSV-NF 7/6, 10 ObS 2339/96k) in dieser Form zur Verfügung, oder könnte er seiner Tätigkeit als Vertreter ohne Fixum in der bisherigen Form, bei entsprechender Verminderung der Arbeitsintensität (etwa Reduzierung der Zahl der Kundenbesuche zur Verminderung des bisher aufgetretenen und kalkülsüberschreitenden Zeitdruckes) - auch bei Inkaufnahme einer Verminderung des Einkommens ("Hälfte des Entgeltes" nach § 253d Abs 1 Z 4 ASVG) - weiter verrichten, lägen die Voraussetzungen für die begehrte Leistung nicht vor. Der Kläger wäre auf die bisherige Tätigkeit zu verweisen, zumal damit ja auch keine neuen Kenntnisse in einem anderen Tätigkeitsbereich abverlangt würden. Da es hiezu jedoch an Beweisergebnissen und damit auch an Feststellungen mangelt, werden diese vom Erstgericht nachzuholen sein. Dabei wird auch verläßlich festzustellen sein, ob beim Kläger (medizinisch) auch ein allfälliger Ausschluß von Leistungs- (und nicht bloß) Zeitdruck gegeben ist, weil die in Seite 3 oben des Ersturteils (AS 67) hiezu getroffene Formulierung Zweifel offen läßt und auch der Sachverständige hiezu in der letzten Streitverhandlung bloß ausgeführt hat, daß dem Kläger (im Verweisungsberuf) "phasenhaft erhöhter Zeitdruck" zumutbar wäre; bezüglich des gleichfalls (nämlich im Satz zuvor) relevierten Leistungsdrucks fehlen hingegen verläßliche Aussagen.

Es zeigt sich somit, daß für die abschließende Beurteilung wesentliche Fragen ungeklärt geblieben sind, weshalb die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Ergänzung des Verfahrens aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückzuverweisen war.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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