Spruch:
Die Urteile der Vorinstanzen werden insoweit als Teilurteil bestätigt, als die beklagte Partei schuldig ist, der klagenden Partei ab dem 1.11.1995 das Pflegegeld der Stufe 4, also monatlich S 8.535,-- zu bezahlen.
Im übrigen, also hinsichtlich des Begehrens eines Pflegegeldes in Höhe der Differenz zwischen der Stufe 4 und der Stufe 5, werden die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die am 6.7.1904 geborene und somit derzeit im 93. Lebensjahr stehende Klägerin bezieht das Pflegegeld der Stufe 3 und stellte am 13.11.1995 den Antrag auf Erhöhung desselben, welcher mit dem bekämpften Bescheid der beklagten Partei vom 8.1.1996 abgelehnt wurde.
Mit ihrer Klage stellte die Klägerin das Begehren auf Erhöhung des Pflegegeldes.
Das Erstgericht verurteilte die beklagte Partei zur Zahlung eines Pflegegeldes der Stufe 5 ab dem 1.11.1995 und traf hiezu folgende Feststellungen:
Die Klägerin sieht so wenig, daß sie sich in nicht ganz vertrauter Umgebung nicht alleine zurechtfinden kann. Sie kann die Finger einer Hand lediglich in einer Entfernung von 50 cm unterscheiden. Unter Einbeziehung der im einzelnen aufgelisteten und weitestgehend unstrittigen Betreuungs- und Hilfsverrichtungen beträgt ihr Gesamtpflegebedarf monatlich 193 Stunden. Hierin sind auch 30 Stunden Hilfestellung bei der Anwendung eines Sauerstoffgerätes (dreimal 20 Minuten täglich wird Sauerstoff angewendet, reiner Zeitbedarf für Hilfeleistung ca 30 Minuten pro Tag) enthalten.
Wegen dauernder Atemnot ist hiebei die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson erforderlich, weil sich die Klägerin das Sauerstoffgerät nicht selbst umhängen kann. Selbst wenn die Hilfestellung bei der Anwendung des Sauerstoffgerätes sich auf das Anlegen und Einstellen sowie auf das Abnehmen des Gerätes reduziert, ist doch im Hinblick auf die bei der Klägerin individuell verschieden mögliche Dauer dieser Hilfestellung eine dauernde Bereitschaft erforderlich, sodaß die Gesamtdauer der Anwendung des Sauerstoffgerätes als Betreuungszeit anzurechnen ist.
In rechtlicher Hinsicht folgerte das Erstgericht, daß die Klägerin nicht nur einen Gesamtpflegeaufwand von 193 (also mehr als 180) Stunden erfülle, sondern aufgrund ihrer Blindheit im Sinne des § 7 Abs 1 EinstV auch dauernder Bereitschaft einer Pflegeperson bedürfe und damit auch das Erfordernis des außergewöhnlichen Pflegeaufwandes im Sinne des § 6 leg cit erfüllt sei.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und auch dessen rechtliche Beurteilung. Wegen ihrer ständigen und akut auftretenden Atemnotbeschwerden sei die Klägerin auf die Verwendung eines Sauerstoffgerätes angewiesen und bedürfe hiefür einer permanenten und kurzfristig erreichbaren Pflegeperson.
Die Revision der beklagten Partei wird auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützt und beantragt, das Klagebegehren auf Erhöhung eines Pflegegeldes über ein solches der Stufe 3 hinaus abzuweisen. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages teilweise berechtigt.
1. Soweit - inhaltlich (§ 84 Abs 2 ZPO) als Verfahrensmangel im Sinne des § 503 Z 2 ZPO zu qualifizieren - die Nichtbeiziehung eines Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Augenheilkunde und die bloße Begutachtung durch einen Allgemeinmediziner gerügt wird, wurde dies bereits in der Berufung (vergeblich) dargelegt. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung, daß Verfahrensmängel erster Instanz, deren Vorliegen das Berufungsgericht bereits verneint hat, im Revisionsverfahren nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden können (SSV-NF 7/74, RZ 1989/16, 1992/57, 10 ObS 23/97y uva).
2. Den Schwerpunkt der Rechtsrüge bildet der Vorwurf an die Vorinstanzen, die Blindheit der Klägerin nicht nach den Definitionen der Richtlinien des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger, Amtliche Verlautbarung Nr 120/1994 (= SozSi 1994, 686) - speziell deren § 21 Z 2 - in Verbindung mit dem Konsensuspapier zur Vereinheitlichung der ärztlichen Begutachtung nach dem BPGG beurteilt zu haben. Diese Richtlinien seien auch für die Sozialgerichte bindend. Des weiteren sei von den Vorinstanzen nicht festgestellt worden, um welche Art der Sauerstoffversorgung es sich im Falle der Klägerin handle; selbst bei einer hochgradigen Sehschwäche wäre die Verwendung eines sog. Sauerstoffkonzentrators mit Sauerstoffzuführung mittels Nasenbrille und Betätigung eines zu ertastenden Kippschalters zumutbar.
Hiezu hat der Oberste Gerichtshof folgendes erwogen:
a) Daß die zitierten Richtlinien des Hauptverbandes für die in Arbeits- und Sozialrechtssachen tätigen Gerichte keine Verbindlichkeit beanspruchen können, hat der Oberste Gerichtshof inzwischen bereits in einer Vielzahl von Entscheidungen, darunter auch solche, in denen ebenfalls die jetzige Revisionswerberin als beklagte Partei eingeschritten war, ausgesprochen (10 ObS 2474/96p, weiters 10 ObS 2425/96p, 10 ObS 2349/96f, 10 ObS 2396/96t [letztere beide zwischenzeitlich auch veröffentlicht in ARD 4821/34/97]; speziell im Zusammenhang mit der Umschreibung der hochgradigen Sehbehinderung nach § 7 Abs 2 EinstV auch 10 ObS 2424/96k). Zur Vermeidung von Wiederholungen kann auf deren ausführliche, auch die Argumente in der vorliegenden Revision beantwortenden Begründungen verwiesen werden.
b) § 7 EinstV unterscheidet - soweit hier von Bedeutung - zwischen hochgradiger Sehbehinderung und Blindheit. Als hochgradig sehbehindert gilt (Abs 2), "wer das Sehvermögen so weit eingebüßt hat, daß er sich zwar in nicht vertrauter Umgebung allein zurechtfinden kann, jedoch trotz der gewöhnlichen Hilfsmittel [zB Brille] zu wenig sieht, um den Rest an Sehvermögen wirtschaftlich verwerten zu können" (siehe hiezu ausführlich jüngst 10 ObS 2424/96k); als blind gilt (Abs 3), "wer nichts oder nur so wenig sieht, daß er sich in einer ihm nicht ganz vertrauten Umgebung allein nicht zurechtfinden kann". Da nach den maßgeblichen Feststellungen der Vorinstanzen die Klägerin nur so wenig sieht, "daß sie sich in nicht ganz vertrauter Umgebung nicht allein zurechtfinden kann" und "die Finger einer Hand lediglich in einer Entfernung von 50 cm unterscheiden kann", hat sie als blind im Sinne der Definition des § 7 Abs 3 der EinstV zu gelten. Bei solchen Personen ist aber bereits nach Z 2 des Abs 1 dieser Bestimmung ein Pflgegeld von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich ohne weitere Prüfung anzunehmen, womit bereits die Berechtigung eines Pflegegeldes der Stufe 4 (nach § 4 Abs 2 BPGG) verbunden ist. Für Stufe 5 bedarf es nach der zitierten Gesetzesstelle zusätzlich - zum 180 Stunden im Monatsdurchschnitt übersteigenden zeitlichen Aufwand - noch eines "außergewöhnlichen Pflegeaufwandes", welcher in § 6 EinstV dahingehend definiert wird, daß "die dauernde Bereitschaft, nicht jedoch die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich ist". Auf die in der Revision in diesem Zusammenhang hervorgekehrte Dauer des zeitlichen Betreuungsaufwandes einer Sauerstoffversorgung statt mittels Sauerstoffgerätes mittels eines sog. Sauerstoffkonzentrators kommt es daher insoweit nicht an.
c) Nach den Feststellungen des Erstgerichtes leidet die Klägerin an ständiger Atemnot, muß täglich (durchschnittlich) drei Mal 20 Minuten das Sauerstoffgerät anwenden, wobei die tatsächliche Dauer "individuell verschieden" sein kann. Jedenfalls dann, wenn es sich hiebei um laufende auch akute Atemnotstände handeln sollte (wie dies aus den Ausführungen des Sachverständigen anläßlich der Erörterung seines Gutachtens in der Streitverhandlung zu entnehmen ist), wäre dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson erforderlich. Das Erstgericht nahm diese allerdings nicht aus diesem Grunde an, sondern weil sich die Klägerin zufolge ihrer bestehenden Mobilitäts- und Sehstörungen das erforderliche (und derzeit in Gebrauch stehende) Gerät nicht selbst umhängen kann. Die Frage eines trotz Seh- und Mobilitätsbehinderung auch für eine Person wie die Klägerin leicht(er) erreich- und bedienbaren und ihr auch zumutbaren anderweitigen Gerätes wurde jedoch vom Erstgericht überhaupt nicht geprüft und auch vom Sachverständigen - weder im schriftlichen noch im mündlichen Gutachten - beantwortet. Könnte aber ein solches Gerät als "anderes" Hilfsmittel im Sinne des § 3 Abs 2 EinstV die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson unter Umständen substituieren (siehe hiezu Pfeil, Pflegevorsorge, 192 ff), würde aus dieser Verminderung des insgesamt betreffenden Bedarfes auch ein Pflegegeldanspruch über die Stufe 4 hinaus zu verneinen sein.
Daß die beklagte Partei hiebei diesen (entscheidungswesentlichen) Aspekt der Pflegebedarfsbeurteilung nicht bereits in erster Instanz, sondern erstmalig in ihrer Berufung und nunmehr auch in ihrer Revision vorgebracht hat, gereicht ihr nicht weiter zum Nachteil. Zwar gilt auch in Sozialrechtssachen das Neuerungsverbot der §§ 482, 504 ZPO (SSV-NF 4/24), jedoch handelt es sich insoweit bei der Deckung des betreffenden Bedarfs eines Pflegebedürftigen um eine der rechtlichen Beurteilung zu unterstellende Fragestellung, welche vom Rechtsmittelgericht sogar von Amts wegen aufzugreifen wäre (10 ObS 2333/96b).
3. Da es zur Abklärung der aufgezeigten Feststellungsmängel einer Verhandlung erster Instanz bedarf, um die Sache im aufgezeigten Umfang spruchreif zu machen, waren die Urteile der Vorinstanzen hinsichtlich des Begehrens eines Pflegegeldes in Höhe der Differenz zwischen der Stufe 4 und der Stufe 5 aufzuheben und die Sache insoweit an das Erstgericht zurückzuverweisen. Hinsichtlich eines Zuspruches der Pflegegeldstufe 4 ist das Verfahren allerdings bereits spruchreif, weshalb insoweit ein Teilurteil gefällt werden konnte.
4. Ein Kostenvorbehalt (im Sinne des § 54 Abs 1 ZPO, § 2 Abs 1 ASGG) war nicht erforderlich, weil sich die Klägerin weder am Berufungsnoch am Revisionsverfahren (durch Erstattung von Rechtsmittelbeantwortungen) beteiligte und ihr daher insoweit auch keine allfällig ersatzfähigen Kosten erwuchsen.
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