OGH 7Ob2423/96s

OGH7Ob2423/96s29.1.1997

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Warta als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Niederreiter, Dr.Schalich, Dr.Tittel und Dr.I.Huber als weitere Richter in der Unterbringungssache der Juliane H*****, vertreten durch den Patientenanwalt Mag.Heinz W*****, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses des Patientenanwaltes gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 23.Oktober 1996, GZ 6 R 253/96m-10, den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der Beschluß des Gerichtes zweiter Instanz wird aufgehoben. Dem Gericht zweiter Instanz wird eine neuerliche Entscheidung über den Rekurs gegen den Beschluß des Erstgerichtes vom 5.9.1996 aufgetragen.

Text

Begründung

Juliane H***** wurde am 30.8.1996 vom Landeskrankenhaus G***** in das Landesnervenkrankenhaus G***** überstellt. Als Überstellungsdiagnose ist ein depressives Zustandsbild, verbunden mit Eß-, Trink- und Medikamentenverweigerung angeführt.

Am 30.8.1996 wurde ihr eine Ampulle Dominal mittels einer Injektion intramuskulär verabreicht.

Am 3.9.1996 langte beim Erstgericht die Verständigung über die Unterbringung der Juliane H***** ohne Verlangen im geschlossenen Bereich des Landesnervenkrankenhauses G***** ein, wobei als Beginn der Unterbringung der 31.8.1996 angeführt ist. Der Verständigung waren zwei fachärztliche Zeugnisse vom 31.8.1996, die die Unterbringung im geschlossenen Bereich befürworteten, angeschlossen.

Nach der Erstanhörung am 5.9.1996 entschied das Erstgericht, daß die Unterbringung im geschlossenen Bereich des Landesnervenkrankenhauses G***** vorläufig zulässig sei. Sodann brachte der Patientenanwalt vor, daß die Behandlung der Juliane H***** mit einer Ampulle Dominal nicht dem Gesetz entsprochen habe und beantragte eine Entscheidung über die Zulässigkeit dieser Heilbehandlung. Mit dem mündlich verkündeten Beschluß entschied das Erstgericht, daß diese Heilbehandlung nachträglich genehmigt werde. Der Beschluß wurde nicht schriftlich ausgefertigt.

In der Tagsatzung vom 19.9.1996 erklärte das Erstgericht die Unterbringung der Juliane H***** im geschlossenen Bereich in der Dauer von drei Monaten, und zwar bis einschließlich 30.11.1996, für zulässig. Am 3.10.1996 langte die Verständigung beim Erstgericht ein, daß die Unterbringung ohne Verlangen am 1.10.1996 beendet worden sei.

Am 4.10.1996 überreichte der Patientenanwalt einen Rekurs gegen den am 5.9.1996 verkündeten Beschluß auf Genehmigung der Heilbehandlung. Durch den Akt der Zwangsbehandlung mit Dominal - einem sedierenden Neuroleptikum, das im Normalfall oral verabreicht werde - sei de facto eine Unterbringung erfolgt. Nach der Aktenlage sei keine ernstliche oder erhebliche Selbst- oder Fremdgefährdung, die eine solche Zwangsbehandlung indiziert hätte, erkennbar. Juliane H***** sei zwar in andere Zimmer gegangen, habe dort herumgeräumt und im WC die Wasserhähne aufgedreht, sie habe aber weder Patienten noch das Personal bedroht. Der Patientenanwalt beantragte daher die Abänderung des Beschlusses dahin, daß die Zwangsbehandlung vom 30.6.1996 für unzulässig erklärt werde.

Das Gericht zweiter Instanz sprach aus, daß dem Rekurs nicht Folge gegeben werde, daß jedoch der angefochtene Beschluß aus Anlaß des Rekurses als nichtig aufgehoben werde. Der ordentliche Revisionsrekurs sei nicht zulässig.

Das Gericht zweiter Instanz ging davon aus, daß der Verabreichung des sedierenden Neuroleptikums ein Verhalten der Juliane H***** vorangegangen sei, wonach sie in fremde Zimmer gegangen, dort herumgeräumt, fremde Sachen eingesteckt und im WC die Wasserhähne aufgedreht habe; möglicherweise habe sie auch die Medikation verweigert. Ob die Verabreichung des Medikamentes angemessen im Sinn des § 35 Abs 1 UbG gewesen sei, könne aber dahingestellt bleiben. Juliane H***** habe sich zu diesem Zeitpunkt im offenen Bereich der Krankenanstalt befunden. Eine Einschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit sei nicht erfolgt, sodaß am 30.8.1996 noch keine Unterbringung im Sinn des § 2 UbG vorgelegen sei. Ob die Behandlung zulässig gewesen sei, falle daher nicht in die Entscheidungskompetenz des Gerichtes. Mangels gerichtlicher Zuständigkeit sei die Entscheidung des Erstgerichtes daher nichtig im Sinn des § 1 AußStrG iVm § 477 Z 6 ZPO.

Aus dem Zusammenhang mit der Begründung des Beschlusses des Rekursgerichtes ergibt sich, daß entgegen dem Wortlaut des ersten Satzes des Spruches über den Rekurs nicht materiellrechtlich entschieden wurde, sondern daß der erstgerichtliche Beschluß mangels gerichtlicher Zuständigkeit wegen Nichtigkeit behoben wurde. Daraus folgt, daß nach Ansicht des Rekursgerichtes der Antrag des Patientenanwaltes auf gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Heilbehandlung zurückzuweisen wäre, auch wenn dies nicht ausdrücklich im Beschluß ausgesprochen wurde. Damit ist die Beschwer des Rechtsmittelwerbers zu bejahen, der nicht eine ersatzlose Aufhebung des erstgerichtlichen Beschlusses, sondern eine nach Ansicht des Rekursgerichtes zu verweigernde Entscheidung über seinen Antrag (im stattgebenden Sinn) anstrebt.

Der ordentliche Revisionsrekurs ist entgegen dem Ausspruch des Gerichtes zweiter Instanz zulässig, weil eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Frage fehlt, ob die gegen den Willen des Patienten erfolgte medikamentöse Ruhigstellung eine Unterbringung im Sinn des § 2 UbG darstellt.

Rechtliche Beurteilung

Der Umstand, daß die Behandlung bereits erfolgt ist und die Unterbringung der Juliane H***** inzwischen aufgehoben wurde, ändert nichts am Rechtsschutzinteresse an einer Entscheidung über die Zulässigkeit der Behandlung, weil von dieser Entscheidung das Grundrecht des Menschen auf persönliche Freiheit berührt wird (vgl. NZ 1992, 129; SZ 65/92; 2 Ob 539/93 ua). Auch nach der Einleitung des Unterbringungsverfahrens ist ein rechtliches Interesse des Kranken an der gerichtlichen Feststellung zu bejahen, ob die Unterbringung bereits zu einem früheren Zeitpunkt begonnen hatte und zulässig gewesen ist (4 Ob 513, 514/93; 7 Ob 638/95).

Unterliegt ein Patient in Krankenanstalten und Abteilungen für Psychiatrie Bewegungseinschränkungen, dann ist er im Sinn des UbG "untergebracht", unabhängig davon, ob er sich in einem geschlossenen Bereich befindet oder nicht. Aus dem Zusammenhang zwischen § 2 und § 33 UbG ergibt sich, daß sämtliche der im § 33 UbG erwähnten Formen von Beschränkungen auch zum Vorliegen einer "Unterbringung" im Sinn des § 2 UbG führen. Therapeutische und pflegerische Beweggründe können die Qualifikation einer solchen Maßnahme als Unterbringung nicht verhindern (4 Ob 527/92 ua).

Aus diesen von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes entwickelten Grundsätzen ergibt sich die gerichtliche Entscheidungskompetenz und der Anspruch der Juliane H***** auf gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Behandlung durch die Verabreichung der Ampulle Dominal gemäß § 36 Abs 2 UbG, wenn diese Behandlung zu einer Beschränkung ihrer Bewegungsfreiheit im Sinn der §§ 2 und 33 UbG geführt hat, weil damit uno actu die Unterbringung im Sinn des § 2 UbG erfolgte.

Eine Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit liegt immer dann vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern (4 Ob 527/92 ua). Es kommt darauf an, ob der Kranke nach den konkreten Verhältnissen den Bereich, in dem er sich aufhält, aufgrund seiner freien Entscheidung verlassen kann oder nicht; ob er sich dessen bewußt ist, ist nicht maßgeblich (1 Ob 584/93). Es kann daher nach Ansicht des erkennenden Senates nicht entscheidend sein, ob diese Beschränkung durch physische Zwangsmaßnahmen wie Einsperren oder Festbinden des Patienten oder durch pharmakologische Beeinflussung erfolgt, die - wovon hier nach der Aktenlage auszugehen ist - eine massive Beschränkung der Bewegungsfreiheit bezweckte (vgl. Kopetzky, Unterbringungsrecht II, 464 mit Nachweisen aus der deutschen Lehre). Auch stark sedierende Mittel haben zur Folge, daß der Patient nicht mehr in der Lage ist, sich nach seinem freien Willen örtlich zu verändern.

Somit ist im vorliegenden Fall die Zuständigkeit des Gerichtes zur Entscheidung über die am 30.8.1996 durchgeführte Behandlung, mit der die Unterbringung bereits begonnen hat, zu bejahen. Das Rekursgericht wird daher materiell über den auf Abänderung des angefochtenen erstgerichtlichen Beschlusses gerichteten Rekurs des Patientenanwaltes zu entscheiden haben.

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