OGH 2Ob539/93

OGH2Ob539/9326.8.1993

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Zehetner, Dr.Graf, Dr.Schinko und Dr.Tittel als weitere Richter in der Unterbringungssache betreffend Roland S*****, geboren am ***** vertreten durch die Patientenanwältin Mag.Martina Wagner, Baumgartner Höhe 1/B, 1140 Wien, infolge Revisionsrekurses der Patientenanwältin gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgerichtes vom 9. März 1993, GZ 44 R 110/93-9, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Hietzing vom 3.Februar 1993, GZ 11 Ub 484/92-6, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Dem Erstgericht wird die Fortsetzung des Verfahrens und die neuerliche Entscheidung unter Abstandnahme von dem gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Text

Begründung

Mit dem am 29.10.1992 beim Erstgericht eingelangten Schriftsatz beantragte die Patientenanwältin die Überprüfung der Zulässigkeit der Unterbringung des Patienten auf Pavillon "21/1" sowie der Zulässigkeit der an ihm am 17.10.1992 vorgenommenen Heilbehandlung. Am 20.10.1992 habe S***** der Patientenanwaltschaft mitgeteilt, er sei am 11.10.1992 ohne amtsärztliche Bescheinigung auf Veranlassung einer Oberärztin von der Polizei auf Pavillon "21/2" verbracht worden. Es sei zwar offiziell keine Unterbringung gewesen, wenn er aber nach Hause ginge, würden ihn die behandelnden Ärzte wieder von der Polizei holen lassen. Am 17.10.1992 sei er gegen seinen Willen mit Hilfe von drei Pflegern zwangsbehandelt worden. S***** sei am 24.10.1992 noch vor Stattfinden einer gerichtlichen Überprüfung entlassen worden. Da in jenen Fällen, in denen ein Grundrecht berührt werde, der in seinen Rechten Beeinträchtigte aber noch nach Aufhebung der Unterbringung weiterhin das Recht auf Feststellung habe, ob die Anhaltung und Zwangsbehandlung zu Recht erfolgt sei, sei der Überprüfungsantrag zu stellen.

Das Erstgericht wies diesen Überprüfungsantrag zurück. Der zuständige Abteilungsleiter habe mitgeteilt, der Patient habe die Abteilung freiwillig betreten, mit ihm seien Behandlungsvereinbarungen getroffen worden. Die Unterbringungsvoraussetzungen hätten in keiner Weise zugetroffen. Der Patient sei seit 1983 17 x stationär im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien behandelt worden, der erste Behandlungsanlaß sei ein Selbstmordversuch bei primärer Unterbegabung mit depressivem Durchgangssyndrom gewesen, zuletzt habe die Diagnose auf paranoide Schizophrenie gelautet. Das Unterbringungsgericht sei dafür zuständig, die Zulässigkeit von - von wem immer gemeldeten - Unterbringungen bzw Heilbehandlungen zu überprüfen. Selbst wenn die oben angeführten Fakten eine Unterbringung im Sinne des Unterbringungsgesetzes darstellten, könnte dies das Gericht rückwirkend nicht ungeschehen machen. Die Möglichkeit, die sofortige Aufhebung der Unterbringung bzw das Unterbleiben einer Heilbehandlung auszusprechen, sei nicht mehr gegeben. Für den vergangenen Zeitraum bzw über beendete und abgeschlossene Tatbestände könnten die gesetzlichen Bestimmungen nicht mehr erfüllt werden. Die Überprüfung vergangener Zeiträume durch das Unterbringungsgericht sei daher nicht vorgesehen.

Das Gericht zweiter Instanz gab dem von der Patientenanwältin gegen diese Entscheidung erhobenen Rekurs nicht Folge und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Es nahm zu der sowohl hinsichtlich der Frage der Unterbringung des Patienten als auch dessen Behandlung ausgeführten Rechtsrüge im wesentlichen wie folgt

Stellung:

Zur Unterbringung:

Das Erstgericht komme aus durchaus praktischen Erwägungen, daß es nach Aufhebung einer Unterbringung ausgeschlossen sei, den Gesetzesauftrag zu erfüllen und die sofortige Aufhebung der Unterbringung auszusprechen bzw Heilbehandlung zu verbieten, zum Ergebnis, daß für einen vergangenen Zeitraum über beendete und abgeschlossene Tatbestände nicht durch das Unterbringungsgericht zu entscheiden sei. Im Gegensatz dazu führe der Oberste Gerichtshof zu 4 Ob 537/92 aus, daß aus der grundsätzlichen nur pro futuro wirkenden gerichtlichen Kontrolle nicht abgeleitet werden könne, daß sich das gerichtliche Unterbringungsverfahren niemals auf den davor liegenden Zeitraum erstrecken könnte. Beschränkungen der Bewegungsfreiheit im Sinne des § 33 Abs 3 UbG, welche in der Krankengeschichte unter Angabe des Grundes zu beurkunden und unverzüglich dem Vertreter des Kranken mitzuteilen seien, unterlägen jedenfalls einer nachträglichen Kontrolle, weil das Gericht erst auf Verlangen des Kranken oder seines Vertreters zu entscheiden habe. Auch die Entscheidung über die Unterbringung in einem geschlossenen Bereich sei nach dem Gesetzeswortlaut nicht in allen Fällen auf die Zulässigkeit für die Zukunft beschränkt. Auch wenn im Sinne des § 26 Abs 1 UbG nur über die weitere Zulässigkeit der Unterbringung entschieden werde, nicht aber auch über den vergangenen Zeitraum, sei allerdings dieser Zeitraum von der Entscheidung mitumfaßt, weil erfahrungsgemäß die Voraussetzungen für die Unterbringung, wird sie für zulässig erklärt, bereits im Zeitpunkt der Einweisung vorlägen. Dennoch sei ausnahmsweise - etwa im Fall der Aufhebung der Unterbringung während des Rekursverfahrens im Hinblick auf den Eingriff in die persönliche Freiheit des Betroffenen durch eine Gerichtsentscheidung - zu beurteilen, ob die bereits beendete Maßnahme zulässig war. Eine solche Ausnahme habe der Oberste Gerichtshof zu 4 Ob 526/92 gegeben gehalten, weil in diesem Verfahren nach der Aktenlage die Unterbringung bis zur Entscheidung durch das Höchstgericht noch nicht beendet worden wäre. Im vorliegenden Fall könne eine derartige Ausnahme aber nicht angenommen werden, weil dieser Antrag erst nach Entlassung des Kranken gestellt worden sei. Unter Unterbringung sei die Anhaltung einer Person in einer Krankenanstalt oder Abteilung für Psychiatrie in einem geschlossenen Bereich oder die sonstige Beschränkung der Bewegungsfreiheit eines Patienten zu werten. Sämtliche der in § 33 UbG erwähnten Formen von Beschränkungen stellten eine Unterbringung im Sinne des § 2 UbG dar. Eine Unterbringungsmaßnahme sei weder in der Krankengeschichte dokumentiert, noch dem Patientenanwalt gemeldet worden. Der Patient sei weder im geschlossenen Bereich gehalten worden, noch sei der Bereich irgendwie versperrt gewesen, sodaß er nur auf Verlangen des Untergebrachten geöffnet worden wäre. Eine Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit liege immer dann vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern. Die ständige Abhängigkeit der freien Aufenthaltsveränderung vom Willen eines anderen sei bereits eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit. Im Rekurs werde aber neuerlich betont daß der Patient keiner psychischen (gemeint wohl: physischen) Bewegungseinschränkung unterlegen sei; er habe bloß vermeint, nach Verlassen der Anstalt wieder von der Polizei zurückgeholt zu werden. Als konkreter Anhaltspunkt für eine derartige Befürchtung ergäbe sich aus dem Antrags- und Rekursvorbringen bloß die Tatsache, daß der Patient von der Polizei in die Anstalt geholt worden sei, wonach er weder in einen geschlossenen, noch in einen teilweise versperrten Bereich gebracht worden sei, noch sonstigen Bewegungseinschränkungen unterlegen sei. Da nicht einmal die Androhung einer Unterbringung im geschlossenen Bereich bzw die Androhung der Rückholung durch die Polizei im Falle des Verlassens der Anstalt behauptet worden sei, eine allfällige polizeiliche Rückholung des Patienten nach dem Verlassen des Krankenhauses zwangsläufig ein gerichtliches Unterbringungsverfahren zur Folge gehabt hätte, lägen keine von der Krankenanstalt gesetzten Zwangsmaßnahmen vor, die einer gerichtlichen Kontrolle bedürften. Bloß befürchtete Zwangsmaßnahmen erfordern kein gerichtliches Unterbringungsverfahren. Da von allen Beteiligten das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Unterbringung bzw Bewegungseinschränkung des Patienten im vorliegenden Fall bestritten werde, sei das Ergebnis einer gerichtlichen Entscheidung vorgezeichnet, sodaß es gar keiner Kontrolle bedürfe. Da somit keine Anstaltsmaßnahmen behauptet würden, die als Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Zwangsgewalt eingestuft werden könnten, habe das Erstgericht im Ergebnis zu Recht die Überprüfung eines Unterbringungsverfahrens abgelehnt.

Zur Zulässigkeit der Heilbehandlung:

Im Antrag werde ein Verstoß gegen § 36 Abs 1 UbG behauptet, der Kranke sei gegen seinen Willen mit Hilfe von drei Pflegern behandelt worden. An der Annahme der Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Patienten könne nach Einsicht in die Krankengeschichte nicht gezweifelt werden. Dem Patienten sei - wie auch im Rekurs zugestanden - laut Krankengeschichte Cisordinol und Valium verabreicht worden, wobei es sich lediglich um eine einfache Heilbehandlung handle. Gemäß § 36 Abs 1 UbG dürfe ein Kranker nicht gegen seinen Willen behandelt werden, wenn er den Grund und die Bedeutung einer Behandlung einsehen und seinen Willen nach dieser Einsicht bestimmen könne; besondere Heilbehandlungen einschließlich operativer Eingriffe dürften nur mit seiner schriftlichen Zustimmung durchgeführt werden. § 36 Abs 1 UbG sehe im Gegensatz zu Absatz 2 eine gerichtliche Überprüfung nicht vor. Diese Bestimmung bedeute ganz eindeutig, daß der einsichts- und urteilsfähige Kranke gegen seinen Willen nicht behandelt werden dürfe, wozu es keines gerichtlichen Unterbringungsverfahrens bedürfe.

§ 36 Abs 2 UbG sehe nämlich, wenn er dem Unterbringungsgericht die Kompetenz auferlegt, über die Zulässigkeit der Behandlung bzw über die Genehmigung besonderer Heilbehandlungen bzw operativer Eingriffe zu entscheiden, auch die Möglichkeit vor, eine derartige Behandlung für zulässig zu erklären. Eine Feststellung, ob die vorgenommene Behandlung zu Recht erfolgt sei, würde im Falle des § 36 Abs 1 UbG aber bedeuten, daß das Unterbringungsgericht gegen den Willen eines einsichts- und urteilsfähigen Menschen eine Heilbehandlung für zulässig erklären könnte. Eine Zulässigerklärung einer solchen Heilbehandlung ohne ausdrückliche gesetzliche Bestimmung wäre ein massiver Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Patienten. Während das Unterbringungsgesetz in allen übrigen ihm auferlegten Prüfungsverfahren über Zu- und Unzulässigkeit einer Beschränkung oder Behandlung zu entscheiden habe, könnte bei Verletzung der Tatbestandsmerkmale des § 36 Abs 1 UbG somit immer nur die Unzulässigkeit der Zwangsbehandlung ausgesprochen werden. Ein Verstoß gegen die genannte Bestimmung unterliege aber ohnedies der strafrechtlichen Sanktion des § 110 StGB, weshalb es auch zur Erfüllung der MRK keiner weiteren innerstaatlichen Instanz zur Schaffung von Abhilfe gegen eine derartige Verletzung bedürfe. Die zu 2 Ob 512/92 vom Obersten Gerichtshof entschiedene Frage, daß auch die Zulässigkeit einer bereits vorgenommenen Heilbehandlung zu prüfen sei, stelle sich hier noch gar nicht, weil es im vorliegenden Fall nicht darum gehe, über Zulässigkeit bzw Genehmigung vor oder nach der Durchführung einer Heilbehandlung zu entscheiden, sondern darum, ob das Unterbringungsgericht überhaupt über eine bereits erfolgte unzulässige Heilbehandlung gemäß § 36 (1) UbG ohne entsprechenden gesetzlichen Auftrag zu entscheiden habe. Der Justizausschuß habe dazu ausgeführt, daß bei einem einsichts- und urteilsfähigen Menschen die Behandlungen grundsätzlich vorgenommen werden dürften, soferne er ihnen nicht widerspreche. Widerspricht er, so müsse diese Maßnahme unterbleiben, eine Behandlung sei dann nicht erlaubt (AB 12 Sp 1). Auch Kopetzki gehe davon aus, daß eine Behandlung eines einsichtsfähigen Kranken gegen seinen Willen im Sinne des § 36 Abs 1 UbG zunächst überhaupt nicht gerichtlich überprüfbar zu sein scheine, zumal sich die Zulässigkeitsprüfung des § 36 Abs 2 UbG nur auf nicht einsichtsfähige Kranke beziehe (Kopetzki, Unterbringungsgesetz, Rz 528). Dies bedeute schon, daß die Entscheidung über die Einsichtsfähigkeit zugleich eine Entscheidung über die gerichtliche Kontrolltätigkeit sei. Erst wenn das Gericht die Vorfrage der Einsichtsfähigkeit ebenfalls verneine, stehe einer Zulässigkeitsprüfung nach § 36 Abs 2 UbG nichts im Wege. Auch Kopetzki halte es für fraglich, ob das Gericht die Rechtswidrigkeit der Zwangsbehandlung am einsichtsfähigen Patienten aussprechen könne, weil das Unterbringungsgesetz eine diesbezügliche Entscheidungskompetenz gar nicht enthielte (Kopetzki, aaO, Rz 553). Da die herrschende Lehre aber im übrigen davon ausgehe, daß das Unterbringungsgesetz die Entscheidungsbefugnisse des Unterbringungsgerichtes gegen Anstaltsmaßnahmen taxativ aufzähle, käme, wie bereits ausgeführt, die nicht ausdrücklich erwähnte Überprüfung im Sinne des § 36 Abs 1 UbG durch das Gericht nicht in Betracht (Kopetzki, aaO, Rz 552). Da im vorliegenden Fall fehlende Einsichts- und Urteilsfähigkeit weder behauptet noch aus der Krankengeschichte ersichtlich sei, habe das Unterbringungsgericht auch die Zulässigkeit der gegen den Willen des Patienten durchgeführte Heilbehandlung nicht überprüfen können, sodaß dem Rekurs ein Erfolg zu versagen gewesen sei.

Den Ausspruch über die Zulässigkeit des ordentlichen Revisionsrekurses begründete das Rekursgericht damit, daß insbesondere über die gerichtliche Kompetenz im Sinne des § 36 Abs 1 UbG keine oberstgerichliche Entscheidung existiere und die vorhandene Rechtsprechung hinsichtlich der nachträglichen Überprüfung der Unterbringung auch auf den vorliegenden speziellen Fall, in dem keine tatsächliche Beschränkung vorgenommen worden sei, sich der Patient aber beschränkt gefühlt habe, nicht anwendbar sei.

Rechtliche Beurteilung

Der von der Patientenanwältin dagegen erhobene Revisionsrekurs ist zulässig und auch berechtigt.

Mit Recht wendet sich die Revisionsrekurswerberin gegen die vom Rekursgericht vertretene Auffassung, es läge hier kein Fall der Zulässigkeit einer nachträglichen Kontrolle der Unterbringung durch das Gericht vor, weil der Überprüfungsantrag erst nach der Entlassung des Patienten gestellt worden sei. Der Oberste Gerichtshof hat zur Frage, ob auch noch nach Beendigung einer gegen einen Patienten getroffenen Maßnahme, sei es nach Aufhebung einer freiheitsbeschränkenden Unterbringung in einer psychiatrischen Abteilung oder Beendigung einer an ihm vorgenommenen, allenfalls auch unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, weiterhin ein rechtliches Interesse an der Feststellung besteht, ob die Unterbringung (Anhaltung) oder die an ihm vorgenommene Behandlung zu Recht erfolgte, wiederholt im Sinne der Bejahung dieser Frage Stellung genommen (RZ 1991/85 = NZ 1992, 129; EvBl 1993/33; 4 Ob 527/92; 4 Ob 513, 514/93 uva, zuletzt 8 Ob 537/93). Dieser Feststellungsanspruch eines Patienten ergibt sich schon aus verfassungsrechtlichen Überlegungen. Im Fall der Verletzung der in Art 3 MRK und 5 MRK festgelegten Rechte auf Achtung der Menschenwürde bzw auf Freiheit und Sicherheit gewährt Art 13 MRK dem Verletzten das Recht, vor einer nationalen Instanz wirksame Abhilfe gegen die Verletzung zu suchen. Es handelt sich dabei um einen Rechtsweganspruch, der zu den materiellen, in Art 2 bis 12 MRK festgelegten Rechten hinzutritt (Eberhard in Ermacora-Nowak-Tretter HdB zur MRK 524) und jedermann zusteht, der behauptet, in einem solchen Recht verletzt worden zu sein (vgl Eberhard aaO 526). Aus Art 13 MRK erwächst aber nicht nur dem einzelnen ein entsprechendes Invidualrecht, diese Bestimmung schafft vielmehr auch eine Verpflichtung des Staates zur Gewährung eines wirksamen Rechtsschutzes (vgl Eberhard aaO 540; Komm zu VfSlg 5089/65). Soll aber dem Verletzten im Fall der Behauptung einer Verletzung von Konventionsrechten ein wirksamer Rechtsweganspruch eingeräumt werden, dann sind die vom Staat gewährten Rechtsschutzeinrichtungen im Lichte des Art 13 MRK auszulegen. Daraus folgt, daß der Beeinträchtigte bei behaupteten Verstößen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und der Achtung der Menschenwürde im Sinne des Art 3 MRK sowie gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit im Sinne des Art 5 MRK auch noch nach Beendigung der gegen ihn getroffenen Maßnahmen ein rechtliches Interesse an der Feststellung hat, ob seine Unterbringung oder die an ihm vorgenommene Behandlung zu Recht geschehen ist (vgl EvBl 1993/33 unter Hinweis auf die Entscheidung RZ 1991/85). Entgegen der Ansicht des Rekursgerichtes reicht die Existenz der Strafdrohung des § 110 StGB zur Gewährung eines wirksamen Rechtsweganspruchs nicht aus, weil diese Norm nur den staatlichen Strafanspruch sichert, jedoch dem Patienten keinen individuellen Rechtsschutz gewährt. Es spielt auch keine Rolle, daß in verschiedenen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs bloß zum Ausdruck kommt, das erwähnte rechtliche Feststellungsinteresse müsse auch noch nach Aufhebung freiheitsbeschränkender Maßnahmen in jenen Fällen gelten, in denen mit Gerichtsbeschluß eine Grundrechtsverletzung begangen wurde (vgl etwa RZ 1991/85), weil der in diesen Entscheidungen zum Ausdruck gebrachte Grundsatz auf die besonderen Umstände des diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Sachverhaltes abgestellt wurde, Grundrechtsverletzungen aber nicht nur durch gerichtliche Entscheidungen erfolgen können, sondern vor allem und in erster Linie mit Maßnahmen verbunden sind, die von Ärzten zufolge der ihnen im Rahmen der Psychiatrie übertragenen staatlichen Zwangsbefugnisse gesetzt werden (vgl EvBl 1993/33).

Die Vorinstanzen haben daher die Zurückweisung der Anträge des Patientenanwaltes zu Unrecht auf den Umstand gestützt, daß die Überprüfung der im Antrag relevierten ärztlichen Maßnahmen erst nach deren Beendigung gestellt wurde.

Die Patientenanwältin wendet sich im Revisionsrekurs weiters gegen die Ansicht des Rekursgerichtes, es habe sich um keine Unterbringung im Sinne des UbG gehandelt, weil keine Anstaltsmaßnahmen behauptet worden seien, die als Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Zwangsgewalt eingestuft werden könnten. Gemäß § 2 UbG seien nämlich der Anhaltung in einem geschlossenen Bereich jene Fälle gleichzuhalten, in denen Personen außerhalb eines geschlossenen Bereiches "sonst Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen würden". Im vorliegenden Fall gehe es im Gegensatz zum "geschlossenen Bereich", bei dem sich die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in generellen und äußerlich erkennbaren Organisationsstrukturen niederschlügen, um individuell personenbezogene Beschränkungen der Bewegungsfreiheit, die auf andere Weise realisiert würden (Kopetzki, UbG, Rz 31). Durch die auf Intervention einer Oberärztin mit Hilfe der Polizei ohne ersichtlichen Grund erfolgte Verbringung des Patienten auf Pavillon 21/2 in Verbindung mit der an ihm mit Hilfe von drei Pflegern vorgenommenen Zwangsbehandlung und seinen Erfahrungen aus Voraufenthalten sei bei Roland S***** der Eindruck unfreiwilligen Aufenthalts, also das Gefühl entstanden, er dürfe ohne Zustimmung der Ärzte die Anstalt nicht verlassen. Da eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit nicht unbedingt die Anwendung von physischem Zwang voraussetze, ein Freiheitsentzug vielmehr auch schon dann vorliege, wenn der Betroffene aus dem Gesamtbild des Geschehens den Eindruck gewinnen müsse, daß er keine beliebige Ortsveränderung mehr durchführen könne (4 Ob 513, 514/93) und eine Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit auch dann vorliege, wenn der Betroffene die Anstalt zwar theoretisch verlassen könne, er dies aber unterlasse, weil er sonst mit seiner sofortigen Zwangsrückführung rechnen müsse (Kopetzki Rz 32), habe es sich hier doch um eine "Unterbringung" im Sinne des § 2 UbG gehandelt, auch wenn der Patient sich nicht in einem geschlossenen Bereich befunden habe. Aus dem Zusammenhang zwischen § 2 UbG und § 33 UbG, wonach Beschränkungen des Kranken in seiner Bewegungsfreiheit nach Art, Umfang und Dauer nur insoweit zulässig seien, als sie im Einzelfall zur Abwehr einer Gefahr im Sinne des § 3 Z 1 UbG sowie zur ärztlichen Behandlung oder Betreuung unerläßlich seien und zu ihrem Zweck nicht außer Verhältnis stünden, ergäbe sich, daß sämtliche im § 33 UbG erwähnten Formen von Beschränkungen auch zum Vorliegen einer "Unterbringung" im Sinne dse § 2 UbG führten. Da das Gesetz eine besondere "Erheblichkeitsschwelle" hinsichtlich Dauer und Ausmaß der Beschränkung nicht vorsehe (1 Ob 639/92), müsse auch das Festhalten durch drei Pfleger und die Verabreichung nicht gewollter Medikation als Unterbringung gewertet werden, zumal auch die Folgen dieser Behandlung, eine tiefgreifende Sedierung, eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit bedeuteten. Schließlich erachtet sich die Patientenanwältin auch noch durch die Ablehnung der von ihr begehrten Überprüfung der Zulässigkeit der am Patienten vorgenommenen Zwangsbehandlung beschwert.

Nach den den Entscheidungen der Vorinstanzen zugrunde liegenden Feststellungen kann zur inhaltlichen Berechtigung dieser Rechtsrügen noch nicht abschließend Stellung genommen werden. Nach dem auch im Unterbringungsverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatz (§ 2 Abs 2 Z 5 AußStrG) hat das Gericht alle entscheidungswesentlichen Umstände von Amts wegen zu untersuchen (SZ 45/22; SZ 63/40 ua). Dieser Verpflichtung sind die Vorinstanzen jedoch nicht nachgekommen. Das Erstgericht hat wohl auf den Inhalt der den Patienten betreffenden "Vorakten des Bezirksgerichtes Hietzing" und der "beigeschafften Krankengeschichte" Bezug genommen, hat jedoch - ausgehend von der nicht zu billigenden Auffassung, daß die nachträgliche Kontrolle einer Unterbringung oder Behandlung nach Entlassung des Patienten überhaupt ausgeschlossen sei - es unterlassen, zu den im Antrag aufgestellten Behauptungen der Patientenanwältin konkrete Feststellungen zu treffen. So enthält der erstgerichtliche Beschluß keine Feststellungen über den Hergang und den Zeitpunkt der "Aufnahme" des Patienten in die Anstalt, über die Art der "Unterbringung" sowie über die Art und die näheren Umstände der am Patienten am 17.10.1992 vorgenommenen Behandlung, insbesondere, ob sie gegen seinen Willen erfolgte. Insoweit das Rekursgericht im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung davon ausgeht, eine "Unterbringungsmaßnahme sei weder in der Krankengeschichte dokumentiert, noch dem Patientenanwalt gemeldet worden, der Patient sei weder im geschlossenen Bereich gehalten worden noch sei der Bereich irgendwie versperrt gewesen, liegen diesen Annahmen keine konkreten Feststellungen oder sonstige Ausführungen zugrunde, aus welchen sich die Annahme des Rekursgerichtes ableiten ließe, die entgegenstehenden Behauptungen der Patientenanwältin im Antrag entsprächen nicht den Tatsachen. Die vom Rekursgericht in diesem Zusammenhang angestellten Überlegungen lassen aber ohne Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die zur - wiederholten - Aufnahme des Patienten in die Anstalt geführt haben, unter welchen Umständen er wirklich "aufgenommen" war (vgl etwa die Krankengeschichte, nach der er dreimal "Ausgang" gehabt habe) sowie die Art der verabreichten Medikamente (nach der Krankengeschichte Depotinjektionen) und die Art und Weise, wie diese Behandlung durchgeführt wurde, keine verläßliche Beurteilung der Frage zu, ob nicht doch der Kranke - im Sinne der aufgestellten Behauptungen - aufgrund der getroffenen Maßnahmen den Eindruck gewinnen mußte, sich in der Anstalt nicht mehr frei bewegen zu können, was dann aber im Sinne der auch im Revisionsrekurs aufgezeigten Lehre und Rechtsprechung den Tatbestand der Beschränkung erfüllen würde (vgl 4 Ob 513, 514/93) und damit das Vorliegen einer Unterbringung im Sinne des Gesetzes als gegeben annehmen ließe. Da auch Feststellungen der Vorinstanzen im aufgezeigten Sinn über die am Patienten durchgeführte Behandlung fehlen, ist die Rechtssache auch hinsichtlich des die Behandlung betreffenden Antrages noch nicht spruchreif und die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen somit unumgänglich.

Zu dem die Feststellung der Unzulässigkeit der Heilbehandlung betreffenden Antrag sei aber - ohne den Ergebnissen des fortgesetzten Verfahrens vorgreifen zu wollen - jetzt schon erwähnt, daß die Patientenanwältin ihren Antrag mit der Behauptung, der Patient sei am 17.10.1992 gegen seinen Willen mit Hilfe von 3 Pflegern zwangsbehandelt worden, auf Überprüfung der Zulässigkeit dieser "Heilbehandlung" gerichtet, und diesen Antrag - entgegen der Ansicht des Rekursgerichtes - nicht auf § 36 Abs 1 UbG gestützt hat. Es geht im vorliegenden Fall somit nicht um die Frage, ob eine gerichtliche Kompetenz zu einer Entscheidung über die Zulässigkeit einer (erst vorzunehmenden) einfachen oder besonderen Heilbehandlung für den Fall gegeben ist, daß der Kranke den Grund und die Deutung einer Heilbehandlung einsehen und seinen Willen nach dieser Einsicht bestimmen kann, wofür tatsächlich keine Kompetenz bestünde; zu beurteilen ist vielmehr, ob die am Patienten am 17.10.1992 vorgenommene Heilbehandlung gegen seinen Willen erfolgt ist, oder falls er ihr zugestimmt hätte, ob es sich um eine besondere Heilbehandlung gehandelt hat, die gemäß § 36 Abs 1 zweiter Halbsatz UbG seiner schriftlichen Zustimmung bedurft hätte. Erfolgte entgegen § 36 Abs 1 UbG ohne Zustimmung des Patienten eine Behandlung, dann handelte es sich um eine unzulässige Maßnahme im Rahmen der Unterbringung, somit um eine Grundrechtsverletzung, die vom Gericht im Rahmen des Unterbringungsverfahrens festzustellen ist.

Es war daher dem Revisionsrekurs Folge zu geben und nach Aufhebung der Beschlüsse der Vorinstanzen dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens im aufgezeigten Sinn aufzutragen.

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