OGH 10ObS139/94

OGH10ObS139/9428.6.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Robert Prohaska und Walter Benesch in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Anna M*****, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer-Lände 3, 1092 Wien, vertreten durch Dr.Anton Rositzky, Rechtsanwalt in Wien, wegen Hilflosenzuschuß bzw Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28.Februar 1994, GZ 32 Rs 11/94-23, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 30.August 1993, GZ 17 Cgs 202/92-18, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung

1.) den

Beschluß

gefaßt:

Das angefochtene Urteil wird in seinem, dem Begehren der Klägerin auf Gewährung des Hilflosenzuschusses für die Zeit vom 18.August 1992 bis 30. Juni 1993 stattgebenden Teil als nichtig aufgehoben;

2.) zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird im übrigen Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß es zu lauten hat:

"Das Begehren des Inhalts, die beklagte Partei sei schuldig, der Klägerin Pflegegeld ab 1.Juli 1993 zu gewähren, wird abgewiesen."

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 30.März 1915 geborene Klägerin ist unter Berücksichtigung ihres im einzelnen festgestellten, vor allem altersbedingt beeinträchtigten Gesundheitszustandes, in der Lage, sich alleine an- und auszuziehen, ihren Körper oberflächlich zu waschen, die Toilette aufzusuchen, einfache Mahlzeiten zuzubereiten, selbständig zu essen, kleine Mengen Brennmaterial herbeizuschaffen, einen Wohnraum oberflächlich zu säubern und kleine Mengen persönlicher Wäsche zu waschen. Zur gründlichen Körperreinigung in der Badewanne, zur Wartung der Öfen, zum Bereitlegen größerer Mengen von Brennmaterial bzw zum Nachleeren von Öl in die Ölöfen, zum Einkaufen, zum gründlichen Aufräumen der Wohnung, zum Waschen der großen Wäsche und zum An- und Ablegen der Stützstrümpfe in den Monaten von Mai bis September jeden Jahres bedarf die Klägerin fremder Hilfe.

Am 18.August 1992 beantragte die Klägerin, die von der beklagten Partei eine Pension bezieht, die Gewährung des Hilflosenzuschusses.

Gegen den diesen Antrag abweisenden Bescheid der beklagten Partei vom 2. Oktober 1992 erhob die Klägerin Klage mit dem Begehren, die beklagte Partei zur Gewährung des Hilflosenzuschusses zu verpflichten. Aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes sei sie ständig auf fremde Wartung und Hilfe angewiesen.

Das Erstgericht wies das Begehren der Klägerin mit Urteil vom 30. August 1993 ab. Die von der Klägerin für die notwendigen Dienstleistungen aufzuwendenden Kosten erreichten nicht die Höhe des begehrten Hilflosenzuschusses. Der für die Vornahme der Verrichtungen, zu deren Besorgung die Klägerin fremder Hilfe bedürfe, erforderliche Zeitaufwand erreiche nicht 50 Stunden, so daß ab 1.Juli 1993 auch kein Anspruch auf Pflegegeld bestehe.

Dieses Urteil bekämpfte die Klägerin nur bezüglich der Nichtgewährung von Pflegegeld ab 1.Juli 1993 mit Berufung und beantragte, das erstgerichtliche Urteil dahin abzuändern, daß die beklagte Partei verpflichtet werde, ihr ab 1.Juli 1993 Pflegegeld der Stufe 2, in eventu der Stufe 1 zu gewähren.

Das Berufungsgericht änderte die Entscheidung des Erstgerichtes dahin ab, daß es die beklagte Partei verpflichtete, der Klägerin vom 18. August 1992 bis 30.Juni 1993 den Hilflosenzuschuß und ab 1.Juli 1993 Pflegegeld der Stufe 1 zu gewähren. Das Erstgericht habe die nach der Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz, BGBl 1993/314 angeführten Zeiten des Betreuungsaufwandes nicht richtig angewendet. Gemäß § 2 Abs 3 dieser Verordnung seien für die Beheizung des Wohnraumes einschließlich der Herbeischaffung des Heizmaterials 10 Stunden in Anschlag zu bringen; ebensoviel je für das gründliche Aufräumen der Wohnung, für das Einkaufen und für das Waschen der großen Wäsche. Hieraus ergebe sich ein Aufwand von 40 Stunden. Hiezu komme das Anlegen der Stützstrümpfe während 7 Monaten im Jahr, wofür gerundet 15 Stunden monatlich zu veranschlagen seien. Die gründliche Körperreinigung in der Badewanne sei nicht medizinisch indiziert, so daß ein Bad zweimal wöchentlich ausreiche. Der dadurch bedingte Pflegeaufwand betrage 7 Stunden monatlich. Insgesamt ergebe sich daher ein Pflegeaufwand von 62 Stunden monatlich, so daß die Voraussetzungen für den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1 erfüllt seien.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus den Revisionsgründen der Nichtigkeit und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß das Klagebegehren zur Gänze abgewiesen werde.

Die Klägerin hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Das Begehren der Klägerin auf Gewährung des Hilflosenzuschusses für die Zeit bis 30.Juni 1993 wurde vom Erstgericht abgewiesen. Die Klägerin bekämpfte die Entscheidung nur insoweit, als ihr nicht ab 1. Juli 1993 Pflegegeld gewährt wurde. Die Abweisung des Begehrens auf Hilflosenzuschuß für die Zeit vom 18.August 1992 bis 30.Juni 1993 ist daher mangels Anfechtung in Rechtskraft erwachsen. Dennoch hat das Berufungsgericht das erstgerichtliche Urteil in diesem Teil abgeändert. Diesen Verstoß gegen die Rechtskraft begründet im Sinne der ständigen Rechtsprechung die Nichtigkeit dieses Teiles des berufungsgerichtlichen Urteiles (SZ 30/48; JBl 1962, 640 ua). Es war daher in diesem Punkt zu beheben.

Das BPGG trat gemäß dem 3.Teil, 1.Abschnitt Z 1 dieses Gesetzes mit 1. Juli 1993 in Kraft. Gemäß § 43 Abs 2 leg cit sind allen am 1.Juli 1993 noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren für die Zeit bis zum 30.Juni 1993 die bis zu diesem Zeitpunkt jeweils für die Beurteilung des Anspruches geltenden Bestimmungen der im § 3 genannten Normen (hier des ASVG) zugrunde zu legen. Der Anspruch der Klägerin war daher bis zum 30.Juni 1993 nach § 105 a ASVG und ab dem 1. Juli 1993 nach dem BPGG zu beurteilen. Das Erstgericht hat zwar im Spruch seiner Entscheidung nur über den mit 30.Juni 1993 begrenzten Anspruch der Klägerin auf Hilflosenzuschuß erkannt, doch ergibt sich aus den Gründen der Entscheidung, daß es auch den Anspruch auf Pflegegeld prüfte und nicht für berechtigt erachtete. Das Berufungsgericht hat über Berufung der Klägerin über diesen Teil des Anspruches erkannt. Gegen eine Entscheidung über den Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld besteht daher im Revisionsverfahren kein Hindernis.

Hilfsverrichtungen sind gemäß § 2 Abs 2 der Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz (EinstV) ua das Herbeischaffen von Nahrungsmitteln und Medikamenten, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, die Pflege der Leib- und Bettwäsche und die Beheizung des Wohnraumes einschließlich der Herbeischaffung von Heizmaterial. Für jede dieser Hilfsverrichtung ist gemäß § 2 Abs 3 EinstV ein fixer Zeitwert von 10 Stunden monatlich anzunehmen. Hier steht fest, daß die Klägerin zur Wartung der Öfen, zum Bereitlegen größerer Mengen von Brennmaterial bzw zum Nachleeren von Öl in die Ölöfen, zum Einkaufen, zum gründlichen Aufräumen der Wohnung und zum Waschen der großen Wäsche fremder Hilfe bedarf. Ein Hilfsbedürfnis ist daher bezüglich jeder der oben angeführten Hilfsverrichtungen gegeben. Die beklagte Partei wendet sich dagegen, daß das Berufungsgericht hiefür einen Zeitwert von insgesamt 40 Stunden in Anschlag brachte; sie verweist darauf, daß die Klägerin nach dem festgestellten Sachverhalt das täglich notwendige Aufräumen der Wohnung selbst ausführen könne und nur zur gründlichen Reinigung der Wohnräume fremder Hilfe bedürfe; ebenso sei sie in der Lage, die Leibwäsche alleine zu versorgen und bedürfe nur zur Reinigung der Großwäsche Hilfe von dritter Seite; für das Aufräumen und die Versorgung der Wäsche seien nur ein Hilfsbedarf von je 6 Stunden anzunehmen. Dem kann nicht beigetreten werden. Wie oben dargestellt ordnet das Gesetz an, daß für jede Hilfsverrichtung ein fixer Zeitwert von 10 Stunden monatlich anzunehmen ist. Diese Diktion eröffnet keinen Spielraum für ein Abweichen von dem angeordneten Zeitwert nach oben oder unten. Ist im Bereich einer der in § 2 Abs 2 EinstV genannten Hilfsverrichtungen soweit sie zur Sicherung der Existenz erforderlich sind (Abs 1), ein Bedarf des Anspruchswerbers auf fremde Hilfe gegeben, so ist ohne Rücksicht darauf, wie weitgehend dieses Hilfsbedürfnis ist, der vom Verordnungsgeber angeordnete fixe Zeitwert zugrunde zu legen. Daß der Anspruchswerber die Hilfe nicht in vollem Umfang benötigt und imstande ist, im Bereich der in Frage kommenden Hilfsverrichtungen einzelne einfachere Verrichtungen selbst zu besorgen, rechtfertigt nicht ein Abweichen von den in der Verordnung ausdrücklich als fix bezeichneten Zeitwerten.

Die Revisionswerberin bekämpft weiter die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, soweit dieses für das in der warmen Jahreszeit erforderliche Anlegen von Stützstrümpfen einen monatlichen Zeitaufwand von 15 Stunden ansetzte. Sie führt dagegen ins Treffen, daß das Tragen der Stützstrümpfe nur in den Monaten Mai bis September jeden Jahres erforderlich sei. Da dieser Zeitraum 6 Monate nicht erreiche, sei der Umstand, daß beim Anlegen der Strümpfe eine Hilfsperson erforderlich sei, nicht zu berücksichtigen. Auch dem kann nicht gefolgt werden. Gemäß § 4 Abs 1 BPGG gebührt das Pflegegeld bei Zutreffen der Anspruchsvoraussetzungen ab Vollendung des dritten Lebensjahres, wenn aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer Sinnesbehinderung der ständige Betreuungs- und Hilfsbedarf (Pflegebedarf) voraussichtlich mindestens sechs Monate andauern wird oder würde. Durch die Mindestfrist von sechs Monaten, während der der Betreuungs- und Hilfebedarf bestehen muß, werden nur Personen von Pflegegeldleistungen ausgeschlossen, die etwa aufgrund einer vorübergehenden Erkrankung der Betreuung und Hilfe bedürfen, wobei aber abzusehen ist, daß dieser Bedarf nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge innerhalb von sechs Monaten wieder wegfallen wird. Die Bestimmung kann nicht in dem von der beklagten Partei gewünschten Sinne dahin verstanden werden, daß Anspruch auf Pflegegeld nur dann besteht, wenn der Betreuungs- und Hilfebedarf jeweils während eines Kalenderjahres sechs Monate hindurch andauert. Wenn auch bei der Klägerin die Notwendigkeit zum Anlegen von Stützstrümpfen - offenbar jahreszeitlich bedingt - jährlich nur 5 Monate besteht, handelt es sich dabei doch um einen Dauerzustand; dafür, daß diesbezüglich eine Besserung des Leidenszustandes zu erwarten wäre, bietet das Verfahren keine Anhaltspunkte. Daß der Bedarf nach Beiziehung einer Hilfsperson für das Anlegen der Stützstrümpfe jeweils nur für einige Monate eines Jahres gegeben ist, ist dadurch zu berücksichtigen, daß der notwendige Hilfsbedarf für diese Zeit zu ermitteln und auf das ganze Jahr aufzuteilen ist. Dabei erweist sich der vom Berufungsgericht zugrunde gelegte Zeitwert tatsächlich zu hoch gegriffen. Das An- und Ablegen der Stützstrümpfe ist dem An- und Auskleiden zuzurechnen. Für die Hilfe beim An- und Auskleiden normiert § 1 Abs 3 EinstV einen Richtwert von 2 x 20 Minuten täglich. Legt man im Hinblick darauf, daß es sich nur um einen Teil der beim An- und Auskleiden notwendigen Tätigkeiten handelt, einen Betreuungsaufwand von 2 x 10 Minuten täglich zugrunde, so ergibt sich für fünf Monate gerechnet ein Aufwand von insgesamt 50 Stunden, was im Jahresdurchschnitt einem monatlichen Betreuungsaufwand von rund 4 Stunden entspricht. Daß der mit dem An- und Ablegen der Stützstrümpfe verbundene Aufwand überhaupt zu vernachlässigen wäre, weil dies von der Hilfsperson anläßlich der Besorgung anderer Hilfsverrichtungen erledigt werden könne, trifft schon deshalb nicht zu, weil das An- und Ablegen der Stützstrümpfe jeweils beim Aufstehen am Morgen bzw beim Zubettgehen am Abend vorzunehmen ist, sohin zu einer Zeit, zu der die Personen, die die anderen erforderlichen Hilfsverrichtungen besorgen, regelmäßig im Haushalt der Klägerin nicht tätig sind.

Nach den Feststellungen kann sich die Klägerin alleine waschen und benötigt nur für die Benützung der Badewanne fremde Hilfe. Für eine medizinische Indikation, die häufigeres Baden erforderlich machen würde, bestehen keine Hinweise, so daß mit dem Berufungsgericht davon auszugehen ist, daß ein zweimaliges Wannenband pro Woche als ausreichend anzusehen ist. Die Benützung der Badewanne durch die Klägerin fällt daher nicht unter den Begriff der täglichen Körperpflege (§ 1 Abs 4 EinstV), doch hat sich die Bewertung des Betreuungsaufwandes an den dort angeführten Werten zu orientieren. Die EinstufVO legt für die tägliche Körperpflege einen Mindestwert von 2 x 25 Minuten zugrunde. Dementsprechend ist es, wie dies auch die beklagte Partei vertritt, gerechtfertigt, ein Wannenband mit ca 30 Minuten Betreuungsaufwand zu bewerten, woraus sich ein monatlicher Aufwand von etwa 4 Stunden ergibt. Insgesamt errechnet sich daher ein Betreuungsaufwand der Klägerin von 48 Stunden monatlich, so daß die Mindestgrenze für den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1 gemäß § 4 Abs 2 erster Fall BPGG nicht erreicht ist. Die Klägerin hat daher keinen Anspruch auf die begehrte Leistung.

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