OGH 10ObS6/97y

OGH10ObS6/97y11.2.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Steinbauer sowie durch die fachkundigen Laienrichter MR Dr.Walter Kraft und Dr.Erwin Blazek aus dem Kreis der Arbeitgeber als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Anna E*****, vertreten durch den Kriegsopfer- und Behindertenverband für Wien, Niederösterreich und Burgenland, Langegasse 53, 1080 Wien, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, Wiedner Hauptstraße 84-86, 1053 Wien, vertreten durch Dr.Paul Bachmann, Dr.Eva-Maria Bachmann, Dr.Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13.September 1996, GZ 8 Rs 186/96y-14, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 2.April 1996, GZ 14 Cgs 162/95f-8, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden abgeändert. Das Klagebegehren auf Erhöhung des Pflegegeldes der Stufe 3 ab 1.7.1995 wird abgewiesen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Klägerin wurde mit Schreiben der Beklagten vom 15.4.1994 mitgeteilt, daß ihr aufgrund einer Änderung des festgestellten Pflegebedarfs Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 gewährt werde. Es wurde ihr weiters bekanntgegeben, daß diese Mitteilung gemäß § 4 Abs 4 BPGG keinen Bescheid darstelle und daher nicht mit Klage angefochten werden könne. Mit Bescheid vom 29.6.1995 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Erhöhung des Pflegegeldes der Stufe 3 ab. Es wurde ihr wiederum mitgeteilt, daß sie diese Entscheidung (für die Zeit vor dem 1.7.1995) nicht mit Klage anfechten könne.

Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klage insoweit statt, daß es der Klägerin ein Pflegegeld der Stufe 4 zuerkannte. Es traf folgende Feststellungen:

Die Klägerin leidet an einem Herzklappenfehler mit Linksherzschwäche sowie einer chronischen Lungenkrankheit. Zur täglichen Körperpflege benötigt sie ebenso fremde Hilfe wie zur Ganzkörperreinigung. Das selbständige Einkaufen von Nahrungsmitteln und das Zubereiten und Wärmen von Mahlzeiten ist der Klägerin nicht möglich. Die Verrichtung der Notdurft ist ebenfalls nur mit fremder Hilfe möglich. Die Klägerin benötigt Windeleinlagen, da sie inkontinent ist. Die Reinigung infolge der Inkontinenz ist der Klägerin nicht möglich. Sie bedarf auch fremder Hilfe zur Reinigung der persönlichen Gebrauchsgegenstände, der Leib- und Bettwäsche und der Wohnung. Auch Mobilitätshilfe im engeren und im weiteren Sinn ist notwendig. Der Zeitaufwand für die Mobilitätshilfe im engeren Sinn beträgt im Durchschnitt monatlich 15 Stunden; der Aufwand für die Ganzkörperreinigung durchschnittlich vier Stunden im Monat.

Rechtlich erachtete das Erstgericht die Voraussetzungen für ein Pflegegeld der Stufe 4 als gegeben. Der monatliche Pflegebedarf der Klägerin lasse sich wie folgt aufschlüsseln:

für die tägliche Körperpflege 25 Stunden, für die Ganzkörperreinigung vier Stunden, für die Inkontinenzreinigung 20 Stunden, für die Verrichtung der Notdurft 30 Stunden, für An- und Auskleiden 20 Stunden, für die Mobilitätshilfe im engeren Sinn 15 Stunden, für die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln 10 Stunden, für die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände 10 Stunden, für die Pflege der Leib- und Bettwäsche 10 Stunden, für Kochen 30 Stunden, für die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn 10 Stunden. Es ergebe sich somit ein erforderlicher Gesamtaufwand von 184 Stunden.

Das Gericht zweiter Instanz gab der Berufung der beklagten Partei teilweise Folge. Da für die Zeit vor dem 1.7.1995 kein Bescheid vorliege, sei das Ersturteil hinsichtlich der Gewährung eines Pflegegelddifferenzbetrages zwischen den Stufen 3 und 4 für den Zeitraum vom 1.4. bis 30.6.1995 ersatzlos aufzuheben. Im übrigen - also hinsichtlich der Zuerkennung eines Pflegegeldes der Stufe 4 - sei das Ersturteil zu bestätigen.

Rechtlich vertrat das Berufungsgericht die Ansicht, daß der monatliche Aufwand für die tägliche Körperpflege ein zeitlicher Mindestwert sei, der nicht unterschritten werden dürfe. Neben diesem von 25 Stunden sei auch noch der Hilfsbedarf für die erforderlichen Wannenbäder (= richtig Ganzkörperreinigung) von vier Stunden monatlich zu berücksichtigen, weil ein Wannenvollbad, abgesehen von Fällen der medizinischen Notwendigkeit, nicht zur täglichen Körperpflege zähle. Es könne nicht davon ausgegangen werden, daß das Wannenvollbad im Rahmen der Körperpflege gewissermaßen einen Teil derselben ersetze.

Gegen die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich die Revision der beklagte Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen dahingehend abzuändern, daß das Klagebegehren, soweit es die Stufe 3 übersteigt, abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beteiligte sich am Revisionsverfahren nicht.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Im Revisionsverfahren ist nur strittig, ob der Pflegeaufwand für die erforderliche Ganzkörperreinigung zusätzlich zur täglichen Körperpflege zu berücksichtigen ist.

Dazu vertritt der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung die Ansicht, daß die Notwendigkeit der Hilfe bei einem Wannenvollbad für sich allein grundsätzlich, außer bei medizinischer Notwendigkeit, nicht unter den in § 1 Abs 4 EinstV angeführten Begriff der täglichen Körperpflege fällt (SSV-NF 8/55, 8/61, 8/67, 8/74, 8/79 = SZ 67/157; 10 ObS 143/94, 10 ObS 163/94, 10 ObS 169/94, 10 ObS 180/94, 10 ObS 28/95, 10 ObS 2027/96b). Dafür spricht, daß § 1 Abs 2 EinstV unter Betreuungshandlungen ua solche bei der Körperpflege schlechthin nennt, in § 1 Abs 4 EinstV zeitliche Mindestwerte aber nur für die tägliche Körperpflege festgelegt werden (Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 186; SSV-NF 8/74, 8/80; 10 ObS 148/94). Daraus haben die Vorinstanzen den Schluß gezogen, daß neben dem Mindestwert für die tägliche Körperpflege auch noch ein weiterer Betreuungsaufwand für die Ganzkörperreinigung zu berücksichtigen sei. Alle diese Entscheidungen gingen aber davon aus, daß der Betroffene nur bei der Ganzkörperreinigung Hilfe benötigte, nicht aber bei der sonstigen täglichen Körperpflege. Im vorliegenden Fall umfaßt aber der Bedarf nach Hilfe die tägliche Körperpflege und auch die Ganzkörperreinigung. Diese ist aber ein Teil der täglichen Körperpflege. Die tägliche Körperpflege stellt gleichsam das gesellschaftlich anerkannte Mindestmaß für den für die jeweilige Verrichtung notwendigen zeitlichen Aufwand dar (Pfeil, aaO 184), für den daher zeitliche Erfahrungswerte als Mindestwerte festgesetzt werden können. Der sonstige von den zeitlichen Vorgaben des § 4 EinstV nicht erfaßte Zeitaufwand ergibt sich nach allgemeiner und richterlicher Lebenserfahrung (Pfeil, aaO 197). Abweichungen von den Mindestwerten nach § 1 Abs 4 EinstV sind nur dann zu berücksichtigen, wenn der tatsächliche Betreuungsaufwand diese Mindestwerte erheblich überschreitet. Dies ist nur dann der Fall, wenn die Überschreitung um annähernd die Hälfte erfolgt (SSV-NF 9/47).

Eine gründliche vollständige Ganzkörperreinigung, unter der nicht nur das Duschen oder Baden, sondern auch das normale gründliche Waschen des ganzen Körpers zu verstehen ist (10 ObS 291/92), begründet einen regelmäßigen Bedarf, der als ständiger Pflegebedarf im Sinne des § 4 Abs 1 BPGG und § 5 EinstV anzusehen ist. Auch die Ganzkörperreinigung, wie sie auch immer durchgeführt werden mag, entspricht den Verrichtungen, ohne die der pflegebedürftige Mensch letztlich der Verwahrlosung ausgesetzt würde. Diesem Pflegebedarf, der wie ein Wannenvollbad nichts anderes als Körperpflege ist kommt grundsätzlich keine selbständige Bedeutung bei der Feststellung des zeitlichen Betreuungsaufwandes zu, wenn Hilfe bei der täglichen Körperpflege erforderlich ist.

Dies bedeutet, daß die Fremdhilfe bei der Ganzkörperreinigung zusätzlich zur erforderlichen Hilfe bei der täglichen Körperpflege nur dann zu einer Abweichung von den in § 1 Abs 4 EinstV angeführten Mindestwerten für tägliche Körperpflege führt, wenn der tatsächlich dabei auftretende Betreuungsaufwand den Mindestwert aus besonderen Gründen um annähernd die Hälfte überschreitet. Dies ist aber hier nicht der Fall.

Der Betreuungsbedarf der Klägerin beträgt daher 180 Stunden pro Monat, was aber nur einen Pflegebedarf der Stufe 3 begründet.

Die Urteile der Vorinstanzen waren daher im Sinne des Revisionsantrages der beklagten Partei abzuändern.

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