OGH 10ObS148/94

OGH10ObS148/9427.9.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Heinrich Matzke (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Herbert Lohr (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Gottlieb S*****, Pensionist, *****, vertreten durch Dr. Jörg Hobmeier, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. März 1994, GZ 5 Rs 28/94-12, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 18. November1993, GZ 44 Cgs 115/93f-7, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit S 2.029,44 bestimmten halben Kosten der Revision (darin enthalten S 338,24 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter vom 27.5.1993 wurde der Antrag des Klägers vom 6.4.1993 auf Gewährung des Hilflosenzuschusses abgelehnt, weil er nicht ständig der Wartung und Hilfe bedürfe (§ 105 a ASVG).

Mit der rechtzeitigen Klage begehrte der Kläger die Gewährung des Hilflosenzuschusses bzw. des Pflegegeldes im gesetzlichen Ausmaß. Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger ab 1.7.1993 Pflegegeld der Stufe 1 in der gesetzlichen Höhe zu gewähren; das Mehrbegehren auf Gewährung des Hilflosenzuschusses ab Antragstellung und des Pflegegeldes der Stufe 2 ab 1.7.1993 wies es ab. Es stellte folgenden Sachverhalt fest:

Der am 8.4.1926 geborene Kläger leidet an den Folgen einer totalen Kehlkopfentfernung infolge eines Kehlkopfkarzinoms. Die Atmung erfolgt über eine Öffnung in der Luftröhre. Äußere Einflüsse wie kalte Atemluft, Staub und Rauchexpositionen führen zu Reizerscheinungen der tiefen Atemwege; die Anwendung einer Kanüle ist aber nur tageweise nötig. Der Kläger leidet zudem an einer mäßig schmerzhaften Bewegungseinschränkung des rechten Armes im Bereich der Schulter. Der Kläger kann sich selbständig an- und auskleiden, die Notdurft verrichten und die Mahlzeiten einnehmen. Er kann sich auch Speisen zubereiten, wenn er dabei die Entwicklung von Fettrauch meidet. Er kann die tägliche Körperpflege unter Zuhilfenahme einer Stielbürste für den Rücken durchführen; nur beim Haarewaschen benötigt er Hilfe. Die Kanülenpflege (ein- bis zweimal in der Woche) kann er ebenfalls selbst erledigen. Er kann kleinere Mengen von Lebensmitteln und anderen Waren des täglichen Bedarfes bis cirka 3 kg vom ca. 600 m weit entfernt gelegenen Lebensmittelgeschäft einkaufen. Die Manipulation mit Geld ist möglich. Im Winter ist er beim Einkaufen auf fremde Hilfe angewiesen, da in der kalten Jahreszeit Menschenansammlungen wegen der erhöhten Infektionsgefahr gemieden werden sollten. Dazu kommt, daß die ersten 50 bis 100 m des Einkaufsweges mäßig steil sind und als Privatstraße selbst geräumt werden müssen, was dem Kläger nicht mehr möglich ist. Die oberflächliche Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände sind ihm möglich, der gründliche Putz aber nicht mehr. Das Waschen der Bett- und Leibwäsche in der Maschine kann von ihm durchgeführt werden, er braucht aber Hilfe beim Aufhängen und beim Bügeln. Die kleine Wäsche kann er alleine aufhängen und mit Pausen auch bügeln. Das Beheizen des Wohnraumes erfolgt zentral mit einer Holz-Kohle-Heizung vom Keller aus, diesbezüglich braucht er fremde Hilfe. Die Bereitstellung größerer Mengen warmen Wassers ist an die Zentralheizung gekoppelt, so daß er für die Aufbereitung des Bade- und Duschwassers Hilfe benötigt. Er kann allerdings Wasser in kleineren Mengen am Elektroherd wärmen und die Körperreinigung im Becken durchführen. Die nächste Ordination eines praktischen Arztes ist etwa 600 m vom Haus des Klägers entfernt, die nächste Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels 150 m.

In rechtlicher Hinsicht gelangte das Erstgericht zum Ergebnis, daß der Kläger nicht die Voraussetzungen für die Gewährung des Hilflosenzuschusses nach § 105 a ASVG erfülle, wohl aber für die Gewährung des Pflegegeldes der Stufe 1 ab 1.7.1993. Im Sinne des § 2 Abs 2 der Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz (EinstV) sei Hilfe im Ausmaß von 40 Stunden anzusetzen, weil für Einkauf, Wohnungsputz, Pflege der Wäsche und Beheizung des Wohnraumes der fixe Zeitwert von je 10 Stunden anzusetzen sei, auch wenn teilweise die angeführten Verrichtungen vom Kläger selbst erledigt werden könnten. Zur Körperpflege gehöre das mehrmals wöchentliche Haarewaschen, wozu der Kläger Hilfe benötige. Ausgehend von der Unzumutbarkeit, sich das Wasser kleinweise am E-Herd zu wärmen und die Körperreinigung im Becken durchzuführen, ergebe sich bei sinngemäßer Anwendung der Mindestwerte von 2 x 25 Minuten täglich ein monatlicher Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 50 Stunden, so daß dem Kläger das Pflegegeld in Höhe der Stufe 1 gebühre.

Das Berufungsgericht gab der nur von der Beklagten erhobenen Berufung Folge und änderte das Ersturteil im Sinne einer gänzlichen Abweisung des Klagebegehrens ab. Nach den Feststellungen sei jedenfalls nicht von einer Notwendigkeit des täglichen Haarewaschens auszugehen. Ein selbst mehrmals in der Woche erforderliches Haarewaschen könne jedoch nicht der täglichen Körperpflege iS des § 1 Abs 4 EinstV gleichgestellt werden. Der Betreuungsbedarf werde dahin definiert, daß es sich um in relativ kurzer Folge notwendige Verrichtungen handle, die vornehmlich den persönlichen Lebensbereich betreffen und ohne die der Pflegebedürftige der Verwahrlosung ausgesetzt wäre. Selbst wenn man ein beim Kläger vorliegendes starkes Schuppenleiden in Betracht ziehe, könne auch das mehrmals wöchentliche Haarewaschen wohl eher nicht dem Begriff der Betreuung unterstellt werden. Selbst wenn man dies täte, wäre das Haarewaschen somit der Mobilitätshilfe im engeren Sinn zu unterstellen, wobei der erforderliche Bedarf in analoger Anwendung des § 273 ZPO einzuschätzen wäre. Billige man dem Kläger zu, daß er sich viermal pro Woche im Hinblick auf sein Schuppenleiden die Haare zu waschen habe, und setze man hiefür einen Zeitaufwand von 15 Minuten an, ergebe sich pro Woche ein Gesamtzeitaufwand von einer Stunde, im Monat also rund viereinhalb Stunden. Zähle man diesen Satz zu den festgestellten Hilfsverrichtungen hinzu, erreiche der Kläger nicht die zeitliche Anspruchsvoraussetzung für das Pflegegeld der Stufe 1 iS des § 4 Abs 2 BPGG.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Klägers ist nicht berechtigt.

Nicht strittig ist, daß der Kläger für Hilfsverrichtungen iS des § 2 Abs 2 EinstV, BGBl 1993/314, monatlich Hilfe im Ausmaß von 40 Stunden benötigt. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist ausschließlich die Frage, wie die erforderliche Hilfe beim Haarewaschen zu bewerten ist. Der Revisionswerber vertritt die Auffassung, das Haarewaschen bilde ebenso wie das Waschen anderer Körperteile, das Duschen, Rasieren, Zähneputzen und Nägelschneiden einen Bestandteil der in regelmäßigen Abständen durchzuführenden Körperpflege des Menschen, ohne die er der Verwahrlosung und der Gefahr der Erkrankung preisgegeben wäre. Die verschiedenen Körperpflegetätigkeiten würden unter dem einheitlichen Begriff der Körperpflege zusammengefaßt und in § 1 Abs 4 EinstV unabhängig von der tatsächlichen Dauer der einzelnen Verrichtungen mit durchschnittlichen zeitlichen Mindestwerten bewertet. Dieser Mindestwert für die Körperpflege betrage 2 x 25 Minuten täglich, also 25 Stunden monatlich. Der Begriff "Körperpflege" könne nicht mehr in die einzelnen Körperpflegehandlungen aufgeteilt werden, so daß der vorgegebene Mindestzeitwert selbst dann zu veranschlagen sei, wenn die Körperpflege vom Betroffenen nur im Hinblick auf einzelne Körperpflegehandlungen nicht selbst bewältigt werden könne. Dem ist folgendes zu entgegnen:

Nach § 1 Abs 1 EinstV sind unter Betreuung alle in relativ kurzer Folge notwendigen Verrichtungen anderer Personen zu verstehen, die vornehmlich den persönlichen Lebensbereich betreffen und ohne die der pflegebedürftige Mensch der Verwahrlosung ausgesetzt wäre. Zu diesen Verrichtungen zählen nach Abs 2 insbesondere auch solche "bei der Körperpflege", also etwa auch im Zusammenhang mit einem Vollbad in der Badewanne, wie der Senat wiederholt entschieden hat (10 Ob S 139/94, 10 Ob S 143/94 ua). Dabei ist bedeutsam, daß der im § 1 Abs 4 EinstV festgelegte zeitliche Mindestwert von 2 x 25 Minuten nur für die "tägliche" Körperpflege gilt, während in Abs 2 dieser Bestimmung von Körperpflege schlechthin gesprochen wird (ebenso Pfeil, Pflegebedürftigkeit als Rechtsproblem, 3. Teil, Abschnitt 2, III,

3.5.3. - in Druck). Mit dem Berufungsgericht ist davon auszugehen, daß trotz der Verschuppung der Kopfhaut des Klägers für eine medizinische Indikation, die tägliches Haarewaschen erforderlich machen würde, keine Hinweise bestehen. Daß sich der Kläger täglich die Haare waschen müsse, wurde in erster Instanz nicht behauptet und ergibt sich weder aus dem ärztlichen Sachverständigengutachten noch aus der Zeugenaussage der Ehegattin des Klägers. Obwohl demnach das Haarewaschen nicht zur täglichen Körperpflege iS des § 1 Abs 4 EinstV zählt, bleibt der hiefür erforderliche Bedarf nicht unberücksichtigt, sondern ist nach § 1 Abs 2 EinstV als "sonstige" Körperpflege angemessen zu berücksichtigen. Die Beurteilung des Berufungsgerichtes, daß die Hilfe beim Haarewaschen einen Zeitaufwand von 15 Minuten nicht übersteigt, ist zutreffend und lebensnah, weshalb sich - unter Bedachtnahme auf die Verschuppung der Kopfhaut - pro Woche ein gesamter Zeitaufwand von 1 Stunde und im Monat von rund 4 1/2 Stunden errechnet. Zählt man diesen Wert zu den festgestellten Hilfsverrichtungen (40 Stunden) hinzu, erreicht der Kläger nicht die zeitlichen Anspruchsvoraussetzungen für das Pflegegeld der Stufe 1 iS des § 4 Abs 2 BPGG, wonach Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 1 nur für Personen besteht, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 50 Stunden monatlich beträgt.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG (SSV-NF 6/61 ua).

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