Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie lauten:
Der Anspruch des Klägers auf vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit ab 1.5.1995 besteht dem Grunde nach zu Recht.
Der beklagten Partei wird aufgetragen, dem Kläger vom 1.5.1995 bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von S 8.000 monatlich zu erbringen, und zwar die bis zur Zustellung dieses Urteils fälligen vorläufigen Zahlungen binnen 14 Tagen, die weiteren jeweils am Monatsersten im vorhinein.
Die beklagte Partei ist weiters schuldig, dem Kläger zu Handen seines Vertreters binnen 14 Tagen die mit S 4.058,88 (hierin enthalten S 676,48 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 27.9.1995 wies die beklagte Partei den Antrag des am 27.6.1937 geborenen Klägers auf Gewährung einer vorzeitigen Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit ab.
In seiner Klage stellte er das Begehren auf Zuerkennung einer solchen im gesetzlichen Ausmaß.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und traf hiezu - zusammengefaßt - folgende Feststellungen:
Der Kläger hat eine Schneiderlehre samt entsprechender Lehrabschlußprüfung absolviert. Von 1957 bis 1961 war er als Facharbeiter in einer Schneiderei tätig, von 1962 bis 1975 (nach Besuch einer Meisterklasse) als selbständiger Schneidermeister und von Jänner 1976 bis November 1993 als Facharbeiter bzw seit Jänner 1993 als Herren- und Damenkleidermacher im Angestelltenverhältnis bei einer in der Trachtenerzeugung tätigen Firma. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1.5.1995) war er immer in derselben Firma tätig, wobei seine Tätigkeit zu 80 % in der Bedienung der Bügelmaschine (Bedienung der Vorderteilpressen, Rockpressen, Armpressen, der "Finish-Puppe" und Handbügeln) und zu 20 % in der Endausfertigung (Annähen von Knöpfen, Nähen von Knopflöchern, Kontrolltätigkeit und "Finishen" = Abschneiden von Fäden, Sortierarbeiten) bestand. Erschwernisse gab es dabei durch die relativ hohen Raumtemperaturen im Bügelraum (40 bis 50 GradC) und durch die dortige extrem hohe Luftfeuchtigkeit. Die vom Kläger ausgeübten Tätigkeiten waren vorwiegend leicht bis mittelschwer. Das Handbügeleisen wog 2 kg.
Dem Kläger sind aufgrund des medizinischen Leistungskalküls leichte und fallweise mittelschwere Arbeiten, wechselweise im Sitzen, Stehen und Gehen sowie in geschlossenen Räumen unter den üblichen Bedingungen zumutbar. Ein mehrmaliger Wechsel der Körperhaltung sollte jedoch möglich sein, wobei ein zeitweiser Wechsel ausreicht. Zu vermeiden sind Arbeiten in Kälte und Nässe sowie über Kopf, in vorwiegend gebückter Haltung sowie Tätigkeiten, die ein wiederholtes aufeinanderfolgendes Bücken erforderlich machen und Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, weiters Arbeiten, die mit Heben und Tragen von Lasten einhergehen, die ein Gewicht von 5 bzw 19 kg übersteigen. Weiters sollten Tätigkeiten unterbleiben, die mit erheblicher Staub- und Rauchentwicklung einhergehen sowie Arbeiten unter Exposition mit chemischen Dämpfen und Arbeiten bei Raumtemperaturen unter 15 Grad sowie über 30 GradC. Einschränkungen des Anmarschweges zur Arbeitsstätte bestehen nicht; er kann auch öffentliche Verkehrsmittel benützen. Sein intellektueller Leistungsbereich ist ebenfalls nicht eingeschränkt. Der Kläger ist unterweis- und anlernbar, jedoch nicht mehr umschulbar.
Aufgrund seiner Beeinträchtigungen ist der Kläger nicht mehr in der Lage, die zuletzt von ihm in der Firma Trachten W***** ausgeübte Tätigkeit auszuüben.
Nach dem Berufsbild eines Schneiders ist dieser im wesentlichen neben der eigentlichen Näh- und Bügelarbeit mit dem Herstellen von Modellschnitten, dem Einrichten, dem Zusammenstellen des Zubehörs und der Aufsicht über angelernte Hilfskräfte befaßt. In handwerklichen Betrieben umfaßt die Aufgabe des Schneiders das Herstellen und das Umarbeiten von Oberkleidung aller Art, wobei vom Schneider alle Arbeiten vom Maßnehmen, dem Zuschnitt, dem Zusammenheften, Probieren, Ändern, Nähen mit der Hand und mit der Maschine bis zum Bügeln des fertigen Kleidungsstückes verlangt werden. In der industriellen Bekleidungserzeugung wird die Produktion in zahlreiche Einzelphasen nach dem arbeitsteiligen Verfahren zerlegt. Teilbereiche des Schneiderberufes sind der Damenkleidermacher, der Herrenkleidermacher, die Maßschneiderei sowie die Konfektionsschneiderei.
Ausgehend von den Gegebenheiten eines durchschnittlichen Arbeitsplatzes werden einem Schneider nicht mehr als 20 % Bügelarbeiten zugemutet, dies auch in der Endausfertigung. Hiebei sind bei einem durchschnittlichen Arbeitsplatz als Schneider in der Endausfertigung die erforderlichen Tätigkeiten auch nicht bei einer Raumtemperatur von 40 bis 45 Grad auszuüben; eine derartige Raumtemperatur über mehrere Stunden ist auch unzulässig.
Die Tätigkeit eines Ausfertigungsschneiders gilt als leichte Tätigkeit und wird im Sitzen ausgeübt. Bügelarbeiten kommen dabei nicht vor. Es wird aber bei allen arbeitsteilig geführten Produktionsprozessen vom einzelnen Arbeitnehmer eine bestimmte Mengenleistung, häufig auch Akkordleistung, gefordert. Trotz seiner Beeinträchtigungen wäre der Kläger in der Lage, eine derartige Tätigkeit als Ausfertigungsschneider bzw eines Schneiders in der Endausfertigung auszuüben.
In rechtlicher Hinsicht beurteilte das Erstgericht diesen Sachverhalt dahingehend, daß es nach dem wörtlich mit dem früheren § 273 Abs 3 lit c und d ASVG übereinstimmenden nunmehrigen § 253d Abs 1 Z 3 und 4 ASVG für die Verweisbarkeit nicht auf die Anforderungen am letzten Arbeitsplatz des Versicherten, sondern auf die Anforderungen, die üblicherweise am Arbeitsmarkt an die Ausübung des vom Versicherten zuletzt ausgeübten geschützten Berufes gestellt werden, ankomme. Ob der Versicherte die überwiegend ausgeübte Tätigkeit weiter ausüben könne, richte sich nach der Haupttätigkeit; die Unfähigkeit, eine mit oder neben der Haupttätigkeit verrichtete Nebentätigkeit auszuüben, führe nur dann zur Berufsunfähigkeit oder Invalidität, wenn die Nebentätigkeit mit der Haupttätigkeit typischerweise so verbunden sei, daß beide nur gemeinsam auf dem Arbeitsmarkt gefragt seien. Im vorliegenden Fall entspreche die bisherige Tätigkeit des Klägers bei der Firma Trachten W***** nicht dem typischen Berufsbild des Schneiders, zumal diese nur Bügelarbeiten im Umfange von bis zu 20 % (und nicht wie dort bis zu 80 %) beinhalte. Zu solchen Tätigkeiten sei der Kläger aber noch in der Lage. Die hohen Raumtemperaturen seien im übrigen schon nach den Bestimmungen des Arbeitnehmerschutzgesetzes nicht zulässig.
Das Berufungsgericht gab der vom Kläger erhobenen und nur als Rechtsrüge ausgeführten Berufung keine Folge. Es übernahm die rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes, wonach beim typischen Berufsbild des Schneiders nicht mehr als 20 % Bügelarbeiten anfielen, ein solcher Anteil dem Kläger zumutbar sei und er demgemäß seine bisherige Tätigkeit als Ausfertigungsschneider gemäß seinem physischen und psychischen Leistungskalkül weiter ausüben könne.
Die gegen dieses Urteil gerichtete und auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision des Klägers ist gemäß § 46 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässig und auch berechtigt.
Die beklagte Partei hat eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Anspruch auf vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit nach § 253 d Abs 1 ASVG hat der Versicherte ua dann, wenn er in mindestens der Hälfte der Beitragsmonate während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag eine gleiche oder gleichartige Tätigkeit ausgeübt hat (Z 3) und infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch diese Tätigkeit (Z 3) wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt (Z 4). Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sind gleichartige Tätigkeiten im Sinne des § 253 d Abs 1 Z 3 ASVG solche, die in ihrem Kernbereich im wesentlichen ähnliche physische und psychische Anforderungen ua an Intelligenz, Kenntnisse, Umsicht, Verantwortungsbewußtsein, Handfertigkeit, Körperkraft, Körperhaltung, Durchhaltevermögen und Konzentrationsfähigkeit stellen. Der Kernbereich einer Tätigkeit ergibt sich aus den Umständen, die ihr Wesen ausmachen und die sie von anderen Tätigkeiten unterscheiden. Unterschiedliche Anforderungen im Randbereich der Tätigkeit stehen der Annahme der Gleichartigkeit nicht entgegen; umgekehrt führen Übereinstimmungen im Randbereich nicht zur Bejahung der Gleichartigkeit (10 ObS 145/95, SSV-NF 10/42, 10 ObS 30/97b, 10 ObS 104/97k, 10 ObS 155/97k; ähnlich bereits SSV-NF 2/53 = SZ 61/138 ua zu den vergleichbaren, inzwischen aufgehobenen Bestimmungen der §§ 255 Abs 4 lit c und 273 Abs 3 lit c ASVG). Es ist demnach zulässig, den Versicherten auf Arbeiten zu verweisen, die zwar im Kernbereich völlig mit der bisher geleisteten Tätigkeit übereinstimmen, bei denen jedoch Nebentätigkeiten wegfallen, die am Arbeitsmarkt mit der Haupttätigkeit nicht typischerweise verbunden sind (SSV-NF 3/130, 10 ObS 155/97k).
In der Entscheidung SSV-NF 6/35 wurde demgemäß ausgesprochen, daß insbesondere das Tragen und Vorzeigen von Stoffballen und die Tätigkeit bei der Dekoration von Schaufenstern im Kernbereich der Tätigkeit einer Stoffverkäuferin liegen, weshalb es zur Berufsunfähigkeit führt, wenn ihr das Tragen und Vorzeigen von Stoffballen und die Tätigkeit bei der Dekoration von Schaufenstern nach dem medizinischen Leistungskalkül nicht mehr zumutbar sind. Die Entscheidung 10 ObS 30/97b betraf einen Versicherten, der in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag ausschließlich als Mechanikermeister im Baumaschinenbereich tätig war, mit welcher Tätigkeit das Arbeiten in exponierten Lagen geradezu berufstypisch verbunden ist. Das Arbeiten in exponierten Lagen, insbesondere auf Baukränen, wurde damit dem Kernbereich einer solchen Tätigkeit zugerechnet, weil dies Umstände sind, die das Wesen dieser Tätigkeit ausmachen und sie von anderen Tätigkeiten eines Kfz-Mechanikers unterscheiden. Hingegen wurde in der Entscheidung SSV-NF 10/42 ausgesprochen, daß ein Versicherter, der die Tätigkeit eines Kfz-Meisters und Werkstättenleiters ausübte, nicht von diesem Beruf ausgeschlossen ist, wenn er die dabei anfallenden gelegentlichen schweren körperlichen Tätigkeiten nicht mehr verrichten kann, weil das Verrichten schwerer Arbeiten (Heben von 30 kg und mehr) nicht dem üblichen Berufsbild eines Kfz-Meisters und Werkstättenleiters entsprechend befunden wurde. In der Entscheidung 10 ObS 155/97k schließlich wurde ausgesprochen, daß ein in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag ausschließlich als Berufskraftfahrer für einen Autobomilclub in Beschäftigung stehender und ausschließlich mit der Durchführung von Abschleppfahrten mittels schwerer Lastkraftwagen in ganz Europa betrauter Berufskraftfahrer, zu dessen Tätigkeiten auch das Anlegen von Schneeketten, das Benützen von Auffahrtshilfen und das Arbeiten an exponierten Stellen zum Kernbereich zählten und ihn insoweit von anderen Tätigkeiten eines Kraftfahrers unterscheiden, sich damit auf Tätigkeiten eines Fahrers von Klein-LKWs oder eines Dienstwagenfahrers nicht verweisen lassen müsse.
Von Bedeutung war in allen diesen Fällen, daß der Gesetzgeber im Fall des § 253 d Abs 1 Z 4 ASVG wie schon in den früheren Fällen der §§ 255 Abs 4 und 273 Abs 3 ASVG nicht nur von einem Berufsschutz im Sinne einer Verweisbarkeit innerhalb der Berufsgruppe, sondern von einem "Tätigkeitsschutz" ausging (RV 932 BlgNR 18.GP, 49 [zitiert in ASVG MGA 61. ErgLfg Anm 1 zu § 253 d]; vgl auch SSV-NF 10/42, 10 ObS 30/97b und zuletzt 10 ObS 155/97k).
Der vorliegende Sachverhalt ist nun dadurch gekennzeichnet, daß der Kläger in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag zwar als ausgebildeter Herren- und Damenkleidermacher bei einer in der Trachtenerzeugung tätigen Firma in Beschäftigung stand, wobei allerdings überwiegend (zu 80 %) die Bedienung der Bügelmaschine und nur zu 20 % gewisse Endausfertigungsarbeiten zu verrichten waren. Das Arbeiten im durch die relativ hohe Raumtemperatur samt extrem hoher Luftfeuchtigkeit gekennzeichneten Bügelraum gehörte damit zum Kernbereich seiner Tätigkeit, welche somit das Wesen seiner Tätigkeit ausmachte und sie damit von anderen Tätigkeiten eines (gewöhnlichen) Schneiders unterscheidet. Das von den Vorinstanzen bejahte Abstellen auf die Arbeitsfähigkeit eines Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten entspricht zwar dem Begriff der Berufsunfähigkeit nach § 273 Abs 1 (255 Abs 1) ASVG, nicht aber dem der geminderten Arbeitsfähigkeit im Sinne des § 253 d Abs 1 Z 4 ASVG. Im Falle des Klägers ist - wie in den zitierten Vorentscheidungen - nicht ein Berufsschutz, sondern ein Tätigkeitsschutz (arg: "durch diese Tätigkeit" in § 253 d Abs 1 Z 4 ASVG) ausschlaggebend. Die Auffassung des Berufungsgerichtes, der Kläger müsse sich auf Tätigkeiten eines Ausfertigungsschneiders (bei dem nicht mehr als 20 % Bügelarbeiten anfallen) verweisen lassen, vernachlässigt diesen Unterschied zwischen dem Berufsschutz und dem Tätigkeitsschutz im Sinne der zitierten Normen (siehe hiezu nochmals 10 ObS 155/97k).
In Stattgebung der vom Kläger erhobenen Revision war daher das angefochtene Urteil wie aus dem Spruch ersichtlich abzuändern, wobei unter Bedachtnahme auf § 89 Abs 2 ASGG sowie in Anwendung des § 273 Abs 1 ZPO auch eine vorläufige Zahlung bis zur Erlassung des die Höhe der begehrten Leistung festsetzenden Bescheides aufzuerlegen war (vgl 10 ObS 31/96).
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)