Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie zu lauten haben:
„Die Anordnung des Abteilungsleiters der Universitätsklinik für Psychiatrie I*****, das Pflegepersonal habe den Kranken am Verlassen der Station zu hindern, sofern dieser den Versuch hiezu unternehmen sollte, war rechtswidrig.“
Das darüber hinausgehende Begehren, dem Erstgericht die Einleitung bzw. Fortsetzung des Unterbringungsverfahrens aufzutragen, wird abgewiesen.
Text
Begründung
Am 28.6.1993 teilte die Patientenanwältin dem Erstgericht mit, der Kranke sei am 23.6.1993 auf der Station VI der Universitätsklinik für Psychiatrie I***** aufgenommen worden. Er leide an arteriosklerotischer Demenz und sei krankheitsbedingt desorientiert. Ein Sachwalter sei für ihn nicht bestellt. Nach Auskunft des Abteilungsleiters habe der Kranke bisher keinen Versuch unternommen, die Station zu verlassen. Für diesen Fall habe er das Pflegepersonal allerdings angewiesen, ihn daran zu hindern. Da der Kranke damit in seiner Bewegungsfreiheit beschränkt sei, bedürfe es der Einleitung des Unterbringungsverfahrens.
Bei der Erstanhörung am 1.7.1993 gab der Kranke an, es gehe ihm gut, er fühle sich nicht beschränkt. Er sei noch nie ausgegangen. Würde ihn aber jemand führen, würde er schon hinausgehen.
Der Abteilungsleiter äußerte dazu, der Kranke dürfe die Station in Begleitung jederzeit zu Spaziergängen verlassen; im übrigen bestätigte er die Angaben der Patientenanwältin.
Das Erstgericht stellte das Unterbringungsverfahren ein.
Es stellte fest, der Kranke leide an arteriosklerotischer Demenz und sei deshalb zeitlich und örtlich nur beschränkt orientiert. Er halte sich im offenen Bereich der Anstalt auf; seine Bewegungsfreiheit sei „bislang“ nicht eingeschränkt worden. Wegen der krankheitsbedingten Orientierungsschwierigkeiten des Kranken sei das Pflegepersonal allerdings angewiesen, ihn für den Fall, daß er die Station zu verlassen versuchen würde, daran zu hindern. Einen solchen Versuch habe der Kranke bisher allerdings noch nicht unternommen. Daß ihm angedroht worden wäre, er würde beim Versuch, die Station zu verlassen, daran gehindert werden, könne nicht festgestellt werden.
Aus diesem Sachverhalt schloß das Erstgericht, der Kranke werde weder in einem geschlossenen Bereich angehalten, noch sei seine Bewegungungsfreiheit sonst eingeschränkt.
Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluß und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Es führte aus, ob das Unterbringungsverfahren einzuleiten sei, hänge ausschließlich davon ab, ob der Kranke in seiner Bewegungsfreiheit tatsächlich beschränkt sei. Eine räumliche Beschränkung des Kranken im Sinne eines physischen Zwangs (verschlossene Türen etc) liege nicht vor, sodaß die Entscheidung letztlich von der Beantwortung der Frage abhänge, ob schon die erklärte Absicht des behandelnden Arztes und die an das Personal gerichtete Weisung, den Kranken gegebenenfalls am Verlassen der Station zu hindern, als eine sonstige Beschränkung der Bewegungsfreiheit im Sinne des § 2 UbG zu beurteilen sei; das sei indessen zu verneinen. Wenn die Einschränkung der Bewegungsfreiheit auch nicht schon die Anwendung physischer Gewalt voraussetze, sei doch eine sonstige Beeinträchtigung von ähnlicher Gewichtung erforderlich, die zur Folge habe, daß der Kranke seinen Willen, sich frei zu bewegen, wann und wohin er wolle, nicht ohne weiteres, also insbesondere nicht ohne Mitwirkung Dritter verwirklichen könne. Von einer solchen Beeinträchtigung könne aber bei der gegebenen Sachlage noch nicht gesprochen werden. Der Kranke werde durch die bloße Absicht des Abteilungsleiters, aber selbst auch durch die Anordnung des Personals, ihm am Verlassen der Station zu hindern, noch nicht unmittelbar in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, die genannten Vorkehrungen beträfen „nur allfällige ungewisse Möglichkeiten in der Zukunft“. Für die Annahme, der Kranke sei beeinflußt worden, daß er von sich aus die Anstalt nicht verlasse, fehlten Anhaltspunkte. Wenn auch die Unterbringung nicht schon deshalb ausgeschlossen werden könne, weil sich der Kranke gegen Freiheitsbeschränkungen nicht aktiv zur Wehr setze, müsse doch nicht jeder Kranke, der wegen einer Geisteskrankheit einer Unterbringung nicht zustimmen könne, zwingend untergebracht werden, wenn er sich auf einer offenen Station befinde.
Rechtliche Beurteilung
Vorerst ist die Zulässigkeit des von der Patientenanwältin gegen diesen Beschluß erhobenen Revisionsrekurses zu prüfen, weil der Kranke nach einem Bericht der Universitätsklinik für Psychiatrie I***** vom 21.7.1993 bereits am 19.7.1993 entlassen und die „Unterbringung“ damit „aufgehoben“ worden sei. Die Zulässigkeit des Rechtsmittels setzt auch in dem hier maßgeblichen Verfahren außer Streitsachen (§ 12 Abs 2 UbG) voraus, daß der Rechtsmittelwerber auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung über sein Rechtsmittel durch dieses beschwert ist. Das ist im vorliegenden Fall aber zu bejahen: In Fällen, in welchen der gerichtliche Beschluß das Grundrecht des Menschen auf persönliche Freiheit (hier Art 5 Abs. 1 lit. e MRK bzw Art 2 Abs. 2 Z 5 des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 29.11.1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit BGBl 684) berührt, billigt die Rechtsprechung dem in diesem Grundrecht Beeinträchtigten auch noch nach Aufhebung freiheitsbeschränkender Maßnahmen - also auch noch nach Aufhebung der Unterbringung - ein rechtliches Interesse an der Feststellung zu, daß die freiheitsbeschränkende Vorkehrung zu Unrecht erfolgt sei (SZ 60/12; zum Unterbringungsgesetz insbesondere 1 Ob 549/91, teilweise veröffentlicht in NRsp 1991/163, und 1 Ob 518/93).
Auch wenn die Patientenanwältin die Aufhebung des bekämpften Beschlusses und die Zurückverweisung der Rechtssache zur Sachentscheidung (genauer: die Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen mit dem Auftrag an das Erstgericht zur Einleitung bzw Fortsetzung des Unterbringungsverfahrens) begehrte, ist ihr Rechtsmittel mit Rücksicht auf die unterdessen verfügte Entlassung des Kranken aus der Anstalt im Sinne der Feststellung berechtigt, daß die freiheitsbeschränkende Vorkehrung zu Unrecht erfolgt sei.
Wie der Oberste Gerichtshof schon wiederholt (etwa 7 Ob 635/92; 1 Ob 639/92; 4 Ob 527/92) ausgesprochen hat, ergibt sich aus dem Zusammenhang der §§ 2 und 33 UbG, wonach Beschränkungen des Kranken in dessen Bewegungsfreiheit nach Art, Umfang und Dauer nur soweit zulässig sind, als sie im Einzelfall zur Abwehr einer der im § 3 Z 1 UbG umschriebenen Gefahren sowie zur ärztlichen Behandlung oder Betreuung unerläßlich sind und zu ihrem Zweck nicht außer Verhältnis stehen, daß alle im § 33 UbG erwähnten Formen von Beschränkungen die Unterbringung im Sinne des § 2 UbG zur Folge haben. Eine besondere „Erheblichkeitsschwelle“ für die Dauer und das Ausmaß der Einschränkung ist im Gesetz nicht vorgesehen. In der gebotenen Therapie oder Krankenpflege begründete Motive stehen der Beurteilung einer solchen Vorkehrung als Unterbringung ebensowenig im Weg wie der Mangel an dem für die ausreichende Beaufsichtigung erforderlichen Pflegepersonals.
Die Beschränkung der Freizügigkeit des Kranken ist immer dann anzunehmen, wenn er außerstande gesetzt wird, seinen Aufenthalt seinem freien Willen entsprechend zu ändern. Gerade solchen Einschränkungen war jedoch der Kranke im vorliegenden Fall ausgesetzt. Er befand sich zwar im offenen Bereich der Anstalt, das Personal war jedoch vom Abteilungsleiter angewiesen, ihn am Verlassen der Station zu hindern, sollte er den Versuch unternehmen, die Station zu verlassen. Daß dem Kranken die Freizügigkeit im Sinne uneingeschränkter körperlicher Bewegungsfreiheit zur Gänze entzogen war, kann bei dieser Sachlage wohl nicht bezweifelt werden. Die Ansicht des Gerichtes zweiter Instanz, eine „konkrete“ Beeinträchtigung des Kranken sei darin noch nicht zu erkennen, kann nicht geteilt werden, müßte folgerichtig doch dann auch gesagt werden, daß auch der Aufenthalt in einem Raum mit versperrten Türen solange nicht als Beeinträchtigung der Freizügigkeit des Kranken beurteilt werden dürfte, als dieser noch keinen Versuch unternommen hat, die Tür zu öffnen, um den Raum zu verlassen. Es kann daher nur darauf ankommen, ob der Kranke nach den konkreten Verhältnissen den Bereich, in dem er sich aufhält, aufgrund seiner freien Entscheidung verlassen kann oder nicht; ob er sich dessen bewußt ist, kann gleichfalls nicht maßgeblich sein, wäre es doch dann dem Zufall anheimgestellt, ob die angeordneten Maßnahmen schon oder noch nicht als Unterbringung im Sinne des § 2 UbG zu beurteilen sind.
Da der Kranke bereits aus der Anstalt entlassen worden ist, hat sich die dem Rechtsmittel der Patientenanwältin stattgebende Entscheidung auf den Ausspruch zu beschränken, daß die freiheitsentziehende Vorkehrung des Abteilungsleiters zu Unrecht getroffen worden ist.
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